"Niemand kann uns vertreiben":
Ein "Paradies" im Gazastreifen
Von Ulrich W. Sahm
"Rückzug? Blödsinn. Das werden die nicht durchsetzen",
sagt Avi, Siedler in Rafah-Jam im Gazastreifen. Der bärtige Sicherheitsmann
in kurzen Hosen will mit "der Presse" nicht reden. "Dafür haben wir einen
Sprecher. Der heißt Eran Steinberg und ist ein ziemlicher Extremist."
Avi kommt vom Strand. Seine Frau trägt Schwimmflossen und Handtücher in das
auf Sand gebaute Einfamilienhaus in Rafah-Jam (Jam = Meer). Vierhundert
Meter von der Minisiedlung entfernt flattert eine ägyptische Flagge in der
frischen Abendbrise. Die ägyptische Festung ist ein rot und ocker bemaltes
Haus. Zehn Meter nördlich steht ein unförmiges Konglomerat von Türmen,
Antennen und finsteren Tarnnetzen. Das ist die israelische Stellung direkt
am Mittelmeer. Die Philadelphi-Achse entlang der Grenze zu Ägypten ist mit
viel Stacheldraht abgesichert. Im Osten sieht man die grauen Häuser von
Rafah, wo es hunderte Tote entlang dieser Achse gegeben hat.
"Wir leben hier in einem Paradies. Niemand kann uns vertreiben", sagt Avi.
Seine Wortwahl gleicht dem Schlagwort der Räumungsgegner: "Juden dürfen
keine Juden deportieren." In Rafah-Jam leben 26 Familien.
Ob denn dieses "Paradies" von der Intifada verschont blieb? Avi senkt den
Kopf. "Wir haben einen jungen Mann in der Schneiderei verloren. Ein
Palästinenser kam aus Khan Younis, um Juden zu ermorden", sagt Avi und
spuckt verächtlich auf den Boden. "Diese Mörder", fügt er leise hinzu. Nahe
seinem Haus stehen Plastiksperren quer zur Straße. Ein handgemaltes Schild
warnt: "Straße gesperrt: Scharfschützen".
Sicherheit wird groß geschrieben bei allen Siedlungen des "Katif-Blocks" im
südlichen Gazastreifen, Newe Dekalim, Morag und Kfar Darom. Immer wieder
werden sie mit Mörsern beschossen. Immer wieder verüben Palästinenser
Anschläge. Vor Ausbruch der Intifada gab es weder Zäune noch Stacheldraht.
Die 7000 Israelis igelten sich ein. Neben einem elektronischen Zaun, der auf
Berührung reagiert und Militärpatrouillen alarmiert, Stacheldraht und Mauern
als Sichtschutz gegen Scharfschützen, sind die Siedlerhäuschen mit den
typischen roten Dächern auch von einem dünnen Drahtzaun an gelben Stäben
umgeben. Schilder auf Hebräisch, Englisch und Arabisch warnen: "Vorsicht.
Elektrischer Zaun." Eine Siedlerin erzählt: "Ich bekam einen Schock.
Versehentlich hatte ich mal den Draht berührt. Noch Stunden später zitterte
mein ganzer Körper." Chaim, der Erbauer des patentierten Elektrozauns:
"Nachts wird der Zaun mit 3000 Volt geladen. Das tötet nicht, schreckt aber
ab."
Die Siedlungen sind eingeklemmt zwischen der Grenze zu Ägypten und
feindseligen palästinensischen Städten wie Rafah und Khan Younis. Der Weg
nach Rafah Jam führt von Israel durch eine Grenzstation mit Militärlagern,
Panzern und Kontrollhäuschen. Entlang der ersten Kilometer im Gazastreifen
haben Bulldozer beiderseits der Straße eine kilometer-breite "sterile" Zone
geschaffen, ohne Gestrüpp, ohne arabische Häuser und alle paar hundert Meter
vorgefertigte Wachtürme, die wie aufrechte graue Klorollen aussehen. Noch
stehende arabische Häuser wirken Efeu-bewachsen: Überdimensionale Tarnnetze
hängen vom Flachdach herab. Weiter geht es über eine Brücke mit Mauern
beiderseits der Straße. Sie führt über die "Tantscher-Achse", der einzigen
Verbindung zwischen Rafah und Khan Yunis im Süden und Gaza im Norden. Diese
ebenso eingemauerte Straße ist allein Palästinensern vorbehalten. Die Brücke
wurde nur gebaut, damit sich jüdische und arabische Fahrzeuge nicht in die
Quere kommen. Man gelangt zu wohlgepflegten Siedlungen mit grünem Rasen und
gelben Stahlbarrieren als Tor. Ein Schild mit dem Symbol eines Strandbades
weist nach "Palm Beach". Doch die Straße führt nicht zu einem Traumstrand
mit Dattelpalmen, sondern zu einem halbzerstörten Strandhotel mit Bergen von
Bauschutt und zerbrochenen Plastikstühlen auf dem Parkplatz. Wenn da nicht
ein paar ultraorthodoxe "Gäste" aus einem Fensterloch gerufen hätten,
"Fotografieren verboten", hätte man meinen können, das hier der israelische
Rückzug schon vollzogen sei.
Kilometerweit geht es parallel zum Sandstrand in Richtung Süden. Hier leben
rund 8000 "Muwassi-Beduinen" in unverputzten Neubauten aus nacktem Beton
oder in primitiven Laubhütten. Ihre Felder gleichen fußballfeldgroßen
Erdlöchern, die mit Sandmauern umgeben sind. Sie bauen Gemüse an. Die Felder
sind in die Tiefe gegraben, damit die Pflanzen zum Grundwasser gelangen.
"Das sind keine Palästinenser. Es sind unsere Cousins, echte Araber,
Beduinen", sagt ein Wachmann beim nächsten halbgeräumten "Strandhotel". Die
"freundlichen und friedlichen" Beduinen verdienen ihren Lebensunterhalt in
Gewächshäusern israelischer Siedler, erzählt der Wachmann. "Bei den Juden
verdiente Groschen sind das Fünffache des Einkommens eines Palästinensers in
Gaza", beruhigt er sein soziales Gewissen. Mit dem Abzug der Siedler würden
die Muwassi-Beduinen "leiden".
Zwischen den Beduinen-Hütten laufen fromme Siedler vom Strand zu ihrer
Siedlung mit nacktem Oberkörper und Badehose, das M-16 lässig über die
Schulter gehängt. Ihre Freundinnen mit knöchellangen Röcken begegnen
Beduinenfrauen mit verschleierten Gesichtern. Ein Beduine auf Eselskarren
grüßt die Siedler. Die Abendstimmung ist idyllisch.
Während des Gesprächs mit Avi erscheint ein chromblitzender Pickup mit
überdimensionaler israelischer Flagge am Heck. "Bitachon" (Sicherheit) steht
auf der Tür des Jeeps mit aufmontierten Scheinwerfern und Funkgeräten im
Innern. Avi redet mit seinem Kollegen. "Fahren Sie nur nicht durch das
Muwassi zurück. Wir haben den Hinweis erhalten, dass da ein Anschlag drohe."
Unbeirrt redet er weiter von Rafah-Jam als "Paradies".
[FORUM]
hagalil.com 17-05-2005 |