Oswiecim:
Befreiung vom Stigma
In Polen bereitet man sich auf den 60.
Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor.
Von Markus Ströhlein
Jungle World 4 v.
26.01.2005
"Wir haben das Recht, eine wahre Stadt des Friedens zu
werden, von der aus das Gute und die Toleranz in die Welt strahlen." Janus
Marszaleks abschließender Satz klingt, als wolle er den Anlass seiner
Einladungsworte abschütteln. Der Bürgermeister von Oswiecim lädt in einem
offiziellen Brief, veröffentlicht auf der Homepage der Stadt, zur
Gedenkveranstaltung anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung der
polnischen Stadt ein.
43 000 Einwohner hat die Stadt, die nächstgelegenen größeren
Städte sind Krakau und Kattowitz. Zudem lädt Marszalek zur
Gedenkveranstaltung, da vor 60 Jahren das Konzentrations- und
Vernichtungslager direkt vor seiner Stadt befreit wurde: Auschwitz.
"Oswiecim wird für immer mit diesem Schandfleck leben müssen", sagt er. Man
dürfe nicht vergessen, dass "die Nazis 75 000 Polen im Konzentrationslager
Auschwitz ermordeten".
Die polnische Presseagentur PAP beschreibt Marszalek als
Politiker, "der noch vor den Kommunalwahlen bekannt war wegen scharfer
Auftritte, die ihn des Antisemitismus verdächtig machten". Kein Wunder, dass
der für die Ausführung der Gedenkveranstaltung verantwortliche
Staatssekretär, Andrzej Przewoznik, die Zusammenarbeit mit der
Kommunalverwaltung "schwierig, sehr schwierig" nennt.
Die Behörden der Kommune wollen seit längerem den Ruf ihrer
Stadt verbessern. Man hat ein Projekt mit dem Namen "Normal leben in unserer
Stadt" initiiert. Damit sollen "die Stereotypen über Oswiecim" und "das
falsche Image der Stadt" überwunden werden. "Die Verbindung Oswiecims mