"Sie lügen und
sie mauscheln...":
Das Judenbild im
neueren deutschen Film
Von Miriam Magall
Stimmen professioneller Kritiker: "In Bezug auf die Qualität war man
sich in diesem Gremium ziemlich einig: Es fiel kein einziges positives
Votum. Die Skala der Bedenken reichte von 'sehr anfechtbar' bis
'indiskutabel'. "Dafür verletzt sie die Gebote historischer, moralischer und
künstlerischer Glaubwürdigkeit." "Der Unglaubwürdigkeit im nur scheinbar
Nebensächlichen entspricht ein Personenverzeichnis, das jedem Darsteller
eine moralische Charge zuweist." "Kitsch ist als publikumswirksam vielleicht
noch entschuldbar; Verharmlosungen sind es nicht." "Mag sein, daß ein so
fahrlässig gemachter Film ... noch Informationen bietet (1)."
"Die Handlung ist bestückt mit Figuren, die einen Meilenabstand zur
Wirklichkeit haben."(2)
Stimmen aus dem TV-Publikum: "Dieser Propagandaschinken mit seiner
Schwarzweißmalerei erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung." "Was damals
Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!"(3)
Diese Zitate aus zwei der bis heute noch wohl angesehnsten Wochenschriften
in Deutschland beziehen sich nicht etwa auf die in den letzten Wochen vom
deutschen Fernsehen ausgestrahlten Krimis mit jüdischen Hauptfiguren, die
Gegenstand der gleich folgenden Kritik sind. Vielmehr richten sie sich gegen
die Ausstrahlung der US-Serie Holocaust. Was die oben erwähnten
"Unglaubwürdigkeiten" betrifft, so beziehen sich diese wiederum nicht auf
die falsche Darstellung jüdischer Menschen und ihre Sitten und Bräuche in
Filmen von deutschen Filmemachern, sondern auf Äußerlichkeiten in der Serie
wie: "die Abzeichen", die nicht "stimmen", auf die Kleidung der
"Hitlerjungen" und die Behandlung von Lebensmittel schmuggelnden Juden im
Warschauer Getto.(4)
Vehemente Proteste brachten noch vor der Ausstrahlung dieser US-Serie den
deutschen Blätterwald zu ohrenbetäubendem Rauschen. Dagegen erhebt sich nur
selten ein Wort des Protests gegen den Umgang deutscher Filmemacher mit
jüdischen Themen. Dass deutsche Autoren und Regisseure nach weniger
leichtfertigen Maßstäben arbeiten sollen als die Produzenten von
Holocaust, wie der damalige (1978) Fernsehspiel-Chef des Südwestfunks
Peter Schulze-Rohr in seinem Beitrag behauptet, (5)
wagt die Verfasserin dieser Zeilen in Abrede zu stellen und belegt ihre
Behauptung mit handgreiflichen Beispielen anhand der schon oben kurz
erwähnten zwei in der ARD zur Hauptsendezeit um 20.15 Uhr sonntags
ausgestrahlten Krimis. Beide wurden als eine Folge der beim deutschen
TV-Publikum so beliebten Krimi-Reihen "Tatort" und Schimanski" gezeigt.
"Jüdisches ist für das deutsche TV-Publikum immer noch etwas Exotisches",
wird der Fernsehdirektor des WDR, Ulrich Deppendorf, in einem Interview
zitiert. (6) Aber nicht nur das deutsche
TV-Publikum hat Mühe Jüdisches zu verstehen. Das gleiche darf man ruhigen
Gewissens auch deutschen Autoren und Regisseuren unterstellen -- selbst wenn
sie sich von Rabbinern oder sonstigen "Fachleuten für Jüdisches" anscheinend
haben beraten lassen. Allem Anschein wenden sie sich dabei stets an Berater,
die nur wenig Ahnung vom Judentum haben. Denn wie sonst lässt sich erklären,
dass sie immer wieder in die gleichen stereotypen Darstellungen verfallen,
wollen sie dem TV-Publikum zeigen, wie Juden leben und agieren.
