Von Karl Pfeifer
Immer wieder geht Rechtfertigung einer Politik, die sich
nicht mit der Integrierung von ehemaligen Nationalsozialisten begnügte,
sondern auch Täter mit Blut an den Händen protegierte und diesen auch in
jeder Weise entgegenkam, einher mit demagogischen Untergriffen, wie wir sie
diese Tage von einigen früher hochrangigen SPÖ-Politikern erleben. Die
Tatsache, dass die SPÖ ihre "braunen Flecken" endlich angefangen hat
aufzudecken, führt zu Reaktionen, die zum Teil skurril wirken. Am liebsten
würden diese Politiker die Käseglocke über die Geschichte stülpen.
Der frühere Wiener Bürgermeister und Nationalrats-Präsident
Leopold Gratz ist laut einer APA-Meldung vom 20. Januar 2005 aus dem Bund
Sozialistischer Akademiker (BSA) ausgetreten und macht den Historikern
Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz, die ihre Untersuchung über die
Integration der Nationalsozialisten, darunter auch Täter in den BSA (Der
Wille zum aufrechten Gang/Offenlegung der Rolle des BSA bei der
gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, Czernin
Verlag, 2005) vorgelegt haben, schwere Vorwürfe. Gratz, der 17 Jahre
Präsident des BSA war, findet das Buch "einseitig" und behauptet nichts
gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit zu haben, aber das müsse "ehrlich"
geschehen. Zwei seriöse Zeithistoriker mit reicher Erfahrung in der
Erforschung der Zeitumstände während und nach der Zeit des
Nationalsozialismus haben ihre Studie vorgelegt, die durch zahlreiche
Quellen gestützt wird, aber Gratz wirft ihnen implizit vor unehrlich
gearbeitet zu haben und behauptet ohne nur einen Fall zu nennen zu können:
"Vieles in dem Buch stimme einfach nicht."
Er verharmlost die Integration von Nazi in seine Partei nicht
zum erstenmal. Bereits 1970 hatte Simon Wiesenthal darauf hingewiesen, dass
von den elf Ministern im ersten Kabinett Kreisky vier ehemalige Mitglieder
der NSDAP waren. Im Juni 1970 griff Gratz, damals Unterrichtsminister und
Zentralsekretär der SPÖ in die unterste Schublade und beschuldigte während
des SPÖ-Parteitags in der Wiener Stadthalle das Dokumentationszentrum
Wiesenthals, es sei ein "Femegericht". Er sagte: "Die Weise wie man
SPÖ-Funktionären versucht, eine Nazi-Vergangenheit zuzuschreiben, nimmt
langsam groteske Formen an, und man wartet nur mehr auf den Tag, daß man zu
beweisen versucht, dass auch unser Vorsitzender Dr. Kreisky einmal Mitglied
der NSDAP gewesen sein soll." Die Zuhörer bei der Parteikonferenz spendeten
ihm heftigen Beifall. Kreisky konnte mit seinem Spruch "Ich warte nur
darauf, bis Herr Wiesenthal nachweist, dass auch ich bei der SS gewesen
bin." (Wochenpresse, 17.6.1970) Wählermaximierung betreiben.
Kein Wunder, dass die Rechtsextremisten Kreisky und der SPÖ
damals höchstes Lob spendeten, Die "National Zeitung" titelte z.B. am 5.
Juni 1970 "KREISKY und die alten Nazis / Österreichs größter Jude vergibt"
und am 7. August 1970 "KREISKY: Wiesenthal ist jüdischer Faschist". Kreisky
begnügte sich nicht damit und deutete an, Wiesenthal hätte eine dubiose
Vergangenheit als Gestapo-Agent. Zur Beweisführung wollte er als Kronzeugen
den in Belgien zum Tod verurteilten ehemaligen Kommandanten der flämischen
SS Robert van Verbelen heranziehen. Es wurde eine Kampagne gegen Wiesenthal
ausgelöst, der als "Menschenjäger", "Rachefanatiker", "faschistischer
Kollaborateur" verleumdet wurde und dem man "Privatjustiz" unterstellte.
Bewusst oder unbewusst schwammen Kreisky und die SPÖ auf der Welle des
latenten österreichischen Antisemitismus.
Eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern unter der Führung von
Ruth Wodak untersuchte diese Kampagne und fasste zusammen: "Abschließend
können wir feststellen, dass Kreiskys Argumente gegen Wiesenthal, wie sie in
der Berichterstattung wiedergegeben wurden, verschiedene antisemitische
Stereotype ansprachen, hier vor allem Weltverschwörung und Ehrlosigkeit
("jüdischer Dreh"). In seinen Argumentationsstrategien bedienter der sich
u.a. eines (österreichischen) Wir-Diskurses und einer starken Abwertung und
Kriminalisierung Wiesenthals. Auch verharmlost er den österreichischen
Antisemitismus. Kreisky profilierte sich hier als "echter Österreicher", der
zwar antisemitische Argumentation bemüht, aber den Vorwurf des
Antisemitismus "im Namen aller Österreicher" empört zurückweist." ("Wir sind
alle unschuldige Täter", suhrkamp 1990)
Ein weiteres Argument von Gratz ist, Bruno Pittermann habe
"jede Menge Probleme gehabt, seine jüdische Frau über die NS-Zeit zu
bringen". Diese Tatsache ist unbestritten, was sie aber damit zu tun haben
soll, dass Pittermann wie andere SPÖ-Politiker auch Nationalsozialisten,
darunter solche mit schwerer Schuld protegiert hat, kann nur Leopold Gratz
beantworten.
Nehmen wir doch den konkreten Fall des 1890 in Graz geborenen
Johann Diller, der in der ersten Republik als Richter fungierte. "Politisch
engagierte sich Diller, der Mitglied der antisemitisch-deutschnationalen
Burschenschaft "Allemania" in Graz war, als Parteileitungsmitglied der
Großdeutschen Volkspartei in Graz. In seinem Lebenslauf von 1938 betonte
Diller, dass er sich stets einer völkischen und arischen Weltanschauung
verpflichtet gefühlt habe. 1927 habe er – als Großdeutscher – bei Wahlen
bereits die damaligen nationalsozialistischen Listen gewählt, "die meinen
Ansichten voll entsprachen". Im März 1934 sei er gezwungenermaßen der
Vaterländischen Front beigetregten. Im Frühjahr 1938 stellte er
konsequenterweise ein Ansuchen um Aufnahme in die NSDAP, dem tatsächlich am
1. Januar 1940 Erfolg beschieden war."
1948 wurde Diller in den Personalstand des Bundesministeriums
für Justiz der Republik Österreich übernommen und zum Oberlandesgerichtsrat
befördert. 1951 bemühte sich Diller offenbar um eine Vorrückung in die
nächst höhere Standesgruppe der Richter, wobei er in diesem Zusammenhang die
geballte Unterstützung von SPÖ, BSA und SPÖ-Klubobmann Dr. Bruno Pittermann
genoss.
Seine Tochter Elisabeth Pittermann, Exvizepräsidentin des BSA
hat ihren Ärger in einem Interview mit der Wiener Wochenzeitung "Falter"
(Nr. 5/05 vom 2.2.05) geäußert: "Also, ich habe nach Erscheinen des Berichts
im BSA gleich losgepfaucht und verstehe auch die Empörung des Leopold
Gratz!" Dann unterstellt sie: "In dem Buch wird die SPÖ ja streckenweise
dargestellt, als wäre es ihre größte Leidenschaft gewesen, ehemalige Nazi in
hohen Positionen zu bringen."
Im Buch werden sehr zurückhaltend Tatsachen berichtet.
Leidenschaft unterstellen die Autoren der SPÖ nicht. Sie haben akribisch die
historischen Umstände geschildert, die zu dieser Integration geführt haben.
Elisabeth Pittermann: "Dabei werden sogar Leute angepatzt, die vorher im
Widerstand waren, wie etwa Adolf Schärf. Als wäre er der größte Nazifreund
aller Zeiten und ein Judenhasser gewesen!"
Ich habe das Buch gründlich gelesen. Nirgendwo wird Adolf
Schärf unterstellt, er wäre der "größte Nazifreund aller Zeiten und ein
Judenhasser gewesen." Hingegen belegen die Autoren ganz genau, wie Dr. Adolf
Schärf ehemaligen Nationalsozialisten protegierte. Mit keinem Wort wird im
Buch Dr. Schärf Judenhass unterstellt, aber die Autoren gebrauchen ein
sanftes Understatement: "Die Parteiführung der SPÖ, allen voran Dr. Adolf
Schärf und Oskar Helmer, unternahm nach 1945 so gut wie keine Bemühungen,
die vertriebenen Parteifunktionäre zurückzuholen....". Unter den vielen von
den Autoren angegebenen Quellen dafür fehlt das 1948 in London
veröffentlichte Buch von Julius Braunthal "The Tragedy of Austria", in dem
der bewährte sozialdemokratische Funktionär diese Politik der
Nichtzurückholung explizit erwähnt. Baunthal schildert auch, dass der
Nazibürgermeister von Wien (Neubacher) nach dem "Anschluss" einigen
"arischen" sozialdemokratischen Politikern zusicherte, es würde ihnen nichts
passieren und sie auch nicht ihre Weltanschauung ändern brauchten, sie
sollten nur das NS-Regime nach seinen Taten beurteilen. 1938 bekamen sie ja
reichlich Gelegenheit die Taten des Regimes zu beurteilen. Trotzdem fanden
nur ganz wenige und die meisten auch nur knapp vor Kriegsende ihren Weg zum
Widerstand. Das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Das Verhalten von
Karl Renner, Adolf Schärf und Oskar Helmer während der Zeit der
NS-Herrschaft sollte aber noch von Historikern untersucht werden.
Elisabeth Pittermann weiter im Falter-Interview: "Und was soll
Christian Broda schon für die Nazis übrig gehabt haben? Er hatte doch selbst
jüdische Vorfahren, worüber man in den Siebzigern aber peinlich schwieg."
Wieso Elisabeth Pittermann die jüdische Abstammung glaubt erwähnen zu
müssen, ist mir ein Rätsel, als ob die Tatsache, dass Kreisky in den Augen
der Nazi ein "Volljude" war, diesen gestört hätte, sich vor ehemalige Nazi
und sogar einen SS-Obersturmführer hinzustellen. Natürlich waren "jüdische
Vorfahren" ein Argument, das die politischen Gegner der SPÖ gegen Broda
gebraucht haben und auf diese Flüsterpropaganda konnte die SPÖ auch nicht
antworten, war ja ein großer Teil ihrer Wähler ungefähr so antisemitisch
eingestellt, wie der Rest der Bevölkerung, immerhin meinten nach einer
Umfrag 1968 noch 43 der Befragten, dass ein Jude, der sich als Österreicher
bekennt, nicht als richtiger Österreicher angesehen werde.
Christian Broda hat tatsächlich eine führende Rolle bei der
Integration von Nazi gespielt und das ist im Buch hinreichend dokumentiert.
Brodas Politik der Protegierung von auch schwer belasteten Nazis und der
Einstellung der Verfahren wegen NS-Verbrechen kann nicht mit seinen
jüdischen Vorfahren entschuldigt werden.
Völlig lächerlich macht sich Elisabeth Pittermann, wenn sie den
Historikern vorwirft, sie würden "der historischen Rolle mancher Menschen
nicht gerecht, wohl weil sie von dieser Zeit sehr wenig aus erster Hand
wissen." Tatsächlich wurden Dr. Wolfgang Neugebauer 1944 und Mag. Peter
Schwarz 1966 geboren. Wir haben solche Hinweise bereits während der
Wahlkampagne Kurt Waldheims gehört. Ein Novum ist, dass auch eine
sozialistische Politikerin so etwas von sich gibt. Denn würde man ihr
folgen, dann könnte man fast alle Universitätsinstitute, die sich mit
Geschichte befassen auflösen, schlussendlich welcher heute lebender
Historiker hat Kenntnisse aus "erster Hand" über die Französische Revolution
und das Mittelalter?
Frau Pittermann gehört nicht zu den Sozialisten, die den
Nationalsozialismus weniger schrecklich fanden als den Ständestaat, das ist
schon ein Fortschritt. Doch ihre Behauptung "Man befürchtete, dass die
Partei [SPÖ] von der ÖVP eines Tages wieder so behandelt werden könnte wie
in der Ersten Republik" zeigt, dass Frau Pittermann dies vielleicht aus
"erster Hand" hat, aber auch, dass solche Gefühle der Furcht in der Zweiten
Republik nichts mit der Realität zu tun hatten. Eher soll damit begründet
werden, weshalb so viele Sozialdemokraten nach 1934 ihren Weg zu den
Nationalsozialisten fanden.
Man weiß nicht, soll man weinen oder lachen, wenn man folgende
Bemerkung von Frau Pittermann liest: "Fast alle die im Widerstand waren,
haben irgendwann einmal Hilfe von einem hochrangigen Nazi bekommen, um
überleben zu können."
Die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten
ÖsterreicherInnen dürfte – grob geschätzt auf der Grundlage von
Gestapoberichten und Gerichtsurteilen – in der Größenordnung von etwa
100.000 gelegen sein. Dass fast alle irgendwann einmal Hilfe von einem
hochrangigen Nazi bekommen haben sollen, ist hanebüchen. Die
WiderstandskämpferInnen hatten ihre gesamte Existenz und ihr Leben riskiert,
die Nationalsozialisten hingegen genossen alle Vorteile einer die alleinige
Macht ausübenden Staatspartei. Dass hie und da, insbesondere seit dem es
klar wurde, dass das Dritte Reich untergehen wird, ein hochrangiger Nazi
einem Verfolgten half, wird nicht in Abrede gestellt. Doch soll gerade heuer
an die mindestens 2.700 ÖsterreicherInnen erinnert werden, die als aktive
WiderstandskämpferInnen zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden. Die drei
Gründungsparteien beriefen sich 1945 auf den Widerstand, doch die weitere
politisch-gesellschaftliche Entwicklung Österreichs stand freilich nicht im
Zeichen der WiderstandskämpferInnen und NS-Opfer, sie wurde von der
Generation der Kriegsteilnehmer und ehemaligen Nationalsozialisten
dominiert.
In einem Land, in dem es kaum demokratische Traditionen gab und
das Denken der Mehrheit vielfach autoritär geprägt war, in dem es keine
wirksame antifaschistische Umerziehung oder Umorientierung gab, entstand ein
"Antisemitismus ohne Antisemiten". Es erfolgte keine Aufarbeitung (und
Überwindung) des bestehenden Antisemitismus als Vorurteil, und er wurde
immer wieder – hauptsächlich, aber nicht immer, implizit – als politische
Waffe von Politikern und Medien eingesetzt.
Eine Politik, die nur kurzfristigen taktischen Gewinn zum Ziel
hat, der es an strategischer Vision mangelt, die sich fast immer nur nach
den letzten Meinungsumfragen richtet, die sogar bereit ist noch heute die
Integration von NS-Tätern und weitgehende Kompromisse mit dieser
"Gesinnungsgemeinschaft" zu rechtfertigen muss langfristig scheitern.
Verdrängung, Schuldabwehr bis zur Rechtfertigung von
NS-Maßnahmen bis zur Schuldumkehr charakterisieren das Nachkriegsösterreich.
60 Jahre nachdem 30.000 Alliierte Soldaten nur in Österreich gefallen sind,
um dieses Land von der NS-Herrschaft zu befreien, sollten alle
demokratischen Parteien in Österreich kritisch prüfen, warum die
österreichische Gesellschaft gegen Antisemitismus und
autoritär-rechtsextremistische Tendenzen nicht verlässlich immunisiert ist.
Quellen:
Martin van Amerongen: KREISKY und seine unbewältigte Gegenwart, Styria
Verlag, Graz 1977
Barbara Kaindl-Widhalm: Demokraten wider Willen? Autoritäre Tendenzen und
Antisemitismus in der 2. Republik, Verlag für Gesellschaftskritik Wien, 1990
Wolfgang Neugebauer, Widerstand und Opposition, in NS-Herrschaft in
Österreich, öbv und hpt Wien, 2000.