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Beitritt – wozu?:
Die Türkei, das Abendland und das "Neue Europa"

Von Matthias Fischer

Spiegel Online titelte kürzlich: "Brass auf Brüssel". Der Anlass: Kanzler Schröder war am vergangenen Mittwoch auf Staatsbesuch in der Türkei, einem Land, das in den letzten Wochen und Monaten immer mehr im Bann einer nationalistischen Welle zu stehen scheint.

Bekanntermaßen setzt die türkische Regierung unter ihrem Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan sehr auf einen Beitritt des Landes in die Europäische Union. Die Beitrittsverhandlungen mit Brüssel sollen am 3. Oktober 2005 aufgenommen werden. Beitritts-Kommissar Verheugen gab in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres grünes Licht dafür.

Eigens zu diesem Zweck hatte die Regierung Erdogan eine Reform ihres Strafrechts durchs türkische Parlament gepeitscht. Und nun dies: Die Kurden melden im Windschatten immer lautstärker ihren Wunsch nach kultureller und politischer Autonomie an, der Deutsche Bundestag pflegt das Gedenken an den vor 90 Jahren von der osmanischen Armee vollzogenen Völkermord an den Armeniern, und die griechischen Zyprer nehmen die von dem proeuropäischen Politiker Mehmet Ali Talat an die griechischen Südzyprer ausgestreckte Hand bislang nicht entgegen – nachdem die unter dem Wohlwollen Ankaras angestrebte Wiedervereinigung Zyperns bereits im vergangenen Jahr am Widerstand der südzyprischen Regierung unter Ministerpräsident Tassos Papadopoulos gescheitert war.

Der gemäßigte, islamisch fühlende Politiker Erdogan und seine Partei AKP brauchen Europa – um sich und das Land von dem starr laizistischen System, das seit Kemal Atatürk in der Türkei herrscht, zu befreien. "Erdogans Partei will die CDU der Türkei sein," titelte denn auch die FAZ am 2. Oktober 2004. Auch die wirtschaftlich erstarkende Türkei selbst benötigt den Anschluss an die EU, ist doch der von Brüssel aus verwaltete Bund demokratischer Staaten der beste Garant für eine rechtsstaatliche Weiterentwicklung der Türkei, und diese für weiteren Wohlstand im Land zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer. Aber auch Europa und der Westen insgesamt benötigen eine immer stärkere Integration des NATO-Landes, das eine gemeinsame Grenze mit Syrien, Irak und Iran besitzt, wirtschaftlich ebenso wie in Bezug auf politische und militärische Verlässlichkeit und Stabilität.

Was aber ist daran, wenn Beitrittsbefürworter etwa in Deutschland immer wieder behaupten, die Türkei als Wahrerin der Prinzipien von Aufklärung und Französischer Revolution zwischen Bosporus und Ararat sei nicht weniger europäisch als beispielsweise die Ukraine? Immerhin verbindet, mit Ausnahme Bosniens und Albaniens, eine christlich geprägte gemeinsame Geschichte die Länder des Kontinents mit der Ukraine oder Russland, nicht aber mit der Türkei. So jedenfalls die Argumentation zahlreicher Beitrittsgegner in den etablierten EU-Ländern.

Meines Erachtens geistern hier unterschiedliche Begriffe durch die öffentliche Meinung, die nicht ausreichend – oder genauer: nicht ausreichend öffentlich – definiert werden. Meiner Meinung nach wäre es durchaus ratsam, wenn sich Befürworter vor allem der "privilegierten Partnerschaft", wie zum Beispiel Frau Merkel oder Herr Stoiber, genauer zum Thema äußerten. In der Tat scheint es angesichts einiger Verwirrung angebracht, dass einmal die Frage öffentlich diskutiert wird, ob die Türkei nun dem "Abendland" beitreten soll oder "Europa", und wenn letzteres, dann welchem "Europa".

