Kaufhauskönig Salman
Schocken:
Eine jüdische Heldensaga
Salman Schocken ist in Deutschland nahezu
vergessen, dabei war er in der Weimarer Zeit eine allseits bekannte Größe.
Hannah Arendt bezeichnete ihn als "jüdischen Bismarck" - er selbst sah sich
eher als Kulturpapst. Das Geld, das er mit den Schocken-Kaufhäusern
verdiente, investierte er in Kultur: Er sammelte jüdische Texte, betätigte
sich als Forschungsmäzen und Verleger. 1938 wurde der Berliner
Schocken-Verlag geschlossen. Schocken emigrierte nach Israel. Nun ist in den
USA eine Biografie dieser schillernden Persönlichkeit erschienen.
Von Amon Elon
Im Rahmen
einer Vortragsreihe über Nationalismus, die ausgerechnet in Belfast
stattfand, entwarf der englische Historiker Eric Hobsbawm vor einigen Jahren
die Figur eines "intergalaktischen Historikers", der nach einem Atomkrieg,
bei dem alles Leben auf der Erde ausgelöscht wurde, auf unserem Planeten
landet. Da die Kriegsparteien dank ihrer technologisch fortgeschrittenen
Waffensysteme zwar die Menschen, nicht jedoch ihr Hab und Gut vernichtet
haben, macht sich unser Weiser auf, in den Bibliotheken und Archiven nach
den Ursachen der Katastrophe zu forschen.
Ich stelle mir
vor, wie er nach Weimar kommt und in Herders Bibliothek herumstöbert oder in
den Bücherbeständen Garibaldis auf der Sardinien vorgelagerten Insel Caprea,
denn dort verbrachte der italienische Nationalheld die letzten Jahres seines
Lebens in einem Haus, das ihm einen Ausblick nicht in Richtung Italien,
sondern auf das französische Korsika gewährte, weil er, wie mir einst ein
Fremdenführer erläuterte, nicht mehr daran erinnert werden wollte, was seine
Landsleute nach seinem Rückzug von der politischen Bühne aus dem Land
gemacht hatten. Am Ende seiner Nachforschungen, schreibt Hobsbawm, dürfte
der intergalaktische Historiker zu dem Schluss kommen, dass der Totengräber
unseres Planeten "der Nationalismus" gewesen sei.
Vielleicht wäre unser Historiker auch nach Jerusalem gekommen, in die
Hauptstadt eines Landes, das sich aufgrund seiner eigenen wie der Interessen
seiner Nachbarvölker in einem nahezu permanenten Kriegszustand befindet und
von dem die BBC im letzten Jahr erst berichtet hat, dass es 200
Atomsprengköpfe und sogar einige Wasserstoffbomben besitzt. Vielleicht wäre
er auch die Balfour Street entlanggegangen, die nach dem britischen
Staatsmann benannt ist, der 1918 im Namen der königlichen Regierung
versprach, man werde die Gründung einer "nationalen Heimstätte" für das
jüdische Volk in Palästina "mit Wohlwollen betrachten", allerdings unter dem
paradoxen Vorbehalt, dass nichts geschehen solle, was "die Rechte der dort
bereits lebenden Araber beeinträchtigen" würde.
Die Balfour Street ist eine ruhige Straße mit viel Grün; sie verläuft mitten
durch eines der gehobenen Wohnviertel der Stadt. Zur Linken könnte unser
Historiker den Amtssitz des israelischen Ministerpräsidenten erblicken,
einen kalten, abweisenden Klotz aus Stein und Eisenbeton, der eher wie ein
Bunker oder eine Festung anmutet: mit Wachtürmen an jeder Ecke, mit Fahnen,
Scheinwerfern und schwer bewaffneten, grimmig aussehenden Wachen, die
ständig etwas in ihre Walkie-Talkies flüstern. Unmittelbar gegenüber und in
scharfem Kontrast zu diesem düsteren Anblick, sähe unser intergalaktischer
Historiker dann ein wahres Juwel der Bauhaus-Architektur: die überaus
elegante, wohlproportionierte Fassade der Schocken-Bibliothek. Entworfen
wurde dieses Gebäude 1934 von Erich Mendelsohn, einem Flüchtling aus
Nazi-Deutschland, der in den 20er-Jahren durch den Potsdamer "Einsteinturm"
international berühmt wurde. Bei seinem Entwurf der Außenfront der
Schocken-Bibliothek ließ sich Mendelsohn von der offenen Landschaft
inspirieren, die 1935 die Stadt noch umgab - von den endlos in die Tiefe
gestaffelten kahlen Bergkuppen und den sanften Konturen der arabischen
Dörfer, die damals noch auf den Hügeln saßen und dem Auge zumindest aus der
Ferne einen überaus harmonischen Anblick boten.
Von Mendelsohn stammen auch die Details im Innern der Bibliothek: elegante
Treppengeländer und Türklinken aus Stahl, Bücherregale aus hellem
Zitrusholz, Tische, Stühle und Schirmständer, aber auch vom Bauhausstil
inspirierte Wasch- und Toilettenräume und eine Mesusa (1).
Der gesamte Bibliotheksbau mit seinen klaren Linien, seinen aus rosafarbenen
Jerusalemer Sandsteinquadern gefügten Mauern und den elliptisch nach außen
gewölbten Fensterfronten und verglasten Treppenhäusern dürfte zu den
bemerkenswertesten Gebäuden der Stadt zählen.
Der Auftrag für den Bibliotheksbau stammte von einem anderen deutschen
Flüchtling. Der (damals) 58-jährige Salman Schocken war ein echter
Selfmademan, der es im Deutschland der Zwischenkriegszeit nicht nur zum
Kaufhauskönig gebracht hatte, sondern mit seiner weitgehend autodidaktischen
Bildung auch zum Büchersammler, Verleger und Philanthropen. Als Genie des
Handels mit Massenware hatte Schocken ein immenses Vermögen gemacht, das er
in seine säkulare Vision investierte: dass Juden in ihrer eigenen nationalen
Heimat leben sollen. Zur gleichen Zeit, 1935, kaufte er die bankrotte
Tageszeitung Haaretz als Hochzeitsgeschenk für seinen ältesten Sohn Gustav.