Bei den stereotypen Darstellungen handelt es sich um aus der deutschen
Literatur -- seit ihren Anfängen bis zum heutigen Tag -- übernommene
Typologisierungen von Juden. Um die nachfolgende Kritik der Filme zu
verstehen, die sich darauf bezieht, seien sie in Kürze erwähnt. Eine der
ältesten ist die des Ahasver oder des Ewigen Juden. Ahasver,
eigentlich der Name des persischen Königs, dem wir das Purim-Fest verdanken,
ist eine christliche Schöpfung. In dem 1602 erschienen Volksbuch wird
Ahasver als ein jüdischer Schuster in Jerusalem beschrieben, der Jesus mit
Schimpfworten von seinem Haus vertreibt, als dieser sich auf dem Weg nach
Golgatha dort etwas ausruhen möchte. Zur Strafe wandert Ahasver seither
barfuß durch die Welt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man seine
christlichen Ursprünge vergessen. Übrig geblieben ist lediglich die fixe
Idee von einem Mann mit einem bizarren, fremdartigen Namen. In der
Vorstellung der Antisemiten scheint er die Hakennase zu suggerieren, ebenso
wie den Kaftan und die Schläfenlocken. Weiter ist er das Urbild des ewigen
Kosmopoliten, des ewigen elitären Intellektuellen und des dekadenten
Künstlers und nicht zuletzt des ewigen Störers der sozialen Ordnung.
Als nächstes Urbild folgt der Prototyp des jüdischen Wucherers und
Schacherers. Es wird unterschieden zwischen dem reichen Kaufmann und dem
armen, umherziehenden Schacherjuden, beides Menschentypen, die sich bei
Nichtjuden keiner besonderen Beliebtheit erfreuen.
Die äußere Erscheinung von Juden ist bereits seit mehr als tausend
Jahren Gegenstand von Betrachtungen christlicher Autoren -- genau wie der
Ewige Jude unterscheidet er sich äußerlich von Christen. Oder auch nicht.
Warum sonst wurden Judenhut, Judenstern und Ghetto im Mittelalter
eingeführt? Den männlichen Körper kennzeichnet überdies der Makel der
Beschneidung, den aber ein Nichtjude praktisch nie je zu Gesicht bekommt.
Sichtbarer als diese ist dagegen die Nase des Juden. Schon in alten
Holzschnitten, in der mittelalterlichen Buchillustration und davor noch in
Tafelbildern begegnet der jüdische Typus mit der charakteristischen
Hakennase. Neben der Nase spielen die jüdischen Augen für deutsche Autoren
eine gewichtige Rolle. Daneben fällt die Hässlichkeit des jüdischen
Mannes auf. Neben seiner geringen Körpergröße und seiner Schmächtigkeit ist
er häufig auch noch mit einem körperlichen Mangel wie verkrüppelten Händen
oder ähnlichem behaftet -- nicht nur im Stürmer, sondern in Wort und
Bild, bis zum heutigen Tag.
Ebenso nachteilig wie der hässliche jüdische Mann ist seine Sprache:
Er mauschelt gerne, für deutsche Ohren ein praktisch unverständliches
Gebrabbel, das unweigerlich auf eine niedrige geistige Entwicklungsstufe
hinweist. Oder aber auf seine kriminellen Absichten. Denn ein Jude mauschelt
um sich unverständlich zu machen.
Nicht fehlen in der Typologisierung von Juden darf der Typus der schönen
Jüdin, die darüber hinaus auch noch die Tochter eines jüdischen Weisen
ist. Sie ist nicht nur ein betörend schönes, sondern auch ein ungemein
begehrenswertes und verführungsfreudiges Geschöpf.
