Text zur Preisverleihung
Unruhe stiften ist Wolfram Kastners Beruf. Mit seinen
"Interventionen" provoziert der Künstler Diskussion, wo vorher nur
schweigende Stille war, aber nicht selten auch Verbote und sogar persönliche
Bedrohungen.
So wie bei seiner Aktion 1993 in München zur Erinnerung an die
Reichsprogromnacht: Zwei als SAMänner Uniformierte trieben fünf andere mit
einem gelben Stern durch die Fußgängerzone. "Politiker sagten 'Das ist nicht
der Ort für solche Aktionen"', erinnert sich Kastner. "Ich meine, natürlich
ist es der richtige Ort; es begann nicht in Auschwitz, sondern mitten drin."
Die an der Aktion Beteiligten erhielten Anklagen und sogar Morddrohungen.
Kastners Anwalt legte sein Mandat nieder. Er selbst ließ sich nicht
einschüchtern. "Nein, nein, nein", wiederholt er langsam, und seine Stimme
unterstreicht, dass Aufgeben nicht in Frage kommt. "Das hieße Kapitulation."
Doch gezielte Provokation ist nur ein Mittel des 57-Jährigen,
der in München lebt. Er machte politische Bildungsarbeit für Erwachsene,
schrieb ein Buch über Kreativität und gründete daneben einen eigenen Verlag
und eine Stiftung zur Erinnerung an den Sozialdemokraten Kurt Eisner.
Kastner, der Kunst, Germanistik, Psychologie, Soziologie, Kunstgeschichte,
Pädagogik und Politik studierte, malt und fotografiert. Und er macht
Aktionen und Installationen in der Öffentlichkeit zu einem breiten
Themenspektrum von Projekten zur Lage von Asylbewerbern bis zu
antimilitaristischen Aktionen. Sein Ansatz ist eindeutig interdisziplinär.
"Ich will als Künstler nicht der Solotänzer sein, der einzelne Geniale,"
erklärt er. "Ich will Menschen unmittelbar einbeziehen."
Rund 40 waren beteiligt bei seinem letzten Projekt zur
Erinnerung an Deportierte aus dem Münchner Stadtteil
Bogenhausen.
Über ein Jahr forschte und recherchierte die Gruppe. Mit Veranstaltungen und
einer Ausstellung porträtierten sie die Ermordeten nicht nur als Opfer,
sondern als Menschen mit eigener Geschichte. Kastner machte kostenlose
Führungen mit großem Zuspruch und arrangierte eine Installation:
17 weiße Koffer
stellte er auf die Straße, um an 17 deportierte Juden eines Hauses
zu erinnern. 'Wenn die Menschen sehen, es geschah in ihrer Straße, kommt
ihnen das nahe; das löst Aufmerksamkeit aus und sensibilisiert", sagt er.
An Kastners sensible Art erinnert sich Samuel Golde aus München
gut. Als seine Mutter starb, begann der 45-Jährige die Vergangenheit seiner
jüdischen Familie zu erforschen, eine Geschichte von Leid und Vertreibung.
Kastner fuhr mit ihm zwei Mal in die frühere Heimatstadt
Schonungen in Süddeutschland, half ihm Akten zu finden und Zeitzeugen zu
befragen. "Er hat mich sehr einfühlsam begleitet während dieses
anstrengenden und emotionalen Prozesses", erinnert ich Golde. "Es wäre sehr
schwer für mich gewesen, das allein zu machen."
Peter Jordan aus Manchester, der von Kastner zu seinem Leben im
Deutschland der dreißiger Jahre interviewt wurde, sieht ein
charakteristisches Motiv in den Arbeiten des Künstlers: Es ist "sein Wunsch
das individuelle Schicksal jüdischer Menschen zu würdigen" und "die
Erinnerung sichtbar zu machen, an den Orten wo sie lebten und arbeiteten, in
ihrer Nachbarschaft, an ihren Schulen etc.", erklärt Jordan.
Doch damit kein Gras über die Geschichte wächst, hat Kastner
immer wieder die Grenze des Erlaubten getestet. Zur Erinnerung an die
Bücherverbrennungen 1933 fügte er in mehreren deutschen Städten dem
öffentlichem Grün
"Brandspuren" zu oder organisierte Lesungen aus einst verbotenen
Büchern. 'Wenn Kunst auf die Straße geht, ist das riskant, aber auch
spannend, weil die Menschen nicht wie im Museum wissen: ach, ist ja eh nur
Kunst", erklärt er.
Dafür erhält Kastner regelmäßig Anzeigen. Verfolgt wurde er
wegen Aktionen seit 1993 gegen die jährliche Gedenkfeier von SS- Veteranen
auf dem Salzburger Friedhof oder der Interventionen gegen anti-jüdische
Darstellungen an Kirchen wie in Regensburg. Er sprayte das Wort "Judensau",
um auf den kirchlichen Ursprung des von alten und neuen Nazis verwendeten
Schimpfworts hinzuweisen. 'Wolfram fasst die Probleme nicht mit
Samthandschuhen an, sein Ansatz ist schonungslos, direkt und oft mit
persönlichem und finanziellem Risiko verbunden", erklären Inge und Martin
Goldstein, die ihn seit 1995 kennen.
Zivilcourage konnte er sich schon bei seiner Großmutter
abschauen. Mit 14 trat sie illegal in die SPD ein. Später, als ihr Mann 1933
ohne ihre Wissen Mitglied bei der NSDAB wurde, ging sie zum Parteibüro und
gab sein Mitgliedsbuch wieder zurück.
"Meine Großmutter war ein wichtiges Vorbild für mich", sagt er.
'Durch sie habe ich gelernt, du kannst etwas machen und trotzdem passiert
dir nichts."
So macht Wolfram Kastner trotz aller Verbote, Anzeigen und
Morddrohungen weiter. 'Ich hoffe nur, ich werde 130 Jahre alt, so dass ich
alle Projekte verwirklichen kann, für die ich Ideen habe." sagt er.