Jungle World 7 - 16. Februar 2005
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Fällt die Mauer?
Seit zehn Jahren informiert Hagalil über jüdisches Leben. Der
Online-Dienst ist ein Bollwerk gegen Rassismus und Antisemitismus. Nun droht
ihm das Aus.
von markus ströhlein
»Im Moment sieht es zappenduster aus.« Die Stimmung bei Andrea Livnat,
einer der Macherinnen von Hagalil, ist, gelinde gesagt, gedrückt. Denn
Hagalil, Europas größtes deutschsprachiges Internetmagazin zum Judentum,
steht vor dem finanziellen Aus. Weitere Fördergelder aus dem Programm
»Entimon – gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus«, das vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des so
genannten Aufstands der Anständigen initiiert wurde, werden von der
zuständigen Stelle verweigert.
Dabei hatte es sich bei der Sicherung weiterer staatlicher Zuschüsse im
Oktober 2004 nur um eine vermeintliche Formalie gehandelt. Die Betreiber von
Hagalil waren wegen anhaltender Differenzen mit ihrem Förderverein Tacheles
reden e.V. übereingekommen, die Trägerschaft für die Beantragung und
Verwaltung der Fördergelder einem anderen Verein, haGalil e.V., zu
übergeben. Bis dahin hatte sich Tacheles reden e.V. um das so genannte
Interessenbekundungsverfahren gekümmert, mit dem das Ministerium
beziehungsweise Entimon die Bewerber um Zuschüsse ausgewählt hatte. Die
Beamten meldeten bei der Frage eines Trägerwechsels damals keinerlei
Einwände an. Jetzt hat sich die Lage ins Gegenteil gewendet. Sven Olaf Obst,
der zuständige Referent im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, hat die mit der Verwaltung betraute Servicestelle angewiesen, den
Trägerwechsel grundsätzlich abzulehnen.
Die Realität hinter all dem Bürokratensprech ist bitter. Kein Träger,
keine Zuschüsse. Keine Zuschüsse, kein Hagalil. Eine Einigung zwischen
Tacheles reden e.V. und Hagalil, um so zum Zustand vor dem geplanten
Trägerwechsel zurückzukehren, ist nicht möglich. Tacheles reden e.V. hat
mittlerweile die Zusammenarbeit per Einschreiben für beendet erklärt.
Man scheint nicht weiterzukommen. Die Behörde verschanzt sich hinter
Vorschriften. Neben der Problematik des Trägerwechsels verweist man im
Ministerium auch darauf, dass Tacheles reden e.V. nicht Hagalil, sondern
»haOr – Licht. Bildung gegen Antisemitismus« als zu unterstützendes Projekt
angegeben habe. Das ist richtig. Doch ein Blick in die Projektbeschreibung
von haOr genügt, um die Verknüpfung mit Hagalil augenfällig zu machen: »Ziel
des Projekts ›haOr – Licht. Bildung gegen Antisemitismus‹ ist auch im Jahr
2004 die Sicherung und der Ausbau der redaktionellen Tätigkeit von Hagalil.«
Die Förderung von haOr schloss also die Förderung von Hagalil implizit ein.
Ins Feld führen die Beamten um Dr. Obst auch die vermeintliche
Kommerzialität des Internetmagazins. Als Beweismittel dienen auf der Seite
platzierte Werbebanner. Dass Reklame reich macht, kann Livnat jedoch nicht
bestätigen: »Die Werbeeinnahmen durch Banner sind minimal und haben
beispielsweise 2004 nicht annähernd die Prozesskosten abgedeckt, die völlig
unerwartet auf uns zukamen.« Prozesse mussten geführt werden, weil die
Berichterstattung von Hagalil es nicht immer jedem Recht macht.
Dass das Internetportal auch Feinde hat, merkten nicht nur die Betreiber.
In einem Gespräch im Herbst 2003 mit David Gall, einem der Herausgeber von
Hagalil, wies Dr. Obst darauf hin, dass keines der über 3 000 bisher von
Entimon geförderten Projekte in Zuschriften so heftig angegriffen werde wie
Hagalil. Die Menge an Hate-Mails war auch der Grund für die damalige Bitte
Obsts, jegliche Verweise auf Entimon und das Bundesministerium von den
Internetseiten zu tilgen.
Das Problem, vor deutschnationalen Kreisen den Advokaten für ein
jüdisches Internetmagazin spielen zu müssen, hat sich für Dr. Obst mit der
Beendigung des Projekts haOr nun erledigt. Hagalil steht jedoch vor dem wohl
größten Problem seit seiner Gründung. Die vorhandenen Mittel reichen noch
bis März 2005. Die dann zu erwartende finanzielle Not mit Spenden
auszugleichen, scheint für Livnat illusorisch. Denn anders als viele ihrer
bisherigen Gesprächspartner im Ministerium vermuteten, stünden hinter
Hagalil keine »reichen jüdischen Gönner«.
Ehrenamtlich und ohne finanzielle Förderung wird die umfangreiche Arbeit
des Internetmagazins nicht möglich sein. Seit der Gründung im Jahr 1995
gelang es den Betreibern, ein massives Gegengewicht zum antisemitischen und
nazistischen Angebot im Internet zu schaffen und Judenhasser, Revisionisten
und sonstige Hasspropagandisten von den höheren Rängen der Suchmaschinen zu
verdrängen. Im Jahr 2004 wurden ungefähr 3 500 Artikel veröffentlicht. Die
Chaträume waren 1 800 Stunden geöffnet. In den Büros in München und Tel Aviv
wurden 2 200 Anrufe angenommen. Von 4 000 bei Hagalil gemeldeten
Internet-Seiten mit potenziell strafbarem antisemitischem oder
volksverhetzendem Inhalt wurden 120 zur Anzeige gebracht. Wie wirksam die
Berichterstattung sein kann, zeigte 2003 unter anderem der Fall Martin
Hohmann, auf den zuerst Hagalil aufmerksam machte.
Von den momentan 237 von Entimon geförderten Projekten befassen sich zwar
einige mit Antisemitismus, Hagalil ist jedoch das einzige, das an effektiven
Gegenstrategien zu rechter Propaganda im Internet arbeitet. »Hundert Seiten
Wahrheit gegen jede NS-Seite«, dieses Prinzip wird, auch wenn die Betreiber
von Hagalil ihren Dienst keinesfalls einstellen wollen, ohne staatliche
Finanzierung nicht aufrechtzuerhalten sein. Dann könnten in Fragen jüdischen
Lebens wieder das Nationaljournal, das Deutsche Kolleg und Horst Mahler die
Definitionsmacht im Internet übernehmen.