Von Richard Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung v.
25.02.2005
Mitte der achtziger Jahre lebte ich in Wien, also genau in
jener Zeit, als die Waldheim-Affäre ihren Höhepunkt erreichte. Der
österreichische Antisemitismus machte sich überall Luft, sogar in der Sauna
des Fitnesscenters, das ich regelmäßig besuchte. Dort waren nicht nur die
Leiber entblößt, sondern auch die Volksseele. Und so durfte ich mitanhören,
was jene österreichischen Mitschwitzer mit einem Juden zu tun gedächten,
wenn ihnen denn einmal einer zwischen die Finger käme. Nein,
Streicheleinheiten waren das keine, die sie "ihm" angedeihen lassen wollten.
Ich war geschockt. Diese offenen antisemitischen Äußerungen,
die man in Wien damals überall hören konnte, waren mir, dem deutschen
Staatsbürger, fremd. In Deutschland war damals der Antisemitismus ein
absolutes Tabu. Nicht, dass man ihm als Jude nicht immer wieder begegnete.
Doch diese "Unbeschwertheit", die die Österreicher an den Tag legten, wenn
es darum ging, Juden in altbekannter Form coram publico zu schmähen, die gab
es damals in der Bundesrepublik nicht.
Nachdem mein Entsetzen etwas abgeflaut war, und ich mich daran
"gewöhnt" hatte, begann ich diese österreichische Leichtigkeit zu schätzen.
Anders als in Westdeutschland sah man als Jude gleich, wo, wer der Feind
war. Wie angenehm! Keine Heucheleien, der Feind gibt sich zu erkennen, ergo
kann man mit ihm umgehen, ihn umgehen oder auch: direkt attackieren. Nichts
vertuscht, alles offen. Gesellschaft und Politik hätten in Österreich mit
der Realität umgehen können, wenn sie es denn gewollt hätten. Haben sie
nicht, aber das ist eine andere Geschichte . . .
Zurück in der Bundesrepublik, war ich nach meiner
österreichischen Erfahrung von der deutschen politischen Korrektheit der
achtziger Jahre abgestoßen. Man bewegte sich als Jude in der Gesellschaft
plötzlich wieder wie durch Watte. Alles weich, alles sanft, nichts wirklich
zu spüren. Wenngleich man natürlich einen sechsten Sinn für Antisemitismus
entwickelt hat - doch den konnte man seinem Gegenüber nur selten nachweisen,
denn in der Bundesrepublik bewegte sich alles in der Unschärfe, im Vagen.
Und so war man als Jude immer wieder gezwungen, den Mund zu halten - nur in
den seltensten Fällen gab es eindeutige Äußerungen, auf die man sein
Gegenüber festnageln konnte.
Das alles änderte sich nach der Wiedervereinigung. Und
inzwischen haben wir zwar noch nicht "österreichische Verhältnisse", doch
wir nähern uns diesen allmählich an. Eine Wohltat! Der Feind ist sichtbar
geworden. Und selbst die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat allmählich
begriffen, dass "der Antisemit" nicht nur in Bomberjacken daherkommt,
sondern durchaus auch in unauffälligem Zwirn, dass er nicht nur in der NPD
sitzt, sondern auch in anderen Parteien, in verschiedensten Organisationen
und manchmal sogar eine ansonsten demokratische Stütze der Gesellschaft sein
kann.
Und nun versucht die Regierungskoalition, diese paradiesischen
Zustände wieder abzuschaffen. Jüngst durften Nazis in Dresden nicht mit
Springerstiefeln und Bomberjacken marschieren, mussten also ganz zivilisiert
erscheinen. Was für ein Unsinn. Was wollte man damit erreichen? Dass die
extreme Rechte plötzlich ansehnlich wird? Und nun der neueste Vorstoß: das
Versammlungsverbot an einschlägigen Orten: Gedenkstätten und -plätze ebenso
wie symbolische deutsche Orte, besonders das Brandenburger Tor.
Das darf doch nicht wahr sein! Liebe Bundesregierung, liebe
Minister, lieber Gerhard Schröder, lieber Otto Schily, bitte macht uns Juden
doch das Leben nicht wieder schwer! Lasst die Antisemiten doch bitte weiter
in aller Öffentlichkeit aktiv sein! Dann können wir sie sehen. Dann kann die
gesamte Gesellschaft sie auch sehen, und alle können sich vielleicht
ernsthafte Gedanken machen, wie man dieser Plage, dieser Gefahr für die
Demokratie (nicht für uns Juden) wirklich Herr wird. Indem man alles
verbietet, verschwinden die Nazis nicht. Man wird sie nur nicht mehr sehen.
Und das kann nicht wirklich im Interesse des Volkes sein. Oder doch?