bundesregierung.de - An Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust darf
nicht mit rechtsradikalen Parolen demonstriert werden. Im Interview mit der
Jüdischen Allgemeinen hat sich Bundeskanzler Gerhard Schröder für ein
verschärftes Versammlungsrecht ausgesprochen. Bei allem Respekt für die
Meinungs- und Demonstrationsfreiheit müsse der Staat die Möglichkeit haben,
derartige Aufmärsche zu verhindern, sagte Schröder.Herr
Bundeskanzler, lieben Sie Kishon?
Ich muss gestehen, dass ich nur wenig von ihm gelesen habe. Aber ich
glaube, dass er als Humorist und Satiriker eine ganz besondere Art hatte,
Alltagsprobleme und zwischenmenschliche Beziehungen zu beschreiben. Sein Tod
ist ein großer Verlust.
Ist es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet ein israelischer Autor
zum Liebling der Deutschen geworden ist?
Das glaube ich nicht. Ephraim Kishon war ein Weltbürger. Er hat sich auf
unnachahmliche Weise mit den Themen beschäftigt, die die Menschen wirklich
erleben. Kishon hatte wohl auch auf Grund seiner Wurzeln und seines
Jüdischseins ein gutes Gespür für die Alltagswelt der Leute. Er verstand
Humor auch als persönliche Lebenshilfe, denn er hat viele Familienmitglieder
im Holocaust verloren.
Können Satire und Ironie hilfreich sein, wenn es um die
deutsch-israelischen Beziehungen geht?
Ja, ich finde durchaus. Weil bei aller Ernsthaftigkeit man durch diese
Form der Herangehensweise einen besonderen Zugang zu den Menschen bekommt.
Denken Sie doch nur an den großen Erfolg der Filmkomödie "Alles auf Zucker".
Und mit den Mitteln der Ironie und Satire hat gerade Kishon sehr viel getan
für das Verständnis zwischen Deutschland und Israel. Ihm ist gelungen, was
er sich wünschte: durch Humor zur Versöhnung beizutragen.
Hat das auch zur Entkrampfung beigetragen?
Mit Sicherheit.
Vor vierzig Jahren wurden erstmals diplomatische Beziehungen
zwischen Israel und Deutschland aufgenommen. Ist das ein Grund zum Feiern?
Ja, ganz eindeutig. Denn die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war
nicht selbstverständlich. Man muss sich ja anlässlich dieses Jahrestages
daran erinnern, wie alles begonnen hat, welche große staatsmännische
Leistung auf israelischer Seite nötig war, um nach dem Holocaust
normalisierte Beziehungen mit der Bundesrepublik überhaupt zu beginnen. Wenn
man die vergangenen vierzig Jahre betrachtet, kann man schon von einer
Erfolgsgeschichte reden. Ich denke, es hat sich erwiesen, dass das
demokratische Deutschland ein guter Freund und Partner ist, der in jeder
Phase an der Seite Israels steht.
Wie normal sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern?
Sie sind normal, wie es die Beziehungen zwischen zwei Ländern auf
staatlicher Ebene sein können. Nur: Jeder weiß natürlich, welchen
geschichtlichen Hintergrund diese Beziehungen haben. Zum besonderen
Verhältnis zwischen Israel und Deutschland gehört auch der Holocaust, die
Kenntnis der Vergangenheit und das Wissen über die Nazi-Verbrechen. Daraus
resultiert für Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber Israel.
Das heißt ja nicht, dass man mit jeder Maßnahme der jeweiligen Regierung
einverstanden sein muss. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es
diese besondere Verantwortung gibt. Und dass es sie geben muss - auch in der
Zukunft.
Auf offizieller Ebene wird immer wortreich betont, wie gut das
Verhältnis zwischen Israel und Deutschland sei. Auf der Straße reden die
Menschen anders.
Das sehe ich nicht so. Die große Mehrheit der Deutschen weiß sehr wohl,
dass die Beziehungen etwas Besonderes sind. Das mag nicht bei jedem so sein.
