Gewinner und Verliere im Irak:
Wenn Wahlen etwas ändern
Die kurdischen und die schiitischen
Parteien sind die Gewinner der Wahlen. Zu den Verlierern gehört der
"Widerstand".
Von Thomas von der Osten-Sacken, Suleymaniah
Jungle World 7 v.
16.02.2005
Überschwänglich wurden die irakischen Wahlen nicht nur von
der US-Administration begrüßt, die als großen Erfolg verbuchte, was
eigentlich nie in ihrem Interesse gelegen hatte. Ursprünglich hatten die USA
einen wesentlich späteren Wahltermin anvisiert; es war dem Druck des
Großayatollah Ali al-Sistani geschuldet, dass bereits jetzt die ersten einer
ganzen Reihe von Wahlen im Irak abgehalten wurden. Auch gemäßigte und
säkulare Kräfte feierten die Wahlen als Erfolg. Der Autor des Buches
"Republic of Fear", Kanan Makiya, sprach sogar von einer "zweiten Revolution
nach den landesweiten Aufständen des Jahres 1991".
So herrschte in den Tagen nach der Wahl in großen Teilen des Landes eine
euphorische Stimmung, obwohl der so genannte Widerstand seine Anschläge noch
intensivierte. Während sich die Bekanntgabe des endgültigen Wahlergebnisses
von Tag zu Tag verzögerte, mussten Dutzende Iraker ihr Leben lassen: Am
Freitag, als US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den Irak besuchte,
schossen maskierte Männer in eine Gruppe von Schiiten, die vor einer
Bäckerei in Bagdad stand. Elf Menschen starben dort, 13 weitere bei einem
Selbstmordanschlag vor einer schiitischen Moschee nordöstlich von Bagdad. Am
Samstag starben 17 Menschen bei der Explosion einer Autobombe vor einem
Krankenhaus in Mussajeb, und nahe der südirakischen Stadt Kut fand man die
Überreste von 20 massakrierten Fernfahrern.
Dennoch ist der "Widerstand" der größte Verlierer der Wahl. Offenbar
wiederholt sich im Irak die zuvor in Algerien gemachte Erfahrung: Je mehr
sich Untergrundkämpfer isolieren, desto brutaler werden die Anschläge, und
sie richten sich zunehmend gegen unbeteiligte Zivilisten. Denn der sich vor
allem aus ehemaligen Ba’athisten und sunnitischen Islamisten rekrutierende
"Widerstand" musste am Wahltag die bittere Erfahrung machen, dass sein
Einfluss sich weitgehend auf die sunnitischen Regionen des Landes erstreckt.
Dort aber gelang es, mit Boykottaufrufen und Terrordrohungen die meisten
Menschen von den Wahlurnen fernzuhalten. Entsprechend gewannen in den
Hochburgen des "Widerstands", den Provinzen al-Anbar und Salehdin,
Hochrechnungen zufolge die schiitische Vereinigte Irakische Allianz sowie
die kurdische Liste, während die Partei des sunnitischen
Übergangspräsidenten Ghazi al-Yawar insgesamt knapp zwei Prozent der Stimmen
erhielt.
In der neuen irakischen Nationalversammlung werden die Sunniten, die einst
den ba’athistischen Staatsapparat stützten, kaum vertreten sein. Während sie
13 bis 18 Prozent der Bevölkerung ausmachen, dürften sie gerade einmal fünf
bis zehn Prozent der Parlamentsmandate innehaben. Schon wünschen deshalb die
Irakische Islamische Partei und der Council of Sunni Clerics, die beide die
Wahlboykottkampagne unterstützten, an der Ausarbeitung der Verfassung
beteiligt zu werden. Offenbar haben die Vertreter der Sunniten ihre
Bedeutung maßlos überschätzt und befinden sich nun in einem Zustand
weitgehender Desorientierung.
Auch die Gewinner der Wahlen stehen bereits fest. Es sind dies die
schiitische Vereinigte Irakische Allianz und die Kurden, die wohl
zweitstärkste Kraft im Parlament werden und für sich den Posten des
Präsidenten beanspruchen. Außer bei den Kommunalwahlen haben alle kleineren
Parteien, etwa der von der Irakischen Kommunistischen Partei angeführte
Linke Block und die Liberale Partei, weit schlechter abgeschnitten als
erwartet.
