25. Januar 2005
"Die Nazi-Ideologie war menschengewollt und
menschengemacht."
Photo:
Andrea Bienert
Bundeskanzler Schröder: "Verlockung des
Verdrängens nicht erliegen"Bundeskanzler Gerhard
Schröder hat bei der Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz
Komitees an die Befreiung des Konzentrationslagers vor 60 Jahren erinnert.
Schröder verwies zugleich auf die Pflicht aller Demokraten, der Hetze der
Neonazis und den immer neuen Versuchen, die Nazi-Verbrechen zu verharmlosen,
entschieden entgegenzutreten.
Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder,
gehalten am 25. Januar 2005 im Deutschen Theater, Berlin
Verehrte Überlebende von Auschwitz-Birkenau,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich danke dem Internationalen Auschwitz
Komitee für die Einladung, zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich glaube, dass diese Einladung nicht
selbstverständlich ist, auch jetzt noch nicht. Uns Deutschen stünde es gut
an, angesichts des größten Menschheitsverbrechens zu schweigen. Vor der
absoluten Moral- und Sinnlosigkeit des millionenfachen Mords droht die
politische Sprache zu versagen.
Wir möchten das Unfassbare begreifen, das
doch jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Vergeblich suchen wir
nach letzten Antworten.
Was bleibt, sind die Zeugnisse der wenigen
Überlebenden und ihrer Nachfahren.
Was bleibt, sind die Reste der Mordstätten
und die historischen Dokumente.
Was außerdem bleibt, ist die Gewissheit, dass
sich in den Vernichtungslagern das Böse selbst gezeigt hat.
Das Böse ist danach keine politische oder
wissenschaftliche Kategorie mehr. Aber wer könnte nach Auschwitz daran
zweifeln, dass es existiert und dass es sich in dem hassgetriebenen
Völkermord des Nationalsozialismus offenbart hat? Dies festzustellen,
bedeutet nicht, in die alte Rede vom "Dämonen Hitler" auszuweichen. Das Böse
der Nazi-Ideologie war nicht voraussetzungslos. Die Verrohung des Denkens
und die moralische Enthemmung hatten sehr wohl eine Vorgeschichte. Vor allem
aber: Die Nazi-Ideologie war menschengewollt und menschengemacht.
Meine Damen und Herren,
im 60. Jahr nach der Befreiung von Auschwitz
durch die Rote Armee stehe ich vor Ihnen als Repräsentant des demokratischen
Deutschlands. Ich bekunde meine Scham angesichts der Ermordeten und vor
allem vor Ihnen, die Sie die Hölle der Konzentrationslager überlebt haben.
Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Maidanek
und Auschwitz-Birkenau sind Namen, die mit der Geschichte der Opfer, aber
auch mit der europäischen und der deutschen Geschichte für immer verbunden
sein werden. Das wissen wir.
Wir tragen diese Bürde in Trauer, aber auch
in ernster Verantwortung.
Millionen von Kindern, Frauen und Männern
wurden von deutschen SS-Mitgliedern und ihren Helfershelfern durch Gas
erstickt oder ausgehungert und erschossen.
Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle,
politische Gegner, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer aus ganz Europa
wurden mit kalter, industrieller Perfektion vernichtet oder bis zum Tode
versklavt.
Einen tieferen Riss durch Tausende Jahre
europäischer Kultur und Zivilisation hatte es nie zuvor gegeben. Es hat
einige Zeit gedauert, bis dieser historische Riss nach Kriegsende in seinem
ganzen Ausmaß erfasst wurde. Wir kennen ihn, aber ich bezweifle, dass wir
ihn jemals begreifen können. Vergangenheit lässt sich nicht, wie es heißt,
"bewältigen". Sie ist vergangen. Doch ihre Spuren und vor allem ihre Lehren
reichen in die Gegenwart.
Für das Ausmaß des Grauens, der Qualen und
des Leids, das in den Konzentrationslagern geschah, wird es niemals einen
Ausgleich geben können. Den Nachfahren der Opfer und den Überlebenden eine
gewisse Genugtuung zu verschaffen, ist möglich.
Zu dieser Verantwortung steht die
Bundesrepublik seit geraumer Zeit mit ihrer Politik und auch mit ihrer
Justiz, getragen vom Rechtsbewusstsein ihrer Bürgerinnen und Bürger.
Meine Damen und Herren,
die jungen Frauen und Männer auf dem Foto,
das wir hier sehen - ehemalige Häftlinge im Sommer 1945 -, halten einander
fest. Viele von ihnen sind wie die meisten Überlebenden nach der Befreiung
sehr unterschiedliche Wege gegangen: nach Israel, nach Nord- und Südamerika,
in europäische Nachbarstaaten, zurück in ihre Heimatländer.
Einige aber blieben in Deutschland oder
kehrten zurück in das Land, in dem die so genannte "Endlösung" beschlossen
worden war.
Es war für jeden einzelnen eine
außerordentlich schwierige Entscheidung, und oft genug war sie auch keine
freiwillige, sondern das Resultat völliger Hoffnungslosigkeit. Doch Hoffnung
kehrte in ihr verletztes Leben zurück, und viele sind in Deutschland
geblieben. Wir sind dafür dankbar.