Nachdem nun die fünf wichtigsten Typologisierungen von Jude und Jüdin, wie
sie in den Werken deutscher Autoren seit dem Mittelalter bis in die Moderne
vorkommen, vorgestellt wurden, wobei auf die sechste, die sich auf seine
Sexualität bezieht und meistens sein Nichtkönnen in diesem Bereich
lächerlich machen will, nicht näher eingegangen wurde, weil sie in den
beiden hier besprochenen Filmen eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat,
wird nun zu untersuchen sein, wie zwei Krimis, die im Dezember 2003 und im
Januar 2004 im deutschen Fernsehen an einem Sonntag zu Spitzenzeiten
ausgestrahlt wurden, diese Typologisierungen bedienen. Es sei mit dem
jüngsten Krimi begonnen, der im Rahmen der Krimi-Reihe "Schimanski" am
Sonntag, dem 11. Januar 2004, um 20.15 im ARD gezeigt wurde.
1.
Das Geheimnis des Golem
Der Inhalt ist schnell erzählt. Schimanski übernimmt aus Geldnot einen
Verlegenheitsjob, der seiner Freundin Marie-Claire schon bei der ersten
Erwähnung zutiefst missfällt, denn er soll den Juden David Rosenfeldt
bewachen. Recht hat sie! Schon kurz darauf wird Schimis Schützling ermordet,
noch dazu in Schimis Wohnung und der Bodyguard gerät automatisch in
Verdacht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig als sich vor seinen Ex-Kollegen
und Freunden bei der Polizei in Sicherheit zu bringen, damit er seine
Unschuld beweisen kann, indem er selbst den Fall aufklärt. Auf seiner Flucht
verirrt er sich in die jüdische Welt. Dort begegnet er, wie könnte es anders
sein, der schönen Jüdin Lea Kaminski und dem weisen Rabbi Ginsburg. Und auch
die Mystik fehlt nicht. Dank der Zahlenkombination für Golem und
Melech kommt Schimi hinter das Geheimnis des wahren Mörders.
Am Ende atmet der Zuschauer erleichtert auf: G-tt sei dank. Zur Abwechslung
war der Bösewicht kein Jude und auch nicht Schimi.
Rabbi Ginsburg und Schimanskis Schützling David Rosnfeldt sind der Prototyp
des Ewigen, des heimatlosen Juden. Über Rabbi Ginsburg erfährt
der Zuschauser, er stamme ursprünglich aus Wien, sei dann im
Konzentrationslager Mauthausen gewesen und zuletzt lebt er in Antwerpen. Von
David Rosenfeldt weiß der Zuschauer nicht einmal, wo genau er herstammt.
Nur, dass er im Konzentrationslager Mauthausen zusammen mit Rabbi Ginsburg
und dem evasiven Ari Goldmann war. Das vernimmt er aus des Rabbiners Mund.
Ansonsten ist Rosenfeldt in Antwerpen ebenso Zuhause wie in Duisburg, in
Israel ebenso wie anderen Städten in Europa, deren Namen nicht ausdrücklich
genannt wird. Auf jeden Fall ist er nirgends und überall Zuhause -- ein
heimatloser Jude eben.
Und natürlich sind alle Juden Wucherer und Schacherer. Das
hört der interessierte Zuschauer gleich aus dem Mund zweier berufener Leute,
die es wirklich wissen müssen, sind es doch Vertreter der deutschen
Ordnungsmacht: einmal vom Polizisten Tom und ein zweites Mal von König, der
in einem Geheimauftrag für den Staatsschutz hinter Goldmann und Rosenfeldt
her ist. Demzufolge stand Rosenfeldt im Dienst des israelischen Mossad
und/oder verdiente seinen Lebensunterhalt als illegaler Waffenhändler oder
auch mit dem Import von Kunstdiamanten aus Russland mit gefälschten
Zertifikaten. Der aufrechte deutsche Polizist Tom wittert hier sogleich eine
"jüdische Weltverschwörung".
