
Freispruch:
Im Zweifel für den Skinhead
Vor fünf Jahren erstach ein
Naziskinhead einen Rentner, weil der sich über laute Musik beschwert hatte.
Der heute 34jährige Angeklagte wurde auch in zweiter Instanz freigesprochen.
Von Martin Kröger
Jungle World
15 v. 13.04.2005
Mit diesem Urteil wird niemand mehr ermutigt, Zivilcourage
gegen Rechts zu zeigen." Heide Dannenberg, die Lebensgefährtin des vor fünf
Jahren getöteten Helmut Sackers, zeigte sich fassungslos angesichts des
Urteils. Nach 21 Verhandlungstagen wurde der Angeklagte, der ehemalige
Naziskinhead Andreas S., am 5. April in zweiter Instanz vor dem Landgericht
Halle freigesprochen.
Am 29. April 2000 beschwerte sich der 60jährige Helmut Sackers bei der
Polizei in Halberstadt, dass in einer Wohnung des Plattenbaus, in dem auch
Heide Dannenberg wohnte, rechtsextreme Musik abgespielt werde. "Bei uns im
Haus werden Nazilieder gespielt, Horst-Wessel-Lied, ganz laut", zeichnete
ein automatisches Tonband der Polizei die Stimme Sackers an diesem Abend
gegen 22 Uhr auf. Die alarmierte Polizei beließ es bei einer Ermahnung für
Andreas S., aus dessen Wohnung die rechte Musik dröhnte.
Eine Stunde später verblutete der Rentner, verletzt durch vier Messerstiche,
die Andreas S. ihm mit einem 17 Zentimeter langen Bajonett im Treppenhaus
des Plattenbaus zugefügt hatte. Sackers war mit seinem Hund Gassi gegangen
und von dem zu dieser Zeit 29jährigen Naziskinhead im Aufgang abgefangen
worden.
Bereits im ersten Prozess vor dem Landgericht Magdeburg im November 2000
wurde Andreas S. freigesprochen, weil das Gericht dem Angeklagten
zuerkannte, in Notwehr gehandelt zu haben. Der körperlich starke
Naziskinhead behauptete damals, von dem doppelt so alten und an einer
Lungenkrankheit leidenden Rentner und seinem Münsterländer Jagdhund
angegriffen worden zu sein. Die rechtsextreme Einstellung des Angeklagten
spielte in diesem Prozess keine Rolle, obwohl die Polizei Mengen von
nazistischem Propagandamaterial bei Andreas S. beschlagnahmt hatte: neben
indizierten Tonträgern der einschlägig bekannten Bands Landser und Freikorps
auch ein "Kriegsberichterstatter-Video" vom NS 88-Versand aus Schweden, in
dem offen zum Mord an "Roten" aufgefordert wird. Dazu Zeitschriften der
verbotenen Skinheadorganisationen Blood & Honour und Hamburger Sturm in
dutzendfacher Ausfertigung. Es wurde bekannt, dass Andreas S. während der
neunziger Jahre als Mitläufer zu einer Schlägertruppe von Naziskins zählte,
die rund um Halberstadt ihr Unwesen trieb.
Im wieder aufgelegten Prozess spielte seine politische Gesinnung durchaus
eine Rolle bei der Urteilsfindung. Der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage
war es zudem gelungen, Andreas S. und seine heutige Frau, die der Tötung im
Treppenhaus beiwohnte, in allen wesentlichen Punkten der Lüge zu überführen.
"Überall dort, wo sich die Einlassungen des Angeklagten und seiner Ehefrau
der Nagelprobe der wissenschaftlichen Erkenntnisse stellen mussten, hat sich
erwiesen, dass der Angeklagte und seine Entlastungszeugin gelogen haben",
sagte Wolfgang Kaleck, Verteidiger der Angehörigen Sackers, die als
Nebenkläger auftraten, im Anschluss an den Prozess. So stellte sich heraus,
dass Andreas S. Helmut Sackers schlug und nicht umgekehrt, wie der
Angeklagte zunächst behauptete, und dass der Jagdhund zu keiner Attacke
fähig ist.
Dennoch erkannte das Gericht "im Zweifelsfall für den Angeklagten" und
billigte Andreas S. zu, in "Todesangst" in einem "Notwehrexzess" gehandelt
zu haben.
Die Staatsanwaltschaft, die in ihrem Plädoyer sechseinhalb Jahre Haft für
den Angeklagten gefordert hatte, kündigte unterdessen eine Revision vor dem
Bundesgerichtshof an. Dass es überhaupt zum Revisionsprozess vorm
Landgericht Halle kam, ging auf die Initiative der Angehörigen zurück, die
wegen des erneuten Freispruchs nun 15 000 Euro Prozesskosten zu zahlen
haben. Bis heute wird Helmut Sackers nicht als Opfer rechtsextremistischer
Gewalt geführt.
Spendenaufruf unter
www.mobile-opferberatung.de
hagalil.com 15-04-2005 |