Das Blatt ist noch immer im Besitz der Familie, heute wird es von seinem
Enkel, Amos Schocken, geleitet und ist eine - häufig einsame - Stimme der
Vernunft in einem schwer traumatisierten Land.
Salman Schocken war ein rundlicher Mann von kleiner Statur, mit einem
massigen Nacken und einem auffallend mächtigen Kahlkopf. Sein 1931
gegründetes dreisprachiges Verlagshaus - anfangs mit Sitz in Berlin,
Jerusalem und Tel Aviv, bald auch mit Sitz in New York - war auf moderne
hebräische Literatur und Judaika spezialisiert, aber sein kostbarstes Gut
waren die Rechte am Gesamtwerk von Franz Kafka. Der Beitrag, den Schocken
zum säkularen jüdischen Nationalismus und zur kulturellen Identität Israels
geleistet hat, lässt sich kaum ermessen. Ohne seine mäzenatischen
Aktivitäten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die heute
erreichte Blüte der modernen hebräischen Literatur kaum vorstellbar. Salman
Schocken verkörperte, so berichtet sein Sohn Gustav, eine seltsame Mischung
aus strengem Haustyrannen und fürsorglichem Vater, aus hartem Geschäftsmann
und verträumtem Romantiker, aus preußischer Disziplin und hingebungsvoller
Liebe zur Poesie. Er war assimiliert und in mancher Hinsicht "deutscher" als
viele Deutsche. Aber er war zugleich ein stolzer säkularer Jude. Politisch
bekannte er sich zum liberalen Lager und zuweilen sogar fast zu einem
strengen Pazifismus. "Jahrtausende von Tinte, nicht Blut und Boden, hatten
die Juden zu einer Nation geschmiedet", meinte er einmal. Den Bemühungen von
Brit Schalom (2), eine fairen Ausgleich zwischen
dem jüdischen und dem palästinensischen Nationalismus herbeizuführen,
brachte er Sympathien entgegen, doch er hat sich in dieser Gruppe nie aktiv
engagiert.
Über Salman Schocken, der maßgeblich an der Erfindung des säkularen
jüdischen Nationalismus mitgewirkt hat, liegt jetzt die vorzügliche
Biografie von Antony David vor.(3) David schreibt
mit Verve und psychologischem Gespür, kritisch und sardonisch, aber auch mit
einem klugen Blick für die oftmals extremen Widersprüche in der
Persönlichkeit vom Salman Schocken. Dieser war, bemerkt er zum Beispiel,
"ein kosmopolitischer Jude in einer Zeit, da die Geschichte die Juden
gezwungen hatte, eine Nationalflagge zu hissen und sich dem neuen jüdischen
Staat anzuschließen". Er war der Inbegriff des deutsch-jüdischen
Liberalismus, "ein Symbol der deutschen Juden (und) ihrer erstaunlichen
Vitalität". Die eigentliche Religion deutscher Juden wie Schocken war das
bürgerliche Bildungsideal. Sie richteten all ihr intellektuelles und
politisches Bemühen in Deutschland - später auch in Israel - darauf, den
Patriotismus zu zivilisieren, in einem auf Gesetzen, nicht auf Blut
gründenden Staat, einer Gesellschaft, die man heute als offen,
verfassungspatriotisch und multikulturell bezeichnen würde.
Die entscheidende Rolle der Sprache für die Begründung des modernen
Nationalismus war Schocken bewusst. Er sprach zwar selbst nicht gut
Hebräisch, konnte die Sprache aber fließend lesen. Seine Bibliothek in der
Balfour Street errichtete er zu einer Zeit, als es noch keinen israelischen
Ministerpräsidenten gab. Sie beherbergte seine riesige Sammlung klassischer
hebräischer und deutscher Texte, gebundene Bände wie Originalmanuskripte aus
allen Epochen, Werke führender moderner Autoren wie auch wertvolle
Autografen, Erstausgaben, unschätzbare hebräische Inkunabeln (von 100 noch
erhaltenen Exemplaren solcher frühen Drucke konnte er 40 für seine Sammlung
erwerben) und 3 000 Textfragmente aus dem 12. Jahrhundert, die man in der
Genisa (4) der Kairoer Synagoge gefunden hatte.
Ferner umfasste die Bibliothek die bedeutendsten Werke von Goethe und
Maimonides (5), Schiller und Sabbatai Zwi (6),
Schopenhauer, Nietzsche, Meister Eckhart und Spinoza, Freud, Heine und Karl
Kraus, Feuchtwanger und Wolfskehl. Dazu die Werke des Rabbi von Bratzlaw und
anderer legendärer chassidischer Rabbis, die dank der "Sentimentalität von
Martin Buber", den Schocken seit den Zwanzigerjahren finanziell unterstützt
hatte, der Vergangenheit entrissen worden waren. Zu der Bibliothek gehörten
natürlich jene Werke, die Schockens eigenen geistigen Horizont geprägt
hatten, wie Goethes "Faust II" (Thomas Mann soll Schocken zu den wichtigsten
Goethe-Kennern gezählt haben), Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" und
Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung". Schocken besaß des
Weiteren eine wundervolle Sammlung von Originalhandschriften: den "Faust",
die Notizen von Karl Kraus zu "Die Letzten Tage der Menschheit" und Heines
letztes Testament, das er auf seinen vielen Reisen immer bei sich trug.