Alle im Film auftretenden Juden, die sich verbal äußern, sprechen zur
Abwechslung einmal ein fast lupenreines Hochdeutsch. Selbst kleine
Ausrutscher wie "a bisserl" von Rosenfeldt oder den wienerischen Akzent von
Rabbi Ginsburg überhört der Zuschauer gerne. Statt dessen wird zu einem
anderen Mittel gegriffen um das Gemauschel und damit das Betrügerische im
Juden deutlich zu machen: die Kabbala. Denn mithilfe der Gematria, einer
jüdischen Spielerei mit Zahlenmystik und Buchstabendeutung, einem Hobby von
Rabbi Ginsburg, werden die Zahlenreihen auf zwei Bonbonpapieren gedeutet,
die Schimanski schließlich zur Lösung seines Falls verhelfen. Als erstes
kommt er damit zum Golem im Filmtitel, als nächstes zum Melech,
der nichts anderes als die hebräische Version des Namens König ist, wie ihn
der Vertreter des deutschen Staatsschutzes trägt, der Goldmann und
Rosenfeldt mit einer dem Zuschauer unerklärlichen Besessenheit jagt.
Ein wichtiges Erkennungsmerkmal von Juden ist, wie schon oben erwähnt,
die Hässlichkeit des jüdischen Mannes. Dieser Film folgt getreulich den
stereotypen Vorstellungen, wie ein Jude auszusehen hat. Alle drei Juden, mit
denen Schimanski, ein breitschultriger Hüne, im Laufe seiner Ermittlungen zu
tun bekommt, sind, im Vergleich zu ihm, von kleiner Statur. Rabbi Ginsburg
ist klein und dazu noch eher dicklich, während der Jude Frenkel in der
Synagoge in Duisburg ausgesprochen hässlich ist mit seinem verkniffenen
Mund, der wohl Verschlagenheit andeuten soll, dem lächerlichen Schnurrbart,
der fatal an Hitler erinnert, und den kleinen, dunklen, verschlagen
dreinblickenden Äuglein. Der gejagte David Rosenfeldt entspricht geradezu
dem Idealtypus eines Juden: Klein ist er und krankhaft blass und schmächtig,
mit ängstlichen großen braunen Augen schaut er um sich, seine Stirn ist
stets sorgenvoll in Falten gelegt. Als ihm Hut und Kippa vom Kopf fallen,
wird sein spärliches Haar sichtbar. Wahrlich keine Augenfreude, verglichen
mit dem vor Kraft strotzenden Schimanski, dem aufrechten blonden Recken von
deutschem Polizisten Tom oder dem eleganten König vom Staatsschutz.
Und natürlich fehlen darf in all diesen Stereotypen nicht das der schönen
Jüdin. Es kommt denn auch daher in Gestalt von Lea Kaminski, die,
verschlagen, wie sie ist, sie kann halt ihre jüdische Herkunft nicht
leugnen, zu Beginn ihrer Bekanntschaft vorgibt, im Dienst der belgischen
Polizei zu stehen. Dunkle Haare hat sie und große dunkle Augen. Da sie noch
jung ist, darf sie auch schlank sein. Sie ist durch und durch ein
verführungsfreudiges Geschöpf. Nachdem sie Schimanski bei sich übernachten
und in Rosenfeldts Restaurant arbeiten lässt, spinnen sich zwischen den
beiden zarte, unwiderstehliche Bande der Anziehung an: Verführt von Lea
tanzen sie mitten im Restaurant zu Klesmermelodien. Lea ist wild und
begehrenswert und verführt Schimanski zu immer neuen Pirouetten allein oder
mit ihr in den Armen.
Zu diesen Stereotypen gesellt sich die in der US-Serie Holocaust so
heftig von den deutschen Kritikern bemängelte Unglaubwürdigkeit im
nur scheinbar Nebensächlichen. Da gleiches Recht für alle gelten soll, seien
sie kurz aufgezählt: Was hat Schimanski in einem Schweinestall zu suchen?
