Täter und Opfer im Gespräch:
"Warum ausgerechnet ich?"
Moderation Philipp Gessler
taz: Herr Frohwein, hätten Sie sich vor 60 Jahren
vorstellen können, eines Tages mit einem Waffen-SS-Mann friedlich an
einem Tisch zu sitzen?
Willi Frohwein: Vor 60 Jahren habe ich überhaupt nicht darüber
nachgedacht, mit wem ich einmal sprechen werde. Damals dachte ich:
Nie wieder darüber reden, einfach alles vergessen. Ich habe über 20
Jahre nicht über meine Erlebnisse in Auschwitz geredet.
Otto-Ernst Duscheleit: Auch ich habe zunächst gar nicht darüber
geredet. Das habe ich alles verdrängt. Ich hatte als SS-Mann auch
Angst, dass jemand die Tätowierung der Buchstaben meiner Blutgruppe
am linken Oberarm auffällt. Ich habe das beim Schwimmen stets zu
verbergen versucht.
In Ihrer Zeit im Arbeitsdienst drohte Ihnen ein SS-Offizier,
jeder werde in ein lebensgefährliches Strafbataillon versetzt, der
sich nicht freiwillig bei der Waffen-SS meldet - so erhielten Sie
die SS-Uniform. Schämen Sie sich heute dafür, sie getragen zu haben?
Duscheleit: Ich schäme mich, wenn ich wie hier neben jemandem sitze,
der so etwas Schreckliches erlebt hat, der in Auschwitz war. Dann
schäme ich mich dafür, was ich getan habe.
Nur durch Zufall, eine Krankheit, entgingen Sie der
Eingruppierung ihrer Waffen-SS-Einheit in die SS-Division "Das
Reich", die Kriegsverbrechen beging. Nur zufällig haben Sie keine
Kriegsverbrechen begangen, oder?
Duscheleit: Ich weiß nicht, ob ich damals mit 18 Jahren den Mut
gehabt hätte, irgendwann nein zu sagen. Wie hätte ich mich bei
Kriegsverbrechen verhalten, auch meinen Kameraden gegenüber?
Ihr Überleben, Herr Frohwein, hat auch viel mit Zufall zu tun,
etwa dass Sie eine Plätter-Ausbildung gemacht hatten und in
Auschwitz so in der warmen Wäscherei Arbeit fanden.
Frohwein: Die Lebensrettung hatte damit begonnen, dass meine Mutter
an den Lagerkommandanten geschrieben hat, mein Bruder sei Soldat.
Ich sollte ja schon zweimal in die Gaskammer, weil ich zu schwach
zum Arbeiten war. Beide Male auf dem Gastransport wurde ich vom
Laster heruntergerufen. Ich wurde dann vom Juden zum Deutschen
erklärt, das war die Lebensrettung, erst einmal.
Bei Holocaust-Überlebenden liest man ja ab und zu, dass sie sich
schuldig fühlen, überlebt zu haben, während andere gestorben sind.
Geht Ihnen das auch so?
Frohwein: Schuldig - das kann ich nicht sagen. Aber man wird ein
eigenartiges Gefühl nicht los. Man fragt sich: Warum mussten in
Auschwitz etwa anderthalb Millionen Menschen sterben - warum war ich
nicht dabei? Wenn ich öffentlich meine Geschichte erzähle, habe ich
manchmal das Gefühl, ich hätte meine Kameraden und Freunde aus
dieser Zeit neben mir. Als würde ich nicht nur mich selber
vertreten, sondern auch für sie sprechen.
Herr Duscheleit, erinnern Sie sich noch an Ihren Kameraden, der
bei lebendigem Leibe verbrannte, nachdem ihr Panzer getroffen wurde?
Duscheleit: Ja, ich kam mit knapper Not heraus - und das Erste, was
ich meinem Offizier am Gefechtsstand dann sagte, war: "Jetzt steht
mir doch das Panzersturmabzeichen in Silber zu."
Wie erklären Sie sich diese Abgestumpftheit?
Duscheleit: Ich war ein einfacher Soldat. Ich glaube, ich wollte
imponieren. Vielleicht wollte ich in Urlaub fahren mit dem
Panzersturmabzeichen an der Brust, dass die Mädchen nach mir gucken
- oder so. Das war mir plötzlich wichtig. Ich habe an nichts anderes
gedacht, nur: endlich mal jemand zu sein.
