Das Judentum als solches unter Kuratel
stellen
Von Wolfgang Kraushaar
Eine wesentliche Funktion des
Antisemitismus in der Nachkriegszeit war es, den Schuldvorwurf, wie er in
der Entnazifizierung eine rechtlich institutionalisierte Form angenommen
hatte, zurückzuweisen.
Wenn es gelang, den Kernvorwurf der Judenvernichtung, der in seiner
Singularität nicht zu bestreiten war, zu neutralisieren, dann musste es eine
Möglichkeit geben, auch aus der Position des Verlierers die nationale
Souveränität wiederzuerlangen, ohne dem Mythos von der "Volksgemeinschaft"
abzuschwören und damit die Identifikation mit dem nationalen Kollektiv
ernsthaft in Frage zu stellen.
Am Verhältnis der Deutschen zu den DPs und der CSU-Politiker zu Philipp
Auerbach können die antisemitischen Stereotypen in ihrer
schuldneutralisierenden Funktion erkannt werden. Es sind dies:
1. Die DPs als Sündenböcke
Anstatt in den DPs Opfer zu sehen und
ihnen zu helfen, wurden sie als gefährliche Bedrohung von Leib und Leben,
Hab und Gut wahrgenommen, die möglichst rasch verschwinden sollten.
Sie erschienen einem nicht unerheblichen Teil der Deutschen als der Typus
vom "Untermenschen", den die Nationalsozialisten auszurotten angekündigt
hatten und der nun wider Erwarten erneut in Erscheinung trat. Da er unter
dem Schutz der Alliierten stand, konnte er nicht mehr direkt bekämpft
werden. Er konnte nur sozial diskriminiert und durch Ordnungskräfte
schikaniert und drangsaliert werden.
Als Sündenbock für alles und jeden diente er auch dazu, die
Nachkriegs-gesellschaft von ihren zeittypischen Übelständen - Schwarzmarkt,
Schiebergeschäfte, Betrug, Raub, Erpressung, Fälschung, Intrigen - zu
entlasten. Die englische Bezeichnung, zumal als Abkürzung, verwischte die
Spuren zur NS-Vergangenheit. Da DP immer mehr zum Synonym für Jude wurde,
obwohl es sich bei ihnen nur um eine Minderheit handelte, konnte sich der
Antisemitismus um so leichter hinter der DP-Feindschaft verbergen.
2. Die jüdischen DPs als "Wiedergutmachungsgewinnler"
Nicht zu Unrecht ist von verschiedener
Seite eingewandt worden, dass sich der Gebrauch des Terminus
"Wiedergutmachung" verbiete, weil die NS-Verbrechen nicht in Wertäquivalente
umgerechnet, geschweige denn wieder "gut" gemacht werden könnten. Bei dem
Begriff handelt es sich unzweifelhaft um einen Euphemismus, der als solcher,
was Wesentliches über seine ideologische Funktion aussagt, in die
Nachkriegspolitik eingegangen ist.
Nur eine verschwindende Minderheit unter den Bundesdeutschen hat ihr
Einverständnis mit "Wiedergutmachungszahlungen" erklärt. Der hartnäckige
Widerstand gegen eine solche Praxis, der sich im Bundestag auch nicht
annähernd in repräsentativer Form niedergeschlagen hat, ist offenbar nur so
zu verstehen, dass eine Selbstverpflichtung zur "Wiedergutmachung" als
unfreiwilliges Schuldeingeständnis bewertet worden wäre und deshalb auf
keinen Fall zugelassen werden konnte.
Die Tatsache, dass in Bayern schon nach ersten Anzeichen von
Unregelmäßigkeiten im Landesamt für "Wiedergutmachung" ein Staatsanwalt
dorthin beordert wurde, um Material für eine Anklageerhebung zu sammeln,
zeigt, wie sehr man nach einer Gelegenheit suchte, um sich dieser
Einrichtung, von der ein ständiges Störfeuer für das wiederauflebende
Wir-Gefühl ausgehen musste, zu entledigen.
Die Klientel dieses Amtes, davon war die Bevölkerung offensichtlich von
Anfang an überzeugt, ging mit ihrem Opferstatus hausieren. Mit als
unbelegbar geltenden Schuldvorwürfen sollte der Staat erpresst und
finanziell ausgenommen werden. Immer wieder wurden Gerüchte in Umlauf
gesetzt, dass die KZs nur halb so schlimm gewesen sein konnten; viele der
Häftlinge hätten sie in einem gutgenährten Zustand verlassen.
3. Philipp Auerbach - der "gerissene Handelsjude"
Als
Inkarnation dieser äußerst populären Vorwurfshaltung galt auch über die
bayerischen Landesgrenzen hinweg der Präsident des
Landesentschädigungsamtes, ein Mann von untersetzter, bulliger Figur.
Als ehemaliger Auschwitz-Häftling sollte er
wie ein Dementi für all das fungieren, was die Amerikaner den Deutschen kurz
nach der Befreiung als Schocktherapie aufgezwungen hatten: die Filme mit den
Bergen ausgemergelter KZ-Leichen. Hinzu kam, dass dieser Mann, der in seiner
Doppelfunktion auch Präsident der israelitischen Kultusgemeinden war, sich
nicht scheute, als Jude öffentlich aufzutreten und von niemandem daran
gehindert worden war, eine scheinbar atemberaubende Karriere im Staatsdienst
zu absolvieren.
