
Zeitzeugen:
Fluch und Segen der Geschichtsschreibung
Historiker mögen Zeitzeugen
selten. Denn so farbig und erhellend deren Berichte meist sind - die
Erinnerung trügt eben manchmal.
Von Philipp Gessler
"Zeitzeugen sind die Hölle", zischte vor ein paar
Jahren, ganz unironisch, ein israelischer Historiker am Rande einer
Tagung über das jüdische Sportleben in Deutschland bis 1945. Der
Anlass: Ein Zeitzeuge hatte gerade die versammelte Historikerschar
zusammengestaucht: Ihre Forschungsergebnisse seien in dem und dem
und dem Punkt falsch. Er habe es ja erlebt! Die negative Meinung des
Historikers über Zeitzeugen ist in ihren Kreisen keinesfalls die
Ausnahme, auch wenn man sie meist nur munkelt.
Auf der anderen Seite gibt es Zeitzeugen, die sich gern abfällig
äußern über das Archivwissen der Historiker: "Zeitzeugen sind die
besten Geschichtsschreiber", verkündet etwa Sally Perel, der, obwohl
Jude, als Hitlerjunge den Holocaust überlebte - seine Autobiografie
war ein Bestseller, der auch erfolgreich verfilmt wurde. Manches
wissen Zeitzeugen tatsächlich besser als die Historiker, denn auch
Dokumente können lügen. Die Frage ist nur: Was wissen sie besser?
Zeitzeugen sind zugleich Fluch und Segen der Geschichtsschreibung.
In einer Porträtserie wird die taz bis Anfang Mai das Kriegsende
beschreiben - so, wie es Berliner erlebt haben, so, wie es in Berlin
erlebt wurde. Nur Zeitzeugen werden berichten, um sie noch einmal zu
Wort kommen zu lassen - vielleicht zum letzten Mal 60 Jahre, also
zwei Generationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei erzählen
die Zeitzeugen - natürlich - immer nur einen Teil der großen
Geschichte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Man kann diesen Ansatz kritisieren, da Berichte von Zeitzeugen nicht
selten Schwächen haben: Ihre Erinnerung kann Zeitzeugen trügen. Ihre
Berichte können im Laufe der Jahrzehnte durch häufiges Wiedergeben
zu Erzählungen voller Fehler, Auslassungen und Verdrängungen
dramatisiert und glatt geschliffen worden sein. Manchmal haben
Zeitzeugen etwas Rechthaberisches an sich: Sie lassen sich -
selbstredend mit bestem Gewissen! - von schlagenden Gegenbeweisen
der Historiker keineswegs eines Besseren belehren. Und sie erinnern
sich ab und zu nur an persönliche Erlebnisse und Interpretationen
des damaligen Geschehen, die ein falsches Bild vom Ganzen abgeben.
Typisch dafür sind etwa die Topoi "Hitler hat doch die Autobahnen
gebaut" oder "Wir haben vom Judenmord nichts gewusst".
Andererseits haben die Berichte von Zeitzeugen unschlagbar starke
Seiten: Sie erinnern sich an farbige, erhellende Details, die in den
Werken von Historikern ob ihrer Fülle nicht erfasst werden können
und so untergehen. Der persönliche Bericht berührt die Zuhörer viel
eher, als es dicke historische Werke vermögen: Wer jeweils erlebt
hat, welche tiefe Wirkung etwa frühere KZ-Insassen bei ihren
Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern fast immer hinterlassen,
wird dem nicht widersprechen. Vielen Zeitzeugen tut die Erinnerung
an früheres Unglück seelisch weh. Manche ihrer Berichte
interessierten jahrzehntelang niemanden - auch das schmerzt. Dennoch
erinnern die Zeitzeugen an vergangenes Leid, damit dies Wissen nicht
verloren geht. Als Überlebende empfinden dies viele als Pflicht
gegenüber den Toten. Hinzu kommt, dass Zeitzeugen manchmal schlicht
die besten Beweise haben, denn sie haben es erlebt. Die
Augenzeugenberichte von Mitgliedern der "Sonderkommandos" in
Auschwitz beispielsweise gehören zu den schlagendsten und leider
nötigen Argumenten gegen die Holocaust-Leugner (auch wenn diese sie
nicht hören wollen).
Die Ohren und Augen also aufgesperrt, wenn Zeitzeugen erzählen. Wir
Nachgeborenen haben das Privileg, sie noch erleben zu können, auf
dass wir ihre Berichte - wenn auch nur aus zweiter Hand - der
kommenden Generation weitertragen können. Oder, wie es der
Spanienkämpfer und Auschwitz-Häftling Kurt Julius Goldstein sagt:
"Wir sind die Letzten - fragt uns!" Seine Rede übrigens war es, die
bei der Gedenkfeier zum 27. Januar dieses Jahres, 60 Jahre nach
Befreiung des KZ Auschwitz, im Deutschen Theater den meisten
Eindruck hinterließ. Kanzler Schröder hatte mit seinem Beitrag keine
Chance. Abdruck mit
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Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt:
Der Zeitzeuge als natürlicher Feind des Historikers?
Der Band bietet in vielen verschiedenen Perspektiven
einen Einblick in die problematische Beziehung zwischen Geschichte
und Gedächtnis, stellt theoretische Grundfragen heraus und zeigt
anschauliche Beispiele. Es bleibt zu wünschen, dass der Band nicht
nur beim Fachpublikum gefallen findet und dazu beiträgt,
zeitgeschichtliche Forschung in die Öffentlichkeit zu tragen, wie es
die Verfasser der Beiträge gefordert haben...
haGalil onLine
17-03-2005 |