Frohwein: Ich war mehrmals in solchen Situationen kurz vor dem Tod,
etwa beim Todesmarsch. In solchen Situationen überlegt man: Gott,
hoffentlich ist bald Schluss - so oder so. Da denkt man an keinen
Nachbarn.
Duscheleit: Man hat einfach nur noch an den Augenblick gedacht.
Können Sie, Herr Frohwein, verstehen, wenn heute
Wehrmachtssoldaten sagen, sie hätten vom Holocaust nichts
mitbekommen?
Frohwein: Das ist schwer für jemanden, der das alles von Anfang an
mitgekriegt hat - seit dem Boykott jüdischer Geschäfte im April
1933. Ich habe mal den Spruch gehört, die Deutschen haben mehr
gewusst, als sie wissen wollten.
Was haben Sie gewusst von der Judenvernichtung, Herr Duscheleit?
Duscheleit: Mein Bruder erzählte mir 1944 in unserem gemeinsamen
Fronturlaub von Massengräbern in Polen, die er gesehen hat. Aber als
Frontsoldat habe ich nichts von den KZs erfahren.
Ihr älterer Bruder war früh ein Nazi und hat sich dann zum
Nazigegner entwickelt, er beging Selbstmord, um nicht ein zweites
Mal in ein Straflager zu kommen. Ihr jüngerer Bruder motzte offen
über die Nazis, aber ausgerechnet er ist mit 17 an der Front
gefallen. Ihre Mutter war bei der Bekennenden Kirche, Sie selbst bei
der Waffen-SS: Wie kommen Sie mit diesen Zwiespältigkeiten zurecht?
Duscheleit: Das fällt mir sehr schwer. Warum ausgerechnet ich? Warum
hatte ich nicht den Mut meiner Brüder? Das ist meine Schuld. Aber
das Schlimmste war ja, dass ich meinen älteren Bruder verleugnet
habe.
Wie haben Sie ihn verleugnet?
Duscheleit: Im Juli 1944 hörten wir im Radio von dem gescheiterten
Attentat gegen Hitler. Graf Stauffenberg war der Attentäter. Ich
verwechselte das mit dem Kompaniechef meines älteren Bruders, Graf
Schulenberg, und sagte zu meinem SS-Kameraden: "Ich glaube, mein
Bruder ist in dessen Einheit." Da sagte mein Kamerad: "Wenn dein
Bruder dabei gewesen wäre, unseren geliebten Führer Adolf Hitler
umzubringen, würde dir dein Bruder noch dein Bruder sein?" Ich hatte
Angst und sagte: "Dann soll mein Bruder nicht mehr mein Bruder
sein." Das ist die schlimmste Schuld, die ich habe. Meine Mutter
konnte das nicht vergessen. Auf dem Sterbebett sagte sie mir:
"Otto-Ernst, du hast doch damals den Ulrich verraten." Erst im
Augenblick ihres Todes sagte sie es!
Herr Frohwein, Sie wurden auf Befehl des Führers ins KZ gesteckt,
Ihr Bruder fiel für "Führer, Volk und Vaterland".
Frohwein: Ja, 1943. Das sagen meine beiden Schwestern heute noch:
Einer von euch beiden musste fallen, damit der andere leben kann. In
diesem Jahr wurde ich nämlich Deutscher. Ich musste den Stern nicht
mehr tragen.
Sie gehen nun ja beide, wenn auch nicht zusammen, in die
Öffentlichkeit und erzählen, was Sie erlebt haben. Fällt Ihnen das
schwer? Und tun Sie es vielleicht doch, weil Sie es als eine Art
Pflicht empfinden, darüber zu erzählen?
Frohwein: Pflicht nicht, aber ich sehe es als meine Aufgabe. Das,
was damals passiert, darf nicht wiederkommen. Solange ich lebe, will
ich diese Aufgabe noch wahrnehmen.
Glauben Sie, man kann durch Ihre Erzählungen Neonazis erreichen?
Duscheleit: Nach einem Zeitzeugengespräch in einer Schule haben mich
mal zwei Neonazis noch zur S-Bahn begleitet. Der eine sagte: "Sie
brauchen nicht zu denken, dass wir Neonazis sind, ich bin bloß gegen
Ausländer." Der andere sagte: "Ich bin nur gegen Kiffer."
