Jüdische Freiheit:
Exodus
Der Auszug aus Ägypten gehört nicht der Geschichte an. Er
ist reales Programm. Hier und jetzt. Die jüdische Tradition sieht dieses
Ereignis als prägende Rolle, die sich nicht zu allererst auf die
Vergangenheit bezieht, sondern in der Gegenwart und Zukunft verpflichtend
für uns ist.
Nicht umsonst ist der Auszug aus Ägypten – und nicht die
Schöpfung oder die Übergabe der Torah- Gottes "Visitenkarte" in Gold am
Beginn der Zehn Gebote: Die Aussage "Ich bin der Ewige, dein Gott, der ich
dich geführt habe aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus" ist nicht nur
Geschichte. Sie ist ein wichtiges lebendiges Erbe.
Das Essen am Sederabend (Beginn des jüdischen Pessachfestes)
hat sich seither kaum geändert. Es gibt Matzen (ungesäuertes Brot), bittere
Kräuter und Charosset (eine Mischung aus Früchten, Nüssen und Wein). Auch
die Pessach-Geschichte hat sich nicht geändert. Doch in jeder Generation
wurde ihr eine zeitgemäße Bedeutung zugeordnet. Ihre Botschaft hat Bedeutung
für die Gegenwart und für die Generationen, die kommen.
Die hebräische Wurzel des Wortes "Haggadah" (die Erzählung
vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten) ist verwandt mit der Wurzel
"aggadah": "Hag gadah" bedeute "erzählen", "aggadah" bedeutet
"zusammenbringen". Die Haggadah ist kein Märchen aus einer längst
vergangenen Zeit. Die jüdische Haggadah ist an den Gedanken des
"Zusammenbringens" geknüpft. Sie ist eine erneuernde Verbindung zu den
Grundwerten des jüdischen Glaubens: Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit,
Familie.
Jüdische Freiheit ist keine Lizenz für den einzelnen, ein
Leben nach Lust und Laune zu führen. Im Gegenteil: Jüdische Freiheit
bedeutet Sorge um den "anderen", um die Armen, die Waisen, die Witwen – um
diejenigen, die wir sehen, wenn wir hier und jetzt aus dem Fenster schauen:
eine allein erziehende Mutter, einen Rentner, der am Abend liegen
gebliebenes Gemüse auf dem Karmel-Markt einsammelt, damit er etwas zu essen
hat, ein todkranker Mensch, der um ein helfendes Medikament bittet, ein
Ausländer, der zu einer Arbeit in unserem Hinterhof verdammt ist, ein
Callgirl, das verkauft wird.
Heute ist es vielleicht wichtiger als jemals zuvor, sich an
diese Botschaft der Pessach-Geschichte zu erinnern. Nach Jahrzehnten der
Unabhängigkeit, hat der Staat Israel noch keine Freiheit erreicht. Wir haben
Ägypten noch nicht verlassen. Die soziale und wirtschaftliche Kluft in
Israel ist eine der größten in der Welt. Ausbeutung und Sklaventum sind
überall zu beobachten.
Wir erinnern uns an den Exodus des Jahres 5765 (2004/2005) aus Gush
Katif (Siedlungsblock im Gazastreifen) und dem Rest des Gazastreifens – der
nach den meisten Experten des jüdischen Religionsrechtes nicht Teil des
Landes Israel ist, jedoch mit dem biblischen Nachal Mitzrayim (Fluss von
Ägypten) assoziiert wird - verpflichtet uns, nach Israel zurückzukehren. Er
verpflichtet, sich wieder an das jüdische Volk, die Torah und das Land
Israel anzuschließen, damit aus der schmerzhaften Abkopplung etwas Gutes
entsteht.
Es tut immer weh, wenn man das Zuhause verlassen muss. Doch
die Sorge und der Schmerz, die die Aufgabe der Häuser und ganzer Siedlungen
verständlicherweise begleiten, können den Nachfolgern des religiösen
Zionismus im Besonderen und der israelischen Gesellschaft im Allgemeinen als
Brechstange dienen. Eine Brechstange, die hilft, an die Werte zu denken, die
dem Auszug aus Ägypten zu Grunde liegen.
Der Auszug ist nicht Geographie. Der Auszug ist nicht
Geschichte. Er ist Philosophie, Kultur, Gesetz und Moral. Hier und jetzt.
Unter uns gibt es eine teilweise bittere und verbohrte Diskussion darüber,
wo die Grenzen unseres Landes liegen sollen. Doch wir haben einen guten
gemeinsamen Nenner wenn es darum geht, was innerhalb dieser Grenzen liegen
sollte.
Die kommende Abkopplung ist ein seltener Augenblick der
Gnade, in dem sich jüdische Werte erneut in unseren Herzen niederlassen
können. Die enorme Energie der Pioniere von Gush Katif kann uns Werte wie
gegenseitige Verantwortung, soziale Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und
Aufrichtigkeit neu aufzeigen. Anstelle der Abkopplung werden wir die
erneuerten Werte "eines Königreichs von Priestern und eines heiligen Volkes"
sehen, die im Mittelpunkt des Auszuges aus Ägypten standen.
Kommentar von Rabbiner Michael Melchior, stellvertretender
Minister für Erziehung, Kultur und Sport in der israelischen
Regierung, Ha'aretz, 22.04.2005,
Übersetzung Daniela Marcus
hagalil.com 22-04-2005 |