Wie kommt es, dass die schöne Jüdin Lea Kaminski von seinem unfreiwilligen
Aufenthalt dort erfährt, ihn herausholt und vor der Synagoge in Antwerpen
ablegt? Warum muss Lea Kaminski als offensichtlich unverheiratete Jüdin ein
Kopftuch tragen? Dieses Kopftuch gefällt den Machern des Golem,
angeregt anscheinend durch die heftige Kopftuchdebatte in den deutschen
Medien, so gut, dass sie alle Jüdinnen Kopftücher tragen lassen, die hin und
wieder in der Synagoge aufblitzen. Es sind nur sekundenlange flüchtige
Impressionnen. Warum laden Herr Frenkel und seine Frau Schimanski zum
Mittagessen (sic!!!) am Jom Kippur zu sich in die Wohnung? Was hat der Golem
mit Herrn Rosenfeldt zu tun? Schließlich tut Herr Rosenfeldt mit dem von
Wiener Juden nach dem Anschluss Österreichs auf ein Schweizer Nummernkonto
in Sicherheit gebrachten Geld nur Gutes wie die Unterstützung von Lea
Kaminskis Mutter und großzügige Spenden für einen jüdischen Kindergarten in
Duisburg. Warum erlöscht besagtes Nummernkonto? Ist das Geld dort
aufgebraucht? Wussten die Wiener Juden, als sie ihr Geld dort anlegten, dass
sie oder andere Juden überleben würden und bestimmten einen Tag für die
Auflösung des Kontos? Auf diese Fragen gibt der Film keine Antwort.
Dagegen erfährt der Zuschauer zum Schluss, dass Ari Goldmann Lea Kaminskis
Vater war, dass ihr Küchenchef Gil mit König vom deutschen Staatsschutz
kollaboriert hat und dass König der Bösewicht von allen ist: Nach Anschlägen
auf jüdische Einrichtungen werden diese stärker überwacht. Dabei stößt König
auf Rosenfeldt, den er als Verwalter der Schweizer Konten identifiziert. Der
Schlüssel zu den Konten ist ein kleines Notizbuch, der Golem, der Rosenfeldt
schließlich erdrückt. Solange er kann, schützt Rosenfeldt es wie seinen
Augapfel. König jagt Rosenfeldt und sein Notizbuch. Er will, wie könnte es
anders sein, mit seiner Hilfe an die Schweizer Konten gelangen. Denn er
benötigt dringend Geld, viel Geld. Um dieser Chimäre willen verliert nicht
nur David Rosenfeldt sein Leben, nein, auch der Bösewicht König setzt seinem
Leben ein Ende.
2.
Der Schächter
Am 29. Juni 1891 wurde in der Scheune des christlichen Stadtverordneten
Küppers die Leiche des fünfeinhalb Jahre alten Johann Hegmann gefunden. Dem
Jungen war der Hals bis zum Rückenwirbel durchgeschnitten. Sofort
verbreitete sich in der Stadt wie ein Lauffeuer das Gerücht, Juden hätten
dieses Kind zu rituellen Zwecken geschlachtet.
Der Verdacht richtete sich sogleich gegen den rituellen Schlachter der
Xantener jüdischen Gemeinde, Adolf Wolff Buschhof. Seine Metzgerei lag neben
der Scheune von Küppers. Noch verdächtiger machte sich der Schächter
dadurch, dass er sich weigerte, die Scheune zu betreten, in der der tote
Junge lag. Keinen interessierte der Grund dafür: Buschhoff war nämlich ein
Kohen und als solcher darf er bekanntlich keinen Raum betreten, in dem ein
Toter liegt. Es kam zu seiner Verhaftung, dann zu seiner Freilassung und
einer erneuten Verhaftung, obwohl Buschhoff ein vollkommenes Alibi
nachweisen konnte. Trotz seines Freispuchs vor dem Geschworenengericht
begann eine böse antisemitische Hetzkampagne gegen Bischhoff und die Juden.
Angefangen vom Dom- und Hofprediger Adolf Stoecker in Berlin über
konservative Abgeordnete bis zur Presse, alle geiferten sie gegen den Mörder
und den bei Juden vorgeblich üblichen Ritualmord. Es versteht sich beinahe
von selbst, dass Buschhoff nach seinem Freispruch nicht länger in Xanten
bleiben konnte. Er zog mit seiner Familie nach Köln. Dort wurde er am 8.