Aber gerade bei denjenigen, die sich auf politischer, wirtschaftlicher und
kultureller Ebene um ein gutes Verhältnis bemühen, trifft das sicherlich zu.
Wie ist dann zu erklären, dass in Umfragen eine Mehrheit der
Deutschen in Israel die größte Bedrohung für den Weltfrieden sehen?
Ich kenne solche Umfragen nicht. Mich interessiert auch nicht, was wer
wie gefragt haben könnte. Ich halte mich an die Tatsachen. Israel ist die
einzige funktionierende Demokratie in der Region. Und der Staat Israel ist
keine Bedrohung für den Weltfrieden. Aber die Sicherheit Israels ist
bedroht, so lange der Nahost-Konflikt nicht politisch gelöst ist.
Kann aus dem besonderen Verhältnis zwischen beiden Staaten eine
besondere Rolle Deutschlands im Nahost-Konflikt abgeleitet werden?
Ich würde da zur Zurückhaltung mahnen. Die Lösung für den Nahost-Konflikt
kann nur gefunden werden, wenn beide Parteien bereit sind - und danach sieht
es im Moment aus -, zur sogenannten Road Map zurückkehren. Und das heißt,
die herausragende Rolle der USA anzuerkennen. Ich glaube nicht, dass außer
den Vereinigten Staaten irgendjemand in Europa oder in der Welt in der Lage
ist, bei diesem Prozess entscheidend wirken zu können. Die Europäer, die
Deutschen im Rahmen der Europäischen Union, können dabei helfen, und das
werden wir auch tun. Aber wir maßen uns keine Vermittlerrolle an. Das hieße,
unsere Möglichkeiten zu überschätzen.
Hat die Betonung des europäischen Kontextes zur Folge, dass
Deutschland immer mehr seine eigenständige Rolle zugunsten einer
europäischen Nahostpolitik aufgibt?
Ich glaube schon, dass wir entschieden Akzente setzen können. Doch die
Akzente sollen und müssen dazu führen, dass Europa als Ganzes eine Rolle
spielt. Wir befinden uns mitten in der Entwicklung einer gemeinsamen
europäischen Außenpolitik. Deutschland würde sich überschätzen, wenn es den
Anspruch erhöbe, jenseits der EU eine eigenständige Position einzunehmen.
Kann man dann noch von "besonderen" deutsch-israelischen
Beziehungen sprechen?
Natürlich. Es gibt ja neben dem, was die Europäische Union mit Israel
verbindet auch die bilateralen Beziehungen. Und wir haben unsere Aufgabe
immer so verstanden, dass wir innerhalb der EU Verständnis für Israel wecken
wollen.
Zwischen Israelis und Palästinenser deutet sich derzeit eine
vorsichtige Annäherung an. Wie bewerten sie das?
Das ist zunächst zwar "nur" eine Hoffnung, aber eben auch mehr als das,
was wir vor dem Tod Jassir Arafats und dem Wechsel in der palästinensischen
Führung hatten. Die Zeichen der Hoffnung müssen weiter verfolgt werden. Man
darf sich auch nicht entmutigen lassen, wenn es immer wieder zu
bedauerlichen Handlungen von radikalen Kräften kommt, die diesen Prozess
stören wollen. Ich fand Rabins Strategie überzeugend: Man muss verhandeln,
als ob es keinen Terrorismus gebe, aber auch den Terrorismus bekämpfen, als
ob es keine Verhandlungen gebe. Das beschreibt klug, worum es geht.
Aber ist die Gefahr nicht riesig, dass die Terroristen mit ihren
Bomben alles zerstören werden, auch die Hoffnung?
Jetzt gibt es Zeichen der Hoffnung, und Sie wollen sich mit mir darüber
unterhalten, was ist, wenn diese Hoffnungen zerstört werden. Ich würde gerne
darüber reden, was möglich ist, wenn sie sich erfüllen.
