Ohne Scham:
Genozid-Debatte in der Türkei
Von
Deniz Yücel
Jungle
World 44 v. 20.01.2005
Führen die türkischen Bemühungen um einen EU-Beitritt
zu Reformen, die ehedem als undenkbar galten? Folgende Meldung von voriger
Woche scheint den Optimismus zu rechtfertigen: Der Vize-Vorsitzende des
Parlamentsausschusses für die EU-Anpassung, Ali Riza Alaboyun, erklärte, das
Gremium werde "mit Vertretern der armenischen Minderheit sowie mit
vorurteilsfreien türkischen und armenischen Historikern über den
Völkermordvorwurf sprechen".
Am 24. April jährt sich zum 90. Mal der Genozid, bei dem
600 000 bis 1,5 Millionen Armenier starben. Es war der zweite Genozid des
Jahrhunderts, nach dem deutschen Mord an den Hereros. Auf der ganzen Welt
planen armenische Gemeinden Gedenkveranstaltungen, die türkische Regierung
fürchtet, auch ausländische Parlamente könnten sich daran beteiligen. Bei
keinem anderen Thema reagiert die Türkei panischer. Jüngst intervenierte der
türkische Botschafter in Berlin erfolgreich bei der brandenburgischen
Landesregierung, um einen Hinweis auf den Genozid aus einem Schulbuch tilgen
zu lassen.
Völlig tabuisiert ist das Thema jedoch nicht. Über die
"Armenier-Massaker" heißt es in Orhan Pamuks Roman "Schnee", der dieser Tage
auf Deutsch erscheint: "Angeblich glaubten manche Touristen zunächst, es
gehe dabei um Armenier, die von Türken abgeschlachtet worden waren, ehe sie
mit dem Gegenteil konfrontiert wurden." Was bei Pamuk eine subtile Kritik
ist, dürfte als Zweck und Ergebnis der Parlamentsdebatte schon feststehen.
"In unserer Geschichte gibt es nichts, dessen wir uns schämen müssten", weiß
Alaboyun von der gemäßigt-islamistischen AKP. "Wir müssen den antitürkischen
Schriften der Armenier entgegenwirken", rät Onur Öymen von der
sozialdemokratischen CHP.
Als zum orthodoxen Weihnachtsfest Istanbuler Christen am
Bosporus einen alten Brauch zelebrierten, geiferte Devlet Bahçeli,
Vorsitzender der rechtsextremen MHP und bis 2002 stellvertretender
Ministerpräsident, über den "Versuch, Istanbul wieder zum christlichen
Konstantinopel zu machen". Dies werde seine Bewegung nicht zulassen: "Was
unsere Väter damals gemacht haben, können auch wir wieder tun." Manchmal
braucht es nicht viel, damit aus dem kollektiven Unterbewusstsein
herausplatzt, was ohnehin jeder weiß.
hagalil.com
11-02-2005 |