Juni 1912 begraben.
Das ist der Ausgangspunkt für eine Story, die Regisseur Jobst Oetzmann nach
eigener Aussage für seine Folge der Serie "Tatort" drehte. Sie wurde vom
Ersten am zweiten Adventsonntag, dem 7. Dezember 2003, um 20.15 Uhr, also
zur Hauptsendezeit, unter dem Titel Der Schächter ausgestrahlt. Und
das ist ihr Inhalt:
Immer häufiger kommt Jakob Leeb, der Schächter der jüdischen Gemeinde von
Straßburg, nach Konstanz am Bodensee um in einer großen Villa, die er von
nichtjüdischen Verwandten geerbt hat, für immer längere Zeit die schöne
Landschaft zu genießen. In dieser Idylle freundet er sich mit der
Kommissarin Klara Blum an. Doch das stille Glück ist leider nur von kurzer
Dauer, denn Kommissarin Blum wird durch einen Notruf vom Campingplatz
aufgeschreckt. Dort wurde die Leiche eines Jungen gesehen. Große Aufregung
für den Ort und auch für Campingbesitzer Wolfgang Rodammer, der den Platz
leitet und seinen geistig zurückgebliebenen Bruder Edgar im Büro
beschäftigt. Als die Kommissarin eintrifft, ist der Leichnam allerdings
schon verschwunden. Einen kurzen Blick darf sie im Wald auf ihn werfen. Aber
auch von dort verschwindet er wieder auf rätselhafte Weise, während sie sich
aufmacht die Kollegen von der Mordkommission zu alarmieren. Wieder ein paar
Tage später taucht er endlich und unübersehbar in Jakobs Vorgarten auf.
Da der Junge anscheinend mit einem Schächtschnitt getötet wurde, hat der
antisemitische Staatsanwalt Cux sogleich seinen Verdächtigen: den Schächter
natürlich. Wer sonst könnte einen solchen Schnitt ausführen? Kommissarin
Blum hat ihre Zweifel. Mit Eifer kämpft sie um die Unschuld ihres Freundes
zu beweisen.
Wie schon im Fall Rosenfeldt in der Serie "Schimanski" erweist sich am Ende,
dass der als erster Verdächtigte unschuldig ist. Auf den wirklich
Verdächtigen kommt -- und zwar gleich nach dem ersten Auftauchen der Leiche
-- außer dem Zuschauer anscheinend niemand vom Personal im Film!
Jakob Leeb ist ein weiteres Beispiel für den Ewigen und somit
heimatlosen Juden. Eigentlich stammt seine Familie aus dem Elsass, kommt
dann aber der besseren Berufsmöglichkeiten wegen, sein Vater war Arzt, nach
Konstanz. Alle lassen sich noch vor den zwanziger Jahren taufen. Das hilft
der Familie nicht. Denn sie wird von einer Frau aus dem Elsass als jüdisch
denunziert und daraufhin nach Treblinka deportiert. Jakob Leeb überlebt das
Konzentrationslager als einziger seiner Familie. Danach muss er wohl zu
seinem Judentum zurückgefunden haben. Darauf lässt sein Beruf schließen, den
nur ein orthodoxer Jude ausüben kann.
Unser Protagonist kommt in den Ruch des Wucherers und Schacherers.
In hämischen Anmerkungen zu seinem Charakter meint Staatsanwalt Cux unter
anderem, wenn man eine so große Villa und dazu einen schönen Batzen Geld wie
Jakob Leeb geerbt habe, verblasse wohl die Angst vor den Deutschen.