Kaum waren Hitler, Goebbels, Göring und Himmler tot, so schien sich der
Eindruck zu verdichten, griff ein Jude unter amerikanischer Hilfestellung
nach der Macht. Und das Brisanteste daran war seine Position. Ein
verbeamteter Jude konnte ohne wirksame Kontrolle den Geldhahn öffnen, sobald
er wollte. Das reichte aus, um das alte antijüdische Bild vom in
Geldangelegenheiten besonders geschickten Juden, der die arbeitsamen
Christen um ihr mühsam verdientes Brot betrügt, zu bestätigen.
Philipp Auerbach - der Spiegel brachte den latenten Antisemitismus in seinem
Porträt auf den Punkt - als "Cäsar der Wiedergutmachung". Sollten sich die
Deutschen nun etwa einem jüdischen Diktator unterwerfen? Würde er als
ehemaliger KZ-Insasse etwa einen jüdischen Rachefeldzug starten? Ein für
viele offenbar beunruhigendes Bild.
Dieser Mann, so schien es, musste gestoppt werden. Und er würde gestoppt
werden können. Schließlich hatte er sich, jedenfalls wurde das überall
gemunkelt, zu viele Eigenmächtigkeiten und Rechtsverletzungen zu Schulden
kommen lassen.
Im Prozess vor dem Münchner Landgericht verdichteten sich diese latenten
Stimmungen zum Szenario. Müller und Mulzer agierten wie auf einer Bühne die
aufgestauten Hassgefühle gegen den Angeklagten aus.
4. Die Ausspielung des "anständigen" gegen den
"unanständigen" Juden
In einem vertraulichen Bericht an die
amerikanische Militärregierung wird der CSU-Vorsitzende Josef Müller in
einer Ansprache vor Parteifreunden im August 1946 mit den Worten zitiert:
"Wir sind uns einig geworden, dass für einen anständigen Juden in der Union
ebenso gut Platz ist wie für einen Katholiken und Protestanten. Sie können
sich denken, dass sich das nach einer gewissen Seite hin für die Union sehr
gut auswirken wird."11
Im Klartext heißt das: Für einen Juden ist nach Ansicht des CSU-Vorsitzenden
solange kein Platz, solange er nicht funktionalisiert werden kann. Erst
seine praktische Verwendung rechtfertigt seine Aufnahme in der christlichen
Partei. Wenn das Judentum als solches nicht unter Kuratel gestellt werden
kann, dann solle man sich seiner Beziehungen gefälligst bedienen und
herausschlagen, was herauszuschlagen ist.
Seine Subordination unter Nützlichkeitserwägungen verrät, dass der
Antisemitismus, durch realpolitische Rücksichtnahme gebremst, sich nun mit
der Verdinglichung der Juden begnügen muss.
Was die Differenz zwischen einem "anständigen" und einem "unanständigen"
Juden ausmacht, wird zwar nicht erwähnt, es darf jedoch vermutet werden,
dass hier die Unterscheidung zwischen einem assimilierten westeuropäischen
und einem nichtassimilierten osteuropäischen Juden gemeint sein könnte. Die
Instrumentalisierbarkeit eines jüdischen Parteimitglieds findet danach
offenbar dort ihre Grenze, wo es als Repräsentant des jüdischen Glaubens und
der jüdischen Kultur zu erkennen ist. Mit anderen Worten: Auch das ist eine
Form der Bekämpfung des Judentums.
5. Die Konstruktion des schuldigen Opfers: "Die Juden sind an
allem schuld"
An der mehrmals beschriebenen Manie von Politikern, Juristen,
Journalisten, aber auch der Bevölkerung im allgemeinen, den DPs bzw. Philipp
Auerbach alle nur denkbaren Verbrechen in die Schuhe zu schieben, wird
deutlich, wie stark das Bedürfnis in der Nachkriegszeit verbreitet war, sich
durch Schuldprojektion zu entlasten.
Indem es gelang, einen in der Öffentlichkeit bekannten Juden vor Gericht zu
stellen und zu verurteilen, konnte wie auf einem unsichtbaren Schuldkonto
eine Verrechnung vorgenommen werden.
Jedes von einem Juden begangene Delikt erschien wie ein Stück nachträglicher
Rechtfertigung für die von den Nationalsozialisten an ihnen begangenen
Verbrechen.
Wir wissen inzwischen, dass die Aussage, die Deutschen würden den Juden
Auschwitz nicht verzeihen, weder eine zynische Verdrehung noch eine
überzogene Pointe ist.
Die Geschichte Philipp Auerbachs und vieler jüdischer DPs zeigt, wie es um
den Wahrheitsgehalt jenes Wortes bereits in den Anfangsjahren der Republik
bestellt war.
Anmerkungen:
-
11 Klaus-Dietmar Henke/Klaus Woller
(Hrsg.), Lehrjahre der CSU - Eine Nachkriegspartei im Spiegel
vertraulicher Berichte an die amerikanische Militärregierung, Stuttgart
1984, S. 92.
Siehe auch: Gerhard Fürmetz: Neue Einblicke
in die Praxis der frühen Wiedergutmachung in Bayern: Die
Auerbach-Korrespondenz im Bayerischen Hauptstaatsarchiv und die Akten des
Strafprozesses gegen die Führung des Landesentschädigungsamtes von 1952, in:
zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2, [13.09.2004],
http://zeitenblicke.historicum.net.
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