Getrübt wird die Freude über die Wahlen allerdings von Berichten aus Mossul
und Kirkuk, wo es in größerem Ausmaß zu Behinderungen und Manipulationen
gekommen sein soll. Die Vertreter der assyrischen Minderheit beschuldigen
sowohl die Wahlkommission als auch die Kurdische Demokratische Partei, Urnen
nicht ausgeliefert und somit Zehntausende von Assyrern von der Wahl
ausgeschlossen zu haben.
Obwohl sich wegen solcher Klagen die Bekanntgabe des Endergebnisses weiter
verzögert, haben die politischen Blöcke die Verhandlungen aufgenommen. Die
schiitische Vereinigte Irakische Allianz, die selbst ein äußerst heterogenes
Gebilde ist, dem sowohl der säkulare Vorsitzende des Iraqi National
Congress, Ahmad Chalabi, als auch die sich am Islam orientierenden Parteien
Sciri und Da’wa angehören, konnte offenbar mehr als die Hälfte aller Stimmen
auf sich vereinigen. Dennoch genügt diese Mehrheit nicht, um den neuen
Premierminister zu bestimmen. Hierfür sind gemäß der irakischen
Übergangsverfassung zwei Drittel der 275 Stimmen nötig. Damit kann ohne
Unterstützung der Kurden oder der Liste von Übergangspremier Iyad Allawi,
die etwa 13 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, kein Premier
gewählt werden. Beide Gruppen verbinden gemeinsame politische Interessen, so
lehnen sie die von den schiitischen Parteien angestrebte Verankerung der
Sharia im Zivilrecht ab.
Vor allem ohne Zustimmung der Kurden, die noch vor 15 Jahren eine brutal
verfolgte Minderheit waren, wird im künftigen Irak keine bedeutende
Entscheidung gefällt werden. Die von der so genannten kurdischen
Referendumskampagne vorgelegten Ergebnisse, denen zufolge 98,8 Prozent der
Kurden für einen unabhängigen Staat votieren, sind daher mit Vorsicht zu
genießen. Denn so stark die Position der Kurden in einem föderalen Irak ist,
so schwach wäre ein unabhängiges Kurdistan. Während die kurdischen Parteien
ihre Verwaltungen in Arbil am 1. März vereinigen wollen, haben sie bereits
unter sich die künftigen politischen Einflussgebiete aufgeteilt. Massoud
Barzani, der Führer der Kurdischen Demokratischen Partei, strebt das Amt des
Präsidenten der kurdischen Autonomieregion an, Jalal Talabani, sein
Konkurrent von der Patriotischen Union Kurdistans, hat sich für die
irakische Präsidentschaft beworben.
Anders als beispielsweise in Afghanistan, wo lediglich ein Präsident gewählt
wurde, ist der angestrebte Transformationsprozess im Irak
verfassungsrechtlich äußerst kompliziert. Die mit US-amerikanischer
Unterstützung ausgearbeitete Übergangsverfassung stärkt die Legislative
gegenüber der Exekutive. Das Parlament agiert weitgehend unabhängig von dem
de facto machtlosen Präsidenten und dem aus drei Personen bestehenden
Kollektiv von Premierminister. Die am 30. Januar gewählte
Nationalversammlung wiederum ist ebenfalls nur ein Übergangsparlament,
dessen eigentliche Aufgabe darin besteht, bis zum Spätsommer eine neue
Verfassung auszuarbeiten, über die in einem Referendum abgestimmt werden
muss. Sollte die Mehrheit in einem der drei Gouvernements gegen diese
Verfassung votieren, kann sie nicht in Kraft treten. Faktisch haben damit
die Kurden ein Vetorecht.
Mit wachsender Sorge betrachten die Nachbarländer daher die Entwicklung im
Irak. Fürchten die arabischen Länder einen wachsenden Einfluss der Schiiten
in einem arabischen Kernland, so beobachtet die Türkei mit Misstrauen die
Entwicklung im Nordirak. Wiederholt drohte das türkische Militär, in
Kurdistan einzumarschieren, sollten die Kurden in Kirkuk die Macht
übernehmen. Bislang allerdings genießen die Kurden als engste Alliierte der
USA im Irak deren Schutz.
hagalil.com 17-02-2005 |