Heine, der jegliche organisierte Religion hasste und sich eine Messe oder
ein Kaddisch zu seiner Beisetzung verbat, war Schockens
Lieblingsschriftsteller. Seine Totenmaske stand auf dem Schreibtisch in
Schockens privatem Arbeitszimmer über der Bibliothek. An den Wänden hingen
Gemälde von Chagall, Toulouse-Lautrec und Liebermann, dazu Stiche von Dürer
und Rembrandt. Dass er einen der führenden Architekten der europäischen
Avantgarde mit dem Bau der Bibliothek betraute, war kein Zufall. Die
Warenhauskette Schocken - mit 110 Millionen Mark Jahresumsatz und 6 000
Angestellten damals eine der größten Europas - war nicht nur hinsichtlich
moderner Marketingverfahren ein Pionierunternehmen, sondern auch im Hinblick
auf modische Kleidung und modernes Design bei Haushaltsgeräten und
Ausstattungsgegenständen - von Kaffeekannen bis zu Schlafzimmermöbeln. Kurz
bevor Hitler an die Macht kam, hatte Mendelsohn zwei der neuesten und
größten Schocken-Kaufhäuser in Stuttgart und Chemnitz gebaut; das Letztere
galt allgemein als "das schönste Beispiel moderner Architektur in
Deutschland".
Auf der Suche nach dem
jüdischen Nibelungenlied
Schocken war es
gelungen, seine Bibliothek - gerade noch rechtzeitig - von ihrem früheren
Standort in einer großen Berliner Villa nach Jerusalem zu schaffen. Damit
hoffte er, auf seine Weise die gescheiterte deutsch-jüdische "Symbiose" in
der jüdischen Heimstätte bewahren zu können oder ihr zumindest einen Ort der
Erinnerung zu schaffen. Die Bibliothek war seine "Autobiografie", wie er
mehrfach formuliert hat. Aber sie war noch weit mehr. Schocken war der Sohn
eines armen, ungebildeten Kramladenbesitzers in Margonin, einem elenden
Flecken in der Provinz Preußen nahe der russischen Grenze. Dort entstand
damals angesichts des aufkommenden modernen Antisemitismus ein - am Vorbild
der Tschechen und Polen orientierter - jüdischer Nationalismus, der, wie
auch der polnische und tschechische, stark von der deutschen Romantik
beeinflusst war.
Schocken war zeit seines Lebens Zionist, wenn auch einer der exzentrischen
Art. Trotz seiner liberalen Grundhaltung gehörte er einer Generation an, die
mit der Mythologie der Nibelungen - zumal in ihrer Wagnerschen Prägung -
aufgewachsen war, und die übertrug er nun, wie wir sehen werden, auf sein
zionistisches Credo. Die damals vorherrschende zionistische Sehnsucht nach
"Authentizität" ließ ihn unberührt. Für ihn war der Zionismus "Deutschlands
wertvollstes Geschenk an die Juden". Ihm ging es nicht um die "Rückkehr" zu
einem hermetischen "authentischen" Judentum. Er wollte unbedingt ein Mann
der Zukunft sein, der die uralten Glaubenssätze und Gebräuche weit hinter
sich lässt. In sich abgekapselte Kulturen waren für ihn ebenso sinnlos wie
Zollschranken gegen überlegene englische Textilprodukte. Die Schriften
Herders und Fichtes "Reden an die deutsche Nation" hatte er verschlungen,
und er übertrug ihre Aussagen, wie andere, gleich gesinnte Zionisten, auf
die Situation der Juden. Er setzte dreißig Jahre seines Lebens - und ein
kleines Vermögen - daran, das zu fördern, was er als Grundvoraussetzung
jeder erfolgreichen Nationalbewegung ansah: eine nationale Literatur, die
sich aus der Sprache und einem Fundus von Legenden und Mythen speist.
Deutsche und Juden hatten, wie Schocken meinte, eine Menge gemeinsam: Auch
Deutschland entbehrte im 18. Jahrhundert eine fest gefügte nationale
Identität und war infolgedessen politisch machtlos geblieben. Aber zur
Kompensation "hatten sie ihre Bücher gehabt". Nach seinem Empfinden hatte
Bismarck nur die Bäume geschüttelt, welche die Dichter gepflanzt hatten.
Solche Bäume wollte Schocken in Palästina auch für die politisch machtlosen
Juden pflanzen. Idealerweise schwebte ihm vor, wie David schreibt, dass
"deutsche Literaten sich in Produzenten von nationalen Mythen und Epen für
die neugeborene hebräische Sprache verwandeln sollten". Jenseits der
politischen Sphäre war Schocken ein echter, ja ein leidenschaftlicher
Bücherwurm. Das moderne Hebräisch sah er als eine junge, unausgegorene
Erfindung von Intellektuellen - hierin dem moderne Griechisch ähnlich -, die
kulturell nicht wirklich verwurzelt war. Die Hauptaufgabe bestand aus seiner
Sicht darin, dieser Sprache einen Vorrat von Mythen und Epen zu verschaffen.
Antiquariate in ganz Europa kannten sein Interesse an lange ignorierten
jüdischen Mythen und Legenden. So war er in der Lage, zuvor unbekannte
bedeutende Werke der mittelalterlichen spanisch-hebräischen Dichter Ibn Esra
und Jehuda Halewi zu erwerben wie auch den einzigen komplett erhaltenen
Diwan von Ibn Gabirol aus dem 12. Jahrhundert.
Er hatte den Ehrgeiz, Wissenschaftler zu finden, die aus diesen noch kaum
erforschten Schätzen einen nationalen Mythos ans Licht heben würden.
Berühmte jüdische Gelehrte und hebräische Schriftsteller, unter ihnen der
spätere Nobelpreisträger (1966) Samuel Josef Agnon, der Kabbalaforscher
Gerschom Scholem, der die Kabbala für den Westen wiederentdeckt hat, oder
Martin Buber, der den osteuropäischen Chassidismus in Deutschland
popularisierte - und zeitweise noch viele andere -, bezogen von Schocken
jahrelang finanzielle Zuwendungen.