Frohwein: Mir hat mal eine Lehrerin erzählt, dass ein
NPD-Parteimitglied in einer 13. Klasse in Potsdam eine große
Auseinandersetzung in seiner Partei gehabt habe, nachdem ich vor
seiner Klasse gesprochen hatte.
Umfragen zufolge wollen 60 Jahre nach dem Kriegsende etwa zwei
Drittel der Deutschen sich nicht mehr an den Holocaust erinnern. Was
kann man Ihrer Meinung nach gegen diese Sehnsucht nach dem so
genannten Schlussstrich tun?
Frohwein: Die Geschichte kennt keine Schlussstriche. Da können die
Leute gar nichts gegen machen. Sie können so viel schimpfen und
reden, wie sie wollen. Es gab keine Schlussstriche bei Friedrich dem
Großen, den Bauernkriegen. Aber mit der Zeit wird das Gefühl, ein
schlechtes Gewissen haben zu müssen, bei den Leuten nachlassen.
Heute hat keiner mehr ein schlechtes Gewissen wegen der Bauernkriege
oder des Dreißigjährigen Kriegs. Nach wie vor fühlen sich aber vor
allem unsere Semester irgendwie schuldig, ohne schuldig zu sein. Die
Jugend fragt ganz unbekümmert in die Vergangenheit. Diese Forderung
nach dem Schlussstrich werden Sie von den Jüngeren nie hören.
Die junge Generation hat keine persönliche Schuld mehr, aber sie
trägt eine Verantwortung für die Erinnerung an die Vergangenheit.
Würden Sie mir da zustimmen?
Frohwein: Die Jungen haben nur die Verantwortung für die Zukunft,
nicht für die Vergangenheit. Das lehne ich ab.
Duscheleit: Das sehe ich auch so.
Frohwein: Junge Menschen müssen sich mit der Vergangenheit
auseinander setzen, die Auswirkungen hat auf ihre Zukunft. Das
Beschäftigen mit der Vergangenheit muss doch ein Ziel haben!
Duscheleit: Das Wichtigste ist, dass man jetzt etwas ändert. Dass so
etwas nicht wieder passiert.
Frohwein: Wir sind uns wieder einig.
Jetzt stirbt Ihre Zeitzeugen-Generation langsam aus. Wie ist die
Erinnerung da noch lebendig zu halten?
Frohwein: Wenn ich zu Schülern gehe und ihr Zuhören sehr ernst und
wichtig nehme, dann trägt sich das auch von Generation zu Generation
weiter. Wenn sich die Schüler drängeln, den Zeitzeugen zu sehen,
dann werden sie auch ihr Leben lang nicht vergessen, dass es ihn
gegeben hat.
Duscheleit: Dann vergessen sie einen nicht. Ich erzählte einmal auf
einer Weihnachtsfeier von meiner Geschichte. Da kam jemand dazu, der
erzählte, wie er dabei war, als Juden in Russland ermordet wurden,
wie sie sich an eine Grube stellen mussten, bevor sie erschossen
wurden, auch Alte, Frauen und Kinder. Und es war klar, er hatte mit
geschossen. Er hatte die Geschichte offenbar zum ersten Mal erzählt
- wenige Wochen später war er tot. Ich habe auch mal einen
ehemaligen Nazi getroffen, der auf seine Brust zeigte und sagte: "Es
schmerzt weiter." Ich bot ihm an, er könne mich jederzeit besuchen
kommen. Ein paar Wochen später war auch er tot.
Frohwein: Der ist schwerer gestorben.
Duscheleit: Herr Frohwein, dass wir zusammengekommen sind, einer,
der im KZ war, und einer von der SS, das war ein Geschenk.
Frohwein: Meine Erwartungen an Sie haben sich schon erfüllt, als Sie
hier eingetreten sind und die ersten Sätze gesprochen haben.
Duscheleit: Ich freue mich, Sie kennen gelernt zu haben. Ich hoffe,
es ist nicht das letzte Mal.
Frohwein: An unserem Willen soll es nicht liegen. Die nächsten 20
Jahre haben wir ja noch gemeinsam
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03-05-2005 |