Heute ist die jüdische Gemeinschaft in
Deutschland die drittgrößte in Europa. Sie ist vital und wächst. Neue
Synagogen entstehen. Die jüdische Gemeinschaft ist und bleibt ein
unersetzlicher Teil unserer Gesellschaft und unserer Kultur. Ihre ebenso
glanzvolle wie schmerzhafte Geschichte bleibt Verpflichtung und Versprechen
zugleich.
Vor dem Antisemitismus der Unbelehrbaren
werden wir sie mit der Macht des Staates schützen. Dass es Antisemitismus
immer noch gibt, das ist nicht zu leugnen. Ihn zu bekämpfen, ist Aufgabe der
ganzen Gesellschaft. Nie wieder darf es den Antisemiten gelingen, jüdische
Bürger, nicht nur unseres Landes, zu bedrängen, zu verletzen und damit
Schande über unsere Nation zu bringen.
Den rechtsextremen Kräften, ihren dumpfen
Parolen und Schmierereien gilt gewiss die besondere Aufmerksamkeit der
Polizei, des Verfassungsschutzes und auch der Justiz. Aber die
Auseinandersetzung mit Neonazis und Altnazis müssen wir alle miteinander
politisch führen.
Es ist gemeinsame Pflicht aller Demokraten,
der widerlichen Hetze der Neonazis und den immer neuen Versuchen, die
Nazi-Verbrechen zu verharmlosen, entschieden entgegenzutreten. Für die
Feinde von Demokratie und Toleranz darf es keine Toleranz geben.
Meine Damen und Herren,
die Überlebenden von Auschwitz fordern uns
auf, wachsam zu sein, nicht wegzuschauen und nicht wegzuhören. Sie fordern
uns auf, Verbrechen gegen die Menschenrechte beim Namen zu nennen und sie zu
bekämpfen. Sie werden gehört, zumal von jungen Menschen, z. B. denen, die
heute die Gedenkstätte Auschwitz mit eigenen Augen kennen lernen. Sie
sprechen mit ehemaligen Häftlingen. Sie helfen, die Gedenkstätte zu pflegen
und zu erhalten. Sie werden auch helfen, die kommenden Generationen über die
Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuklären.
Meine Damen und Herren,
die überwältigende Mehrheit der heute
lebenden Deutschen trägt keine Schuld am Holocaust. Aber sie trägt eine
besondere Verantwortung. Die Erinnerung an Krieg und Völkermord im
Nationalsozialismus ist Teil unserer gelebten Verfassung geworden. Für
manche ist dieser Teil schwer zu ertragen.
Aber es ändert nichts daran, dass diese
Erinnerung zu unserer nationalen Identität gehört. Die Erinnerung an die
Zeit des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen ist eine moralische
Verpflichtung. Wir sind dies nicht nur den Opfern, den Überlebenden und
ihren Angehörigen schuldig, nein, wir sind es uns auch selbst schuldig.
Meine Damen und Herren,
es stimmt: die Verlockung des Vergessens und
des Verdrängens ist sehr groß. Doch wir werden ihr nicht erliegen.
Das Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals im
Herzen Berlins kann den Opfern weder Leben noch Würde zurückgeben. Den
Überlebenden und ihren Nachfahren kann es vielleicht als Symbol ihres
Leidens gelten. Uns allen dient es als Signal gegen das Vergessen.
Denn eines wissen wir: Es gibt keine
Freiheit, keine Menschenwürde und keine Gerechtigkeit, würden wir vergessen,
was geschah, als Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde mit staatlicher
Macht zertreten wurden. In vielen deutschen Schulen, in Unternehmen, in
Gewerkschaften und in den Kirchen wird Vorbildliches geleistet. Deutschland
stellt sich seiner Vergangenheit.
Aus der Shoa, aus dem nationalsozialistischen
Terror ist eine Gewissheit für uns alle gewachsen, die mit den Worten "nie
wieder" am besten umschrieben wird. Diese Gewissheit wollen wir uns
bewahren. Alle Deutsche, aber auch alle Europäer und die ganze
Staatengemeinschaft müssen immer wieder neu lernen, respektvoll, menschlich
und in Frieden miteinander zu leben.
Die Konvention zur Verhinderung von
Völkermorden ist die unmittelbare völkerrechtliche Lehre aus dem Holocaust.
Sie verpflichtet alle Menschen verschiedener Herkunft, kultureller
Prägungen, Religionen oder Hautfarben darauf, Leben und Menschenwürde in der
ganzen Welt zu achten und zu schützen. Auch dafür kämpfen Sie im
Internationalen Auschwitz-Komitee mit Ihrer einzigartigen Arbeit im
Interesse aller Menschen.
Mit Ihnen verneige ich mich vor den Opfern
der Vernichtungslager. Wenn auch eines Tages die Namen der Opfer im
Gedächtnis der Menschheit verblassen sollten - ihre Schicksale bleiben
unvergessen; denn sie ruhen im Herzen der Geschichte.
hagalil.com
11-01-2005 |