Auffällig ist das Äußere von Jakob Leeb -- übrigens derselbe
Darsteller wie der von David Rosenfeldt in Tatort: Das Geheimnis
des Golem. Es entspricht wiederum dem Stereotyp des hässlichen
Juden. Er ist schmalbrüstig und sein Gesicht zeigt eine ungesunde
Blässe, die Stirn ist stets sorgenvoll gefurcht, die Augen blicken unstet,
ihr Blick wird im Laufe des Films, wohl aus Furcht vor seinen Anklägern,
immer unsteter. Seine schwarze Kippa bedeckt spärliches Haar, kurz, er ist
kaum das, was man einen attraktiven Mann nennen würde.
Was Jakob Leebs Sprache anbetrifft, so ist den Filmemachern eine
seltsame Mischung verschiedener Elemente gelungen. Zwar ist Jakob bis zu
seiner Deportation in Konstanz aufgewachsen und seine Familie stammt aus dem
Elsass. Dennoch jiddelt er -- "Danke scheen!" sagt er, als sich die
Gefängnistore vor ihm öffnen -- und zudem spricht er mit so etwas wie einem
Wiener Akzent.
In Der Schächter tritt zur Abwechslung einmal keine schöne Jüdin
auf. Die wird durch die Kommissarin Klara Blum ersetzt. Klara ist eine
nette, ehrliche Polizistin, die auch bei ihren Freunden strenge Maßstäbe für
die Wahrheit anlegt. Sie ist drall und prall und ergänzt damit Jakob Leebs
fehlende Körperfülle. Sie trägt generell Hosen und ihre Pullis haben
meistens ein recht tiefes Dekolletee, das den orthodoxen Juden Jakob Leeb
jedoch nicht in Verlegenheit zu bringen scheint. Genauso wenig wie ihre
Aufforderungen zum Tanz an ihn. Im romantischen Mondlicht tanzt er zu
lateinamerikanischen Klängen auf der Terrasse seiner Villa eng umschlungen
mit ihr.
Auch im Fall von Der Schächter bleiben Fragen unbeantwortet.
So dürfte sich der in jüdischen Dingen unerfahrene TV-Zuschauer wohl fragen,
warum Jakob sich anfangs partout weigert, sich in der Pathologie den
Schächtschnitt anzusehen. Vermutlich hatte der Regisseur Buschhofs Fall vor
Augen, der ein Cohen war und deshalb nicht den Raum mit dem toten Jungen
betreten wollte. Woher weiß Rodammer, der Campingplatz-Betreiber, dass Jakob
Leeb sich nicht in der Synagoge in Konstanz blicken lässt? Warum ist
Staatsanwalt Cux so rabiat antisemitisch, dass er sich wie eine Comicfigur
ausnimmt? Wie kommt es, dass er sich anmaßt mit Jakob Leeb wie ein SS-Mann
zu sprechen und ihn herumzukommandieren? _-- "Raus! Raus!" befiehlt er Jakob
im herrischen Ton, nachdem dieser sich trotz aller Vorbehalte in den
Leichenraum gewagt und eine dem Staatsanwalt nicht gefällige Antwort gegeben
hat.
Schließlich sei noch einmal die von den deutschen Kritikern für die US-Serie
Holocaust bemängelte Unglaubwürdigkeit im nur scheinbar
Nebensächlichen bemüht. Der Kürze halber hier nur ein Beispiel: Im Abspann
wird als Fachberater ein Rabbiner namentlich genannt. Wenn ein Rabbiner um
Rat gefragt wurde, wie kommt es, dass der orthodoxe Jude Jakob Leeb zuerst
den Segen über das Brot sagt, danach vom gefillten Fisch kostet und erst
hinterher den Segen über den Wein sagt? Hat man des Rabbiners Rat nicht
gehört oder fand man diese Reihenfolge der Dinge trotz seines gegenteiligen
Rates einfach schöner, passender oder was sonst auch immer?