Seine wichtigste Entdeckung war Agnon, den er schon in den Zwanzigerjahren
als "meinen Schriftsteller" apostrophierte. Schocken war überzeugt, dass
Agnon große Epen verfassen würde, die andere Autoren sich dann zum Vorbild
nehmen könnten. Er tat alles, um ihn zu unterstützen, finanziell wie auch
anderweitig - bemühte sich, Agnons intellektuellen Horizont zu erweitern,
indem er ihm Bücher und Literaturzeitschriften schickte und ihn während
eines Besuchs in Deutschland in Theatervorstellungen oder in Museen mitnahm
und mit Wagners Opern vertraut machte. Er brachte ihn dazu, Shakespeare,
Kafka, Meister Eckhart, Goethe und Heine, Dostojewski und Thomas Mann zu
lesen. Er versuchte hartnäckig, jedoch vergeblich, Agnon von seiner
Frömmigkeit abzubringen. Der dankbare Agnon wiederum pries seinen gestrengen
Gönner als "Experten für Deutschland und deutsche Weisheit", aber in seine
preisgekrönte Prosa schmuggelte er listig nicht das moderne Hebräisch,
sondern das alte Idiom der Mischna (7) und des
Talmud hinein. Immer wieder wurde er von Schocken streng zurechtgewiesen,
wenn er seinen Namen für radikale ultranationalistische Forderungen hergab -
auch das vergebens. Der Mäzen versorgte "seinen Dichter" nicht nur mit einem
lebenslangen Stipendium, sondern auch mit Papier, Konserven, Anzügen,
Unterwäsche und Möbeln aus seinen Kaufhäusern. Anfang 1937 startete er eine
intensive internationale Kampagne (8), wobei er
sich um die Unterstützung von Thomas Mann, Hermann Hesse, Arnold Zweig, Max
Brod und des schwedischen Oberrabbi bemühte, die Agnon schließlich
tatsächlich den Nobelpreis verschaffte. Er ließ sogar Dr. Kaplan-Kogan, den
Repräsentanten der Hebräischen Universität in Stockholm, zu einem Gespräch
nach Jerusalem einfliegen.
Im Hauptflügel der Bibliothek von Tel Aviv brüteten die Mitarbeiter von
Schockens Institut für das Studium hebräischer Poesie über ihren Beständen
mittelalterlicher und vormittelalterlicher jüdischer Dichtung, oder sie
entzifferten Manuskripte, die aus der kurz zuvor entrümpelten Genisa von
Kairo stammten. Ihr Ziel war es, einen Text zu entdecken, der sich - wie
Schocken mit Inbrunst hoffte - als eine Art jüdisches Nibelungenlied
herausstellen würde. Immer und immer wieder hielt er seine Archivare an,
noch gründlicher zu suchen und neue Quellen zu erschließen. Es musste
einfach existieren, früher oder später würden sie zwangsläufig darüber
stolpern. Er war überzeugt, dass man - so wie die Nibelungensage oder die
Märchen der Brüder Grimm, die ein Stück des kulturellen Fundaments der
deutschen Identität ausmachten - ein ähnlich bedeutsames Werk für den
Zionismus in der hebräischen Dichtung des 6. oder vielleicht auch des 10.
Jahrhunderts, in der Kabbala oder in den Legenden der Chassidim finden
könnte. Martin Buber hatte ihn als Erster mit den Lehren des Rabbi Nachman
von Bratzlaw bekannt gemacht. Der große chassidische Zaddik (Heilige) hatte
sich als eine Art protozionistischer Pilger ins Heilige Land aufgemacht und
auf eine Tikkun (Restauration) gesetzt. Bubers populäre "Geschichten vom
Rabbi Nachman", die er gesammelt und zusammen mit seiner Frau - einer
bayerischen Katholikin - in eine neue Fassung gebracht hatte, gehörten zu
Schockens Lieblingsbüchern. Solche farbigen Legenden würden, so glaubte er,
entfremdete junge Juden wahrscheinlich dazu bringen, sich der spirituellen
Essenz ihrer "Vorväter" zu versichern.
In einem anderen Flügel der Bibliothek waren Gerschom Scholem, der beste
Kenner des jüdischen Mystizismus, und seine Mitarbeiter mit einem anderen
bahnbrechenden Projekt beschäftigt. Sie erforschten erstmals historisch wie
philologisch die religiöse Tradition, die man seit der Aufklärung als eine
Art schwarze Magie abgetan hatte: die Kabbala. Dabei kam Scholem zu ganz
neuen Erkenntnissen, von denen manche später tragischerweise von
gewalttätigen religiösen Fanatikern unter den Siedlern der
Gusch-Emunim-Bewegung (9) im Westjordanland falsch
interpretiert wurden. Scholem selbst war darüber äußerst verbittert und
enttäuscht. Einige dieser Siedler hatten sogar, wie in einer neuen Version
der Geschichte vom "Zauberlehrling", zu Scholems besten Schülern an der
Hebräischen Universität in Jerusalem gehört. Sie redeten sich ein, ihr
Lehrer Scholem gehe ebenfalls davon aus, dass die Ankunft des Messias
unmittelbar bevorstehe.
Besonders einflussreich war in diesen Kreisen Scholems Buch "Erlösung durch
Sünde". Darin beschreibt er den im 18. Jahrhundert auftretenden falschen
Messias Jakob Frank als einen perversen und skrupellosen Zyniker, kommt aber
gleichwohl - ganz dialektisch - zu dem Schluss, Franks Taten seien letztlich
der Versuch einer ehrenwerten, wenn auch irregeleiteten protozionistischen
Rebellion gegen die Demütigungen, die Juden in ihrer Geschichte hatten
erdulden müssen. Die gewaltbereiten Siedler fühlten sich in den
Siebzigerjahren vor allem durch Scholems Aussage bestätigt, dieser Jakob
Frank habe "die erlösende Kraft der Gewalt zum Mittelpunkt seiner Utopie"
gemacht. Eine derartige Wendung der Dinge hatte weder Schocken noch Scholem
dreißig Jahre zuvor voraussehen können. Schocken selbst hatte mit
Mystizismus nicht viel im Sinn, abgesehen von seiner Hoffnung, die
weitgehend unbekannten, gehaltvollen kabbalistischen Texte könnten sich als
reiche Quelle nützlicher Legenden und Dichtungen erweisen. Er bestand
lediglich darauf, dass die Veröffentlichungen "seiner Forscher" allgemein
verständlich formuliert waren.
Persönlich war Schocken ein Einzelgänger, der Kontakte mit anderen Menschen
scheute. Seine Kaufhäuser leitete er gleichsam per Fernsteuerung, mit Hilfe
seine außerordentlich fähigen Direktoren, an deren Spitze ein Generalmanager
mit dem denkwürdig symbiotischen Namen Siegfried Moses stand. Schocken
sprach zwar nur selten mit seinen einfachen Angestellten, aber er sorgte für
ein gutes Betriebsklima, indem er seiner Belegschaft zum Beispiel Ferien in
Sommerlagern, eine Gesundheitsversorgung, Eigenheimkredite und andere
Vergünstigungen gewährte. (Einige seiner leitenden Angestellten hielten auch
nach der erzwungenen "Arisierung" seiner Kaufhäuser die ganze Nazizeit
hindurch zu ihrem ehemaligen Chef.) Bei der Auswahl der Angestellten für
seine neuesten Warenhäuser beschäftigte er üblicherweise auch Grafologen.
Viele Stunden täglich verbrachte Schocken zu Hause, ganz allein mit seinen
Büchern. Dann war es den Mitgliedern seiner Familie streng verboten, ihn zu
stören. Martin Buber hat ihn kaum verhüllt in einem Gedicht karikiert, das
ein Loblied auf die Bücherliebe singt:
Der Verkehr mit Büchern ist zu loben
Willst du, bleibst du unablässig droben
Und musst nicht, bist du menschbeflissen,
Um das Allzumenschliche wissen.
Gewisse Universitätskreise in Jerusalem erregten sich darüber, dass einer,
der eigentlich ein "Ladenbesitzer" war, ernsthafte Gelehrte zu engagieren
vermochte, um sich zum Dekan "seiner eigenen Philosophischen Fakultät" zu
machen. Aber Schocken störten solche Angriffe und Seitenhiebe nicht. Seit er
als junger Mann mit Jacob Burckhardts "Kultur der Renaissance" im Gepäck
durch Italien gereist war, sah er sich als einen Kaufmannsprinzen der
Renaissance, als Mann der Zukunft und Mäzen der Künste. Wenn seine Kritiker
mit ihm ins Gespräch kamen, waren sie oft überrascht von den umfassenden
wissenschaftlichen Kenntnissen, über die er selbst in Detailfragen ihres
eigenen Forschungsgebiets verfügte.
Viele Leute waren hinter seinem Geld her. Etliche nahmen es, ohne dafür eine
Gegenleistung zu erbringen. Wie viele Philanthropen wurde er mit Lob
überschüttet, und an seinen Geburtstagen ergingen sich die Empfänger seiner
großzügigen Gaben in öffentlichen Lobeshymnen. Leo Baeck, der bekannteste
deutsche Reformrabbiner, pries seine Fähigkeit, "abstraktes Denken mit
messianischer Fantasie" zu verbinden. Felix Rosenblueth, später Israels
erster Justizminister, erklärte Schocken zu einem "Geschäftsmann, der die
Kunst in seiner Seele trägt". Gerschom Scholem feierte ihn als einen
"mystischen Kaufmann" und irgendwann sogar als "unseren Don Quichotte des
Düsenzeitalters". Es gab aber auch Leute, die sich an seiner steifen
preußischen Art oder an seinem pedantischen Verhältnis zum Geld störten. Er
verlangte zum Beispiel täglich schriftliche detaillierte Bilanzen über jeden
ausgegebenen Pfennig, und zwar von seinen Forschern wie von seinem eigenen
Sohn, der an einer englischen Universität studierte. Seine Kinder erzog er
zur Genügsamkeit. Er ließ sie kurze Hosen tragen, die ihnen bis über die
Knie reichten, weil sie sonst, wie er Bekannten erklärte, zu schnell aus
ihnen herausgewachsen wären. Noch im Alter von vierzig oder fünfzig Jahren
ließ er seine Söhne in der Bibliothek antreten, wo sie sich dann lange Reden
über die Geschichte und das Leben anhören mussten.
In meiner Zeit als Europakorrespondent von Haaretz bestellte er mich einmal
in sein Appartement im Züricher Baur-du-Lac-Hotel und hielt mir einen
Vortrag darüber, was alles im soeben gegründeten gemeinsamen europäischen
Markt schief lief oder nicht funktionieren würde. Als ich ihn nach etwa
einer Stunde mit einer kurzem Bemerkung unterbrach, fuhr er mich an: "Zum
Donnerwetter, lassen Sie mich doch ausreden!" Anschließend lud er mich zum
Essen ein, wo er bei französischen Austern und einer Flasche erlesenen Weins
seinen Vortrag fortsetzte.
Manche Leute machten Witze über seine angebliche Überzeugung, dass in seinem
Büro der Weltgeist residiere. Laut seinem Biografen Antony David war er
unbeirrbar der Ansicht, dass "die Geschichte letzten Endes einen Sinn hat".
Einige spotteten auch über die "überholten Begriffe, die er in seiner Jugend
aus seinen Büchern aufgeschnappt hatte", oder über seine an Goethe
orientierte Ethik der ständigen Weiterbildung und seinen bombastischen
Begriff des "Willens". Hannah Arendt, die viele Jahre später Mitte der
1940er-Jahre in seinem New Yorker Verlagshaus für ihn gearbeitet hat und ihn
vergeblich bekniete, Walter Benjamin oder T. S. Eliot zu publizieren, nannte
ihn den "jüdischen Bismarck".
Als er aber endlich bereit war, T. S. Eliot zu empfangen, bat er diesen nur
kurz in sein Büro und komplimentierte ihn schnell wieder hinaus. Schocken
war einfach nicht an ihm interessiert. Hannah Arendt hat diese Episode in
einem Brief an Scholem geschildert. Woraufhin Scholem in seiner Antwort
versprach, ihr "gratis und franko" eine Analyse des "bemerkenswerten
Charakters" Schockens zu schicken. Aber das ist nie geschehen.
Schocken war ein Mann von erstaunlicher Begabung, umfassender Bildung und
gutem Geschmack. Dank seiner konsequenten Disziplin, seinem Fleiß,
unermüdlicher Arbeit - und einer unbändigen Fantasie - hatte er sich vom
Handelsvertreter, der die trostlosen, im Ruß erstickenden Industriestädte
Sachsens bereiste, zum Leiter eines riesigen Unternehmens hochgearbeitet. Da
er im Alter von vierzehn Jahre von zu Hause weggegangen war und nur ein paar
Jahre Volksschule absolviert hatte, hat er sich praktisch alles selbst
beigebracht. Sein erstes Bildungsmittel war ein Literaturführer mit dem
Titel "Lesen und Selbstbildung", der die Vorzüge von "Charakter" und
"Bildung" pries - ein ziemlich aufgeladener, von Goethe popularisierter
Begriff, der für die Weiterentwicklung des Individuums gemäß den Idealen der
Aufklärung steht.
Von frühester Jugend an verschlang Schocken Bücher, zunächst die Klassiker
wie Dostojewski, Ibsen, Kierkegaard, Strindberg, Hegel, Hölderlin und
Kleist, anschließend John Stuart Mill, Adam Smith und den englischen
Ökonomen F. W. Taylor, Vater des so genannten Taylorismus, also der Theorie
und Praxis "wissenschaftlicher Betriebsführung". 35 Jahre später, als Hitler
an die Macht kam, besaß Schocken die größte private Kaufhauskette in
Deutschland. Seine vierzehn Filialen führten relativ preiswerte, aber
hochwertige Textilien und andere Waren. Schockens Kaufhäuser hatten auch
Bücher im Angebot, allerdings niemals Schundromane, und sie dürften die
Ersten gewesen sein, die Restauflagen aufkauften und zu herabgesetzten
Preisen anboten.
Seine Kaufhäuser haben den Alltag der Konsumenten so sehr verändert, dass
sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in mehreren Romanen
erwähnt wurden. Der Schlüssel zu diesem Erfolg war eine zentralisierte
Auftragsvergabe, was den Ankauf großer Mengen derselben Ware möglich machte,
sowie die Produktion von Modellen aus dem eigenen Hause und von Massenmode.
All dies ermöglichte einen schnellen Umschlag des Kapitals. Dabei war
Schocken seinen Konkurrenten oft einen Schritt voraus. Seine Kaufhäuser
waren die ersten, die gezielt Kunden aus der unteren Mittel- und der
Arbeiterklasse gewinnen wollten. In den Kleinstädten und den Armenvierteln
von Sachsen bot er gut geschnittene, ja sogar modische Kleidung für Leute,
die der Markt zuvor gar nicht berücksichtigt hatte. In kleineren
Industriestädten mit einer Einwohnerzahl zwischen 80 000 und 100 000 hatten
die Angehörigen der Mittelklasse bis dato ihre Kleider bei Näherinnen oder
Modeateliers bestellt.
Mit der Kaufhauskette Schocken wurde das anders. "Erstmals hatten auch
Arbeiter die Auswahl zwischen sehr unterschiedlichen Farben und Modellen,
und dies zu erschwinglichen Preisen. Der Anblick von Bergarbeitern mit
Spazierstöcken, begleitet von ihren Frauen in prächtigen, elegant sitzenden
Kleidern, erregte so viel Aufsehen, dass die örtlichen Zeitungen darüber
schrieben." Mit einer klugen Expansionsstrategie begann Schocken die
Großstädte und das Marktsegment der Mittelklasse zu erobern - in Stuttgart,
Nürnberg, Leipzig und Chemnitz. Kurz bevor Hitler an die Macht kam, wurde
auch am Berliner Leipziger Platz ein Schocken-Kaufhaus eröffnet, das als
erstes Warenhaus sogar eine Lebensmittelabteilung hatte.
Schocken gehörte anfangs zu den sprichwörtlichen Ostjuden, einer aus der
"Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge, die Jahr für Jahr aus der
unerschöpflichen polnischen Wiege … über unsere Ostgrenze" nach Deutschland
einfielen (wie es der notorisch antisemitische preußische Historiker
Heinrich von Treitschke formulierte hatte, den Schocken übrigens
bewunderte). Am Ende würden sie, so Treitschkes düstere Warnung, die
Herrschaft über die deutsche Wirtschaft und Kultur erlangen. Selbst in den
höchsten Kreisen, fügte Treitschke hinzu, ertöne daher überall ("und mit
Recht") derselbe Ruf: "Die Juden sind unser Unglück."(10)
Eine führende Rolle in
Palästina
Schocken erholte
sich gerade von einer kleineren Operation in der Schweiz, als Hitler am 30.
Januar 1933 deutscher Reichskanzler wurde. Er sah keinen Grund, seine Kur
abzubrechen. Er hatte nie damit gerechnet, dass die Nazis an die Macht
kommen würden, und war sich auch jetzt sicher, dass die korrekte preußische
Bürokratie diesen Krawallbrüdern niemals die Hebel der staatlichen Macht
überlassen würden. Hjalmar Schacht, den Schocken gut kannte, versicherte ihm
in einem Brief, es werde alles so weitergehen wie bisher. Im April war
Schocken mit seiner Frau noch immer in der Schweiz, als einige seiner
Kaufhäuser von uniformierten SA-Trupps unter persönlicher Führung Julius
Streichers attackiert und geplündert wurden. Die SA-Leute setzten etliche
seiner Manager fest und nahmen deren Akten mit. Im Mai kehrte Schocken
schließlich nach Berlin zurück und reagierte auf das, was er vorfand, völlig
konsterniert. Es war, als habe der Boden unter seinen Füßen nachgegeben,
sagte er damals.
Die randalierenden Nazis gewannen Rückhalt bei den kleinen Ladenbesitzern,
indem sie den "jüdischen Kaufhäusern" einen bedingungslosen Krieg erklärten.
Schocken beruhigte sich aber immer noch selbst, indem er Vergleiche mit den
Ludditen zog, die mit ihrer Maschinenstürmerei den ökonomischen Fortschritt
lediglich verlangsamt hatten: "Die heutigen Ludditen können ein überholtes
Distributionssystem nicht retten." Nach einiger Zeit wurden die Vandalen von
oben zur Ordnung gerufen, und die Schocken-Filialen legten an Umsatz wieder
zu. Einige von Schockens Kindern gingen noch zur Schule, und der
Kaufhauskönig hoffte noch, das Blatt werde sich wieder wenden. Im Herbst
1933 dachte er zum ersten Mal an Emigration. Sein ältester Sohn engagierte
sich damals als Student in Heidelberg für den Aufbau in Palästina.