"Europa" ist bekanntlich ein der heidnischen Mythologie entlehnter Begriff, der in der Renaissance für die den Lehren und dem machtpolitischen Einfluss der christlichen Kirchen zugänglichen Gebiete unseres Kontinents Verwendung zu finden begann. "Abendland" ist hingegen, wie Rosenstock-Huessey eindrücklich darlegte, ein Begriff aus der christlichen Antike, welcher die an das Mittelmeer angrenzenden Gebiete bezeichnet. Sein Zentrum war Rom oder Konstantinopel oder Jerusalem, jedenfalls nicht Brüssel. Der Verlust der Levante und Nordafrikas an die Araber, das Verschwinden der aus den Kreuzzügen hervorgegangenen Lateinischen Königreiche im Heiligen Land sowie der Fall Kleinasiens und schließlich Konstantinopels an die Osmanen markierten ein für alle Mal das Ende des Abendlandes. Frau Merkel mag traurig darüber sein, aber dem ist nicht abzuhelfen, es sei denn, sie fände eine Möglichkeit, die Geschichte um 7-8 Jahrhunderte zurückzudrehen.

Zentren Westeuropas waren nacheinander Aachen und die Provence, Sizilien und Rom, Cluny, Madrid und Paris. Und nun eben Brüssel. Europa war karolingisch, salisch, sächsisch, staufisch, bis es päpstlich, danach habsburgisch wurde. Der Osten ging mit Byzanz, Kiew und Moskau eigene Wege. Mit der Reformation traten im Westen die mittel- und westeuropäischen Nationen endgültig in den Vordergrund: die Tschechen, Deutschen, Holländer und Engländer. Peter der Große gestaltete Russland nach dem Vorbild der Reformation um. Die Engländer trugen Europa über den Ozean, und mit ihm "habeas corpus" und das parlamentarische Regierungssystem. Die Russen trugen europäische Wissenschaft über die große Landmasse bis nach Alaska.

Während Europa einerseits durch die Verschiebung seines geistigen und machtpolitischen Zentrums nach Westen und Norden deutlichere Konturen erlangte, verschwammen diese andererseits mit der Spaltung der christlichen Kirche in eine Ost- und eine Westkirche und mit dem Hinausdrängen und flächendeckenden Fußfassen europäischer Zivilisation und christlicher Religion in Asien und Amerika.

Eine naturalistische Deutung, welche den Prinzipien der Definition französischer Grenzen seit etwa der Bourbonenherrschaft und der Revolution verpflichtet ist, legt die Grenzen Europas willkürlich an die Gestade des Atlantischen Ozeans im Westen, im Osten an die Wasserscheide des Uralgebirges, die Küste des Kaspischen Meeres und das Kaukasusgebirge. Seit der Spaltung der christlichen Kirche in eine Ost- und eine Westkirche ist aber auch dieser Raum alles andere als kulturell und religiös einheitlich. Endgültig gesprengt wurde das in diesen Grenzen verstandene Europa allerdings gerade durch den aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Begriff des Nationalstaats, der den Kontinent in West-Ost-Richtung fortschreitend erfasste und im Laufe von zwei Jahrhunderten nach und nach zur Entstehung der uns geläufigen 46 international anerkannten Staatswesen führte. Auch das kemalistische Staatswesen in der Türkei entstand auf demselben Wege.

Den Höhepunkt seiner Selbstzerfleischung erlebte dieses Europa der Nationen in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Das "Neue Europa", dessen Saat nunmehr dabei ist, in den Verträgen, Institutionen und Erweiterungsplänen der Europäischen Union aufzugehen, wurzelt seinerseits wiederum genau in dieser Katastrophe unerhörten Ausmaßes.

"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sind ein Fundament unseres heutigen Europa. Doch erst das Trauma von 65 Millionen Toten, 55 Millionen Verletzten, zwischen sieben und elf Millionen Zwangsarbeitern, 17 Millionen Flüchtlingen, der Verlust der geopolitischen Vormachtstellung des Kontinents und nicht zuletzt der moralische Schock über die Barbarei der Entrechtung, Vertreibung und systematischen Ermordung eines Großteils der jüdischen Bevölkerung Europas bewirkten die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ("Montan-Union"), der ersten überstaatlichen Organisation auf dem Weg zur wirtschaftlichen und politischen Integration Europas, am 18. April 1951 durch den Pariser Vertrag.

Europa, dieses "Neue Europa" der Europäischen Union, entstand zuerst auf den Gräberfeldern und Trümmern der beiden Weltkriege – darunter begraben sind auch die bis zu 1,5 Millionen von den Osmanen ermordeten Armenier!