Und was passiert dann?
Frieden, jedenfalls die Chance dafür. Es hat doch sowohl in der
Publizistik als auch in der Politik wenig Sinn, sich immer mit der
Alternative des Scheiterns zu beschäftigen. Ich kenne das aus der spezifisch
deutschen Diskussion über Wirtschaft und Innenpolitik. Aber ich bin nicht
bereit, mich auch bei internationalen Themen auf eine Debatte über das
Scheitern einzulassen. Ich bin nicht ins Scheitern verliebt, sondern ins
Gelingen.
Frieden in Nahost - erleben wir das noch?
Das hoffe ich sehr! Eines kann man doch nicht bestreiten: Wenn es um den
Kampf gegen den internationalen Terrorismus geht, spielt der Nahost-Konflikt
eine Schlüsselrolle. In dem Sinne, dass er den Terroristen erlaubt,
Massenloyalitäten - entstanden aus Hoffnungslosigkeit und Radikalisierung -
zu schaffen. Den Nahost-Konflikt zu lösen bedeutet also, dem Terrorismus
Massenloyalitäten zu entziehen. Und das ist wichtig, wenn der Terrorismus an
der Wurzel gepackt werden soll.
Die Lösung des Nahost-Konfliktes hätte Rückwirkungen auf den
internationalen Terrorismus?
Nicht direkt, weil diejenigen, die Gewalt ausüben, den Konflikt ja
taktisch nutzen. Aber diejenigen, die fälschlicherweise ihre Hoffnungen mit
Terroristen verbinden, denen würde es schwerer fallen, den Konflikt für die
Legitimation ihrer passiven Zustimmung zur Gewalt zu nutzen.
Kommen wir zu den Extremisten in Deutschland. Mitglieder rechter
Parteien sitzen jetzt in zwei Landesparlamenten, Vertreter der NPD sprechen
vom "Bomben-Holocaust" und relativieren damit die Schoa - tut die Politik
genug gegen Rechtsextremismus?
Rechte Parteien sind nicht zum ersten Mal in Parlamenten vertreten. Die
deutsche Demokratie war immer stark genug, um solche Erscheinungen zu
bekämpfen. Aber natürlich ist das, was derzeit im Sächsischen Landtag
passiert für jeden Demokraten besorgniserregend. Deshalb sage ich, es geht
um ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Neonazismus und
NPD in Deutschland. Wir müssen erstens in den Schulen weiter aufklärend
wirken. Es muss zweitens gesellschaftlichen Widerstand geben. Und Polizei
und Justiz müssen diese Erscheinungen entschieden bekämpfen. Ich gehöre zu
denen, die nicht akzeptieren wollen, dass an Gedenkstätten für die Opfer des
Holocaust mit rechtsradikalen Parolen demonstriert werden darf. Deshalb bin
ich für ein Versammlungsrecht, das dem Staat - bei allem Respekt vor der
Meinungs- und Demonstrationsfreiheit - die Möglichkeit gibt zu sagen: da
nicht. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Parteien im Bundestag auf eine
Änderung des Versammlungsrechts einigen können.
Und was ist mit einem NPD-Verbot?
Für mich ist die juristische Schlacht um ein NPD-Verbot noch nicht
geschlagen. Ich will, dass meine Regierung jede Möglichkeit nutzt, auch
diesen Verbotsweg zu gehen. Der muss jedoch aussichtsreich sein. Denn eine
erneute Niederlage vor Gericht würde nur der NPD helfen.
Würde es gesellschaftspolitisch etwas nutzen, wenn die NPD
verboten wäre?
Ich glaube, dass der Staat damit ganz klar zeigen würde, was er will und
für richtig hält. Das ist kein Ersatz für die inhaltliche
Auseinandersetzung, aber hilfreich kann das schon sein. Der demokratische
Staat würde dadurch ein eindeutiges Zeichen setzen.
Spielen Leitkultur- und Patriotismus-Debatten nicht den Rechten
in die Hände?
Wenn sie falsch geführt werden, sicher. Für mich ist Patriotismus das,
was ich jeden Tag tue: arbeiten für mein Land. Insofern kann ein Deutscher
Patriot sein. Es gibt für die Definition von Patriotismus keine schönere
Formulierung als die, die Brecht in seiner Kinderhymne benutzt: "Und weil
wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir's. Und das liebste mag's
uns scheinen. So wie andern Völkern ihrs." Diese Definition von Patriotismus
macht deutlich, dass man auf die Leistung des eigenen Volkes stolz ist, dass
man gerne in diesem Land lebt, dass man auch eine emotionale Beziehung zu
dem Land hat, aber ganz genau weiß, dass es anderen mit ihrem Land genauso
geht und dass dies zu respektieren ist. Das ist der Unterschied zwischen
Patriotismus und Nationalismus.
Umfragen zufolge gibt es ein antisemitisches Potential von etwa
zwanzig Prozent in Deutschland. Müssen wir uns damit abfinden?
Nein, das müssen wir nicht. Es kommt immer wieder darauf an, deutlich zu
machen, was die Ursachen von Antisemitismus sind und welche historischen
Konsequenzen es gegeben hat. Was das für Millionen von Juden und für den
Weltfrieden bedeutet hat und weiter bedeutet. Und was es für die Menschen in
diesem Land bedeutet. Man muss bewusst machen, dass jede Form von
Antisemitismus als schlimmste Form des Rassismus friedensgefährdend ist.
Deshalb muss auch mit allem Nachdruck deutlich gemacht werden, dass dieses
Deutschland seine Machtmittel nutzt, um zu schützen, wie es die Aufgabe des
demokratischen Staates ist, und diejenigen zu verfolgen, die antisemitische
Straftaten verüben.
Also können Juden in Deutschland beruhigt sein?
Dass Juden, die hier leben, über solche Erscheinungen beunruhigt sind,
kann ich gut nachvollziehen. Was ich ihnen versichern möchte ist, dass der
Staat an ihrer Seite steht.
Immer wieder wird bekräftigt, dass das jüdische Leben hierzulande
eine Bereicherung sei. Worin besteht diese?
Die Tatsache, dass wir wieder eine der größten jüdischen Gemeinschaft in
Europa haben, ist für uns Grund zur Freude, weil es das religiös-geistliche
und das kulturelle und wissenschaftliche Leben bereichert. Das ist auch der
Grund, warum wir gesagt haben: Die jüdische Einwanderung aus der früheren
Sowjetunion wollen wir. Und dabei bleibt's auch.
Aber unter neuen Vorzeichen?
Weil wir in Deutschland jetzt ein Zuwanderungsrecht gemacht haben, dass
zu den modernsten in Europa gehört. Aber eine Beschränkung haben wir nicht
vor. Ich denke, dass diese Frage auf Grundlage des neuen Rechts ähnlich
liberal gehandhabt werden wird wie auf der des alten Rechtes. Diejenigen,
die bis zum Ende des Jahres 2004, also vor dem Inkrafttreten des neuen
Gesetzes, ihre Bewilligung erhalten haben, werden nach altem Recht
behandelt. Die Innenminister von Bund und Ländern haben vereinbart,
Regelungen auf der Basis des neuen Rechts zu schaffen. Ich gehe davon aus,
dass auch hinter diesen Regelungen der Wille stehen wird, die Möglichkeit
jüdischen Lebens in Deutschland zu stärken und nicht einzuschränken.
Fatales Signal:
Auch Wissenschaftler kritisieren Stoiber
Auch Ökonomen und Wissenschaftler widersprachen Stoibers Äußerung, dass
Arbeitslose in die Arme der NPD flüchten. "Stoiber argumentiert
popularisierend und populistisch. Damit trägt er nicht zu einer Lösung,
sondern zu einer Verschärfung des Problems bei...