Oder doch noch ein zweites Beispiel für Unpassendes im Nebensächlichen:
Nachdem Jakob Leeb glücklich aus dem Gefängnis entlassen und frei von jedem
Mordverdacht ist, will er das schöne Konstanz verlassen und seine große
Villa verkaufen. Zusammen mit Freundin Klara Blum verlässt er das Haus. Die
Eingangstür ist mit roter Farbe beschmiert. Klara entschuldigt sich dafür,
obwohl sie vermutlich für die Farbe dort nicht verantwortlich ist. Dem mit
seinem Gepäck davonschreitenden Jakob Leeb ruft sie mahnend nach: "In den
schwierigsten Momenten meines Lebens bin ich nicht geflohen!" Antwortet ihr
Jakob Leeb.-- zur Erinnerung: Er ist der einzige Überlebende seiner Familie!
--, dass viele von den sechs Millionen Juden einschließlich aller seiner
Familienangehörigen noch am Leben wären, hätten sie rechtzeitig die Flucht
ergriffen? Nein, das sagt er nicht. Denn anscheinend hat er den Gehorsam
Deutschen gegenüber so verinnerlicht, dass er ihnen automatisch gehorcht. Er
macht nach seiner Freundin Mahnung gehorsam eine Kehrtwendung und kommt brav
zu ihr zurück. Glücklich verschwinden beide im Haus.
Aus der oben präsentierten Perspektive betrachtet, wie sie sich dank einer
kritischen Analyse anbietet, ist "Jüdischsein" tatsächlich noch immer etwas
Exotisches in Deutschland, in der deutschen Literatur und im deutschen Film,
wie der schon eingangs zitierte Fernsehdirektor des WDR Ulrich Deppendorf
meinte.(7) Denn noch immer tun sich deutsche
Filmemacher schwer damit. Der eine, Mario Giordano mit "Schimanski",
erstarrt in Schtetl-Klischees, obwohl er sich krampfhaft um politische
Korrektheit bemüht, der andere, im "Tatort" von Regisseur Jobst Oetzmann,
bedient antijüdische Stereotypen und führt dem Zuschauer geradezu
beispielhaft vor Augen, dass der Judenhass die bürgerliche Idylle am
Bodensee nicht im Geringsten stört. Ganz im Gegenteil er ist in ihr Zuhause.
Trifft nicht auch auf diese beiden Produkte der deutschen Filmkunst
mindestens ein Teil der gegen die US-Serie Holocaust vorgebrachten
Einwände zu? Verletzen nicht auch diese beiden Folgen der deutschen Serien
"Tatort" und "Schimanski" die Gebote historischer, moralischer und
künstlerischer Glaubwürdigkeit? Und ist es nicht auch in diesen beiden
Fällen so, dass der Unglaubwürdigkeit im nur scheinbar Nebensächlichen ein
Personenverzeichnis entspricht, das jedem Darsteller eine moralische Charge
zuweist? Könnte man auch hier sagen: Kitsch ist als publikumswirksam
vielleicht noch entschuldbar; Verharmlosungen sind es nicht. Welche
Informationen bietet ein so fahrlässig gemachter Film? Und ist es nicht so,
dass die Handlung mit Figuren bestückt ist, die einen Meilenabstand zur
Wirklichkeit haben?
Der Zuschauer bilde sich dazu seine Meinung, wie es so schön in einem
deutschen Boulevardblatt heißt.
Anmerkungen:
(1) Die Zeit, Nr. 26,
23.06.1978, S. 11: Entscheidung über Fernsehspiel Holocaust. Keine
Frage von rechts oder links.
(2) Die Zeit, Nr. 23, 02.06.1978, S. 15: Drama aus
zweiter Hand.
(3) Der Spiegel, Nr. 5/1979, S. 7. Leserbriefe.
(4) Die Zeit, Nr. 25, 16.06.1978, S. 40:
Judenvernichtung als Fernsehspiel -- jetzt in den USA, demnächst bei uns.
Und dann... Und dann...
(5) Die Zeit, Nr. 26, 23.06.1978, s. Fußnote 1.
(6) Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 59.
Jahrgang, Nr. 2, 15.01.2004, Titelseite.
(7) Siehe Fußnote 6.
hagalil.com 01-07-2005 |