Es sollte uns also nicht genügen, dass die Türkei aufgrund ihrer laizistischen Verfassung als ein Produkt der Französischen Revolution und somit programmatisch durchaus als ein Teil Europas gesehen werden darf. Auch können wir sehr wohl gespannt sein, wie die türkische Gesellschaft die nicht ungünstigen Voraussetzungen für die Etablierung eines rechtsstaatlichen Systems und eines "Islam mit demokratischem Antlitz" weiter entwickeln wird. Aber ebenso wünschenswert ist es, dass sie sich nunmehr auf das "Neue Europa" zubewegt, indem sie die negativen Folgen der Revolution überwindet. Dazu müsste sie aufhören, das Dogma "Ein Staat, ein Volk, eine Nation" in falsch verstandener Weise und mit allen Mitteln über die Köpfe ethnischer Minderheiten wie die der Kurden und religiöser Minderheiten wie die der Aleviten hinweg durchzusetzen. Hier aber sollten allein Fakten zählen, keine Worte.

Ein Mentalitätswandel in Militär und Zivilgesellschaft, wie der deutsche Bundeskanzler ihn im Zusammenhang mit seinem kürzlichen Türkeibesuch anmahnte, scheint also durchaus angebracht. Ob ein solcher sich jedoch seitens des 70-Millionenvolks in der kurzen Zeit bis zum 3. Oktober vollziehen lässt, wenn die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei beginnen sollen, ist fraglich. Wir kennen die Zähigkeit bei der Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit. So gesehen fände sich eine erinnerungsresistente Türkei durchaus "in guter Gesellschaft" wieder. Andererseits haben wir als Mitgliedsland der EU und durch unsere eigene geschichtliche Vergangenheit als Nation die Verantwortung, Beitrittskandidaten nach dem Umgang mit ihrer Vergangenheit zu beurteilen, insbesondere da, wo diese Teil einer spezifisch europäischen Vergangenheit ist – und der Nationalismus ist, wie bereits ausgeführt, ein im Ursprung spezifisch europäisches Konstrukt.

Auch dürfen wir nicht mit zweierlei Maß messen. Lettland und Estland wurden Mitglieder der Europäischen Union, obwohl sie – wenn auch vor dem Hintergrund jahrzehntelanger russischer Besatzung – noch nicht ganz frei sind von antirussischem Chauvinismus bis hin zur Glorifizierung der nationalsozialistischen Besatzungszeit. Auch Österreich wurde von den Alliierten vor 1955 niemals einer Entnazifizierung unterzogen, die diesen Namen verdiente. Die entsprechenden negativen Ergebnisse treten nicht nur bei den Wahlen zum Kärntner Landeshauptmann an die Oberfläche. Und die Gesellschaft der ehemaligen DDR ist nur eine von mehreren innerhalb des ehemaligen Ostblocks, für die dasselbe gilt. Europa scheint also auch und in besonderem Maß jene Anstalt zu sein, durch die eine Gesellschaft lernt, mit den negativen Aspekten ihrer eigenen Vergangenheit umzugehen. Mit der historisch kompromittierten Stellung Deutschlands und Italiens, zweier der Gründungsmitglieder der ersten Stunde, nahm die EU diesen Erziehungsauftrag ohnehin gewissermaßen in ihr "Erbgut" mit auf.

Zwar wird seitens der jeweiligen Zivilgesellschaften und nationalen Politik sowie der europäischen Institutionen der Druck nicht in und für alle Mitgliedsländer hoch genug gehalten. Doch kann es auch nicht sinnvoll sein, den europäischen Schlendrian auf ein neues, mächtiges und bevölkerungsreiches Beitrittsland wie die Türkei auszudehnen, zumal es sich bei der Haltung der türkischen Regierung und eines Großteils ihrer Bevölkerung darum geht, dass ein Völkermord rundweg geleugnet wird. Vielleicht hat vor diesem Hintergrund CSU-Chef Stoiber gar nicht ganz Unrecht, wenn er davon spricht, dass das Tempo aus den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei besser herausgenommen wird. Oder mit den Worten von SPD-Außenpolitikexperte Gernot Erler: "Wir müssen deutlich machen, dass der Verhandlungsprozess auch scheitern kann."

Auf jeden Fall scheint es klar, dass die Frage des Völkermords an den Armeniern keine Nebensache in der Angelegenheit des türkischen EU-Beitritts ist, sondern eine der zentralen Fragen überhaupt, die unlösbar verbunden bleibt mit dem Eintritt der Türkei "in die europäische Erinnerungskultur", dem eigentlichen Fundament des "Neuen Europa". Und sie ist in dieser Phase alles andere als eine "innere Angelegenheit der Türkei".

hagalil.com 09-05-2005

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