David sieht als Katalysator für Schockens Entscheidung nicht so sehr Hitler
als vielmehr die positive Aussicht, endlich eine führende Rolle in Palästina
zu übernehmen, um die Wiederbegründung der hebräischen Sprache
voranzutreiben. Das Hebräische war über Jahrhunderte eine erstarrte
liturgische Sprache gewesen und musste erst in eine lebendige
Nationalsprache umgewandelt werden. Allerdings wurde Schocken auch durch ein
Angebot verführt, das erstmals Albert Einstein als Kuratoriumsmitglied der
Hebräischen Universität ins Gespräch gebracht hatte, nämlich
Verwaltungsleiter der Jerusalemer Universität zu werden.
So begann Salman Schocken, seine enorme Sammlung nach Jerusalem zu
überführen. Palästina erlebte damals einen großen Zustrom deutscher
Akademiker, die Hitler über Nacht zu Zionisten gemacht hatte. Die politische
und wirtschaftliche Führung der neuen "nationalen Heimstätte" war inzwischen
zu einer Art "Regierung in der Regierung" innerhalb des britischen
Mandatsgebiets Palästina geworden. Mit den führenden Persönlichkeiten war
Schocken von früheren Besuchen her gut bekannt, zumal er an allen
Zionistenkongressen seit 1910 teilgenommen hatte. Vielleicht hätte er statt
der universitären Funktion lieber ein mehr politisches Amt bekleidet, aber
ihm war auch klar, dass er mit seinen politischen Ansichten wenig Eindruck
auf Leute gemacht hätte, die mehr auf den Ruf von Blut und Boden lauschten.
Anfang 1934 traf Schocken mit seiner Familie in Jerusalem ein, wo sie
vorübergehend eine Wohnung nahmen. Mittlerweile führten loyale Mitarbeiter
seine deutschen Unternehmen so ruhig weiter, als ob sich gar nichts geändert
hätte. Einige seiner Kaufhäuser zogen Nazifahnen auf, aber die Schaufenster
gingen trotzdem zu Bruch. Erich Mendelsohn, der nach England geflüchtet war,
wurde nun nach Jerusalem beordert, um der Familie ganz in der Nähe der
Bibliothek eine Villa zu bauen, deren materieller Komfort im spartanischen
Palästina zuvor unbekannt war. Sie war die erste Villa in Jerusalem mit
Klimaanlage und Swimmingpool.
Schocken warf sich mit Begeisterung und Elan auf seine neue Aufgabe. Unter
seiner Leitung expandierte die Hebräische Universität innerhalb der nächsten
sechs Jahre, große Bauprojekte entstanden. Die Universität verwandelte sich
aus einem bescheidenen College amerikanischen Typs in eine
Forschungsuniversität nach deutschem Vorbild. Neu eintreffende
Intellektuelle aus der Weimarer Republik verliehen Jerusalem ein neuartiges
kosmopolitisches Flair. Die Philosophen Hans Jonas und Leo Strauss, die
Historiker Hans Kohn und Richard Köbner, Erich Mendelsohn und viele andere
bereicherten das gesellschaftliche Leben. Viele von ihnen fanden Arbeit an
der Universität, wo Scholem, zusammen mit Agnon, schon seit 1923 wirkte.
Jetzt kam auch die expressionistische Dichterin Else Lasker-Schüler hinzu,
die den wichtigsten Lyrikpreis Deutschlands gewonnen hatte, ein paar Wochen
später dann aber von Nazi-Schlägern tätlich angegriffen worden war. Schocken
lud die Neuankömmlinge häufig zu formellen Abendessen in seine prächtige
neue Villa ein, an die sich häufig Lesungen der Werke Lasker-Schülers, Karl
Kraus oder Walter Benjamins anschlossen.
Bald jedoch versank Schocken in Melancholie. Etwas lief verkehrt. Er
wechselte ruhelos zwischen seinem Büro in der Universität und seiner
eigentlichen Schatzkammer hin und her: seinen Büchern und Manuskripten und
seinem Schreibtisch über der Bibliothek. Er verzweifelte an den Politikern.
In einem Brief an Chaim Weizmann (11) klagte er:
"95 Prozent der führenden Zionisten lehnen einen Kompromiss mit den Arabern
ab." Die Mythen- und Legendenfabrik in der Bibliothek setzte ihre Suche nach
dem jüdischen Nibelungenlied unbeirrt fort. Schocken wurde immer
verbitterter und ruheloser, fast die Hälfte seiner Zeit verbrachte er im
Ausland, in der Schweiz, in Frankreich und England. In Deutschland fand er
einen "arischen" Strohmann, der sein Unternehmen aufkaufte, das er auf diese
Weise vor den Nazis retten zu können hoffte. Es fand sich auch ein
"arischer" Direktor, der sich als anständiger Mann erweisen sollte. Doch
seine jüdischen Angestellten mussten gehen. Großzügig zahlte er allen eine
gute Abfindung und Fahrkarten, mit denen sie mitsamt ihren Familien an den
Ort ihrer Wahl reisen konnten. Die Lösung mit dem Strohmann funktionierte
zunächst überraschend gut. Aber nicht lange. 1938 wurde der Mann gezwungen,
die Firma an ein Konsortium unter Führung der Deutschen Bank zu verkaufen -
zu einem Preis, der auf 5 Prozent ihres tatsächlichen Wertes geschätzt
wurde. Der größte private Aktionär der arisierten Schocken AG wurde der
frühere deutsche Kaiser.
Als Nächstes war das Berliner Verlagshaus an der Reihe. Unter den Nazis
hatten viele assimilierte Juden die jüdische Identität wiederentdeckt, so
dass der Verlag florierte wie nie zuvor, wobei er bis 1938 auch subversive
Titel durch die Nazi-Zensur schmuggelte. Die Restauflagen der Bücher wurden
mit einigen Schwierigkeiten nach Jerusalem transportiert. Anfang 1940
bereiste Schocken im Auftrag der Universität die Vereinigten Staaten. Einige
Wochen nach seiner Rückkehr überraschte ihn der amerikanische Rabbi Stephen
Wise (12) mit dem Titel eines Ehrendoktors für
Hebräische Literaturwissenschaft, der ihm vom Jüdischen Institut für
Religion, dem Vorläufer des Jüdischen Theologischen Seminars der USA,
verliehen wurde. Diese Ehrung in Übersee ließ ihn noch stärker spüren, wie
marginal seine Rolle in Palästina war.
Schocken fürchtete zudem immer mehr, für die Dauer des Krieges nicht mehr
aus Palästina herauszukommen. Er ließ einige der wertvollsten Stücke seiner
Sammlung nach Johannesburg bringen, wo sie in einem Banksafe aufbewahrt
wurden. Als im Oktober 1940 der wichtigste Flughafen Palästinas für den
zivilen Verkehr geschlossen wurde, charterte er das einzige Wasserflugzeug,
das es noch in Palästina gab, und flog mit seiner Frau, vom See Genezareth
startend, über Kairo und Kapstadt nach Australien, von wo aus er einige
Monate später mit dem Schiff nach New York weiterreiste.
Seine überstürzte Abreise trug kaum dazu bei, sein Ansehen in der jüdischen
Öffentlichkeit zu vergrößern. Der Universität hatte er zugesagt, in drei
oder vier Monaten zurück zu sein. Doch am Ende blieb er für die Dauer des
gesamten Krieges in den USA. Danach hielt er sich in der Schweiz auf. Nach
Jerusalem kehrte er nur noch für kurze Besuche zurück.
Seine Warenhäuser in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands - oder was
von ihnen übrig geblieben war - erhielt er nach 1945 zurück. Sein deutscher
Direktor, der ihm während des Krieges über eine Schweizer Deckadresse die
Bilanzen seiner 14 Kaufhäuser übermittelt hatte, wurde von ihm großzügig
belohnt. Doch 1953, gerade als der Umsatz seines Unternehmens wieder das
Vorkriegsniveau erreicht hatte, verkaufte er seine Aktienanteile. Im Sommer
1959 klagte er plötzlich über Brustschmerzen und bekam Medikamente
verschrieben. Bald war er so schwach, dass er seine Schweizer Hotelzimmer
nicht mehr verlassen konnte. Als am 21. August ein Zimmerkellner an seine
Tür klopfte, kam keine Antwort. Schocken war in der Nacht zuvor verstorben.
Man fand ihn zusammengesunken in einem Sessel, in seinen Händen den "Faust
II" und Bubers "Geschichten des Rabbi Nachman", die er fest umklammert
hielt.
Sein Leben war eine Saga, nicht nur eine politische; es war auch ein
menschliches Drama, und wie ein richtiges Drama mal ironisch, mal tragisch
und zuweilen auch absurd. Mit seiner Biografie ist Antony David diesem Leben
gerecht geworden.
deutsch von
Niels Kadritzke
Amos Elon ist
Schriftsteller, zuletzt erschien: "Zu
einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)",
München (Hanser) 2000. Die Schocken-Biografie von Antony David erscheint auf
Deutsch voraussichtlich 2006 im Hanser Verlag, München.
Anmerkungen:
(1) Mesusa: kleine, mit Zitaten aus der Thora (5. Mose 6,
4-9 und 11, 13-21) beschriftete Pergamentrolle in einer Hülse, die an den
Türpfosten der Häuser angebracht wird.
(2) Brit Schalom. Unter anderem von Martin Buber
begründeter Friedensbund; Organisation zur Förderung der arabisch-jüdischen
Verständigung, die eine staatliche Konföderation anstrebte.
(3) Antony David, "The Patron, A Life of Salman Schocken,
1877-1959", New York (Metropolitan Books) 2003.
(4) Die Genisa ist der Abstellraum einer Synagoge, in dem
nicht gebrauchte Kultgegenstände aufbewahrt werden.
(5) Maimonides (Rabbi Mose ben Maimon, geb. 1135 in
Córdoba, gest. 1204 in Kairo) war ein jüdischer Religionsphilosoph und
Universalwissenschaftler, der in Südspanien, Fes, Akko und auch als Arzt am
Hof des Sultans Saladin in Jerusalem lebte. In seinem Hauptwerk "More
Newuchim" (Führer der Unschlüssigen) vertrat er die Position eines
offenbarungsgläubigen Rationalismus.
(6) Sabbatai Zwi bzw. Zewi (geb. 1626 in Smyrna, gest.
1676 in Dulcigno/Albanien) stellte sich aufgrund einer kabbalistischen
Prophezeiung als Messias dar und sammelte eine erhebliche Gefolgschaft unter
den sephardischen Juden des Osmanischen Reiches. 1666 wurde er jedoch vom
Sultan gezwungen, zum Islam zu konvertieren; seitdem praktizieren seine
Anhänger, die so genannten Dönme, eine jüdisch-muslimische Mischreligion.
(7) Die Mischna ist der erste Teil des Talmud, in dem die
Religionsgesetze festgehalten sind.
(8) Eine Akte mit Dokumenten über diese mehr als zwanzig
Jahre lange verfolgten Bemühungen ist im Archiv von Ha'aretz aufbewahrt.
(9) Die Siedlungsbewegung Gusch Emunim bildete sich Ende
1973/Anfang 1974 als Reaktion auf den für Israel so schockierenden
Jom-Kippur-Krieg, um auf außerparlamentarischem Wege die Besiedlung des
Westjordanlands mit eigenen Mitteln zu forcieren.
(10) Zitiert nach Amos Elon, "Zu einer anderen Zeit,
Porträt der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)", München 2000.
(11) Chaim Weizmann (1874-1952), langjähriger Präsident
der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency, wurde 1948 erster
Präsident des Staates Israel.
(12) Der liberale Rabbiner Stephen Wise war die
prominenteste Persönlichkeit des US-amerikanischen Judentums.
© Le Monde
diplomatique, Berlin
hagalil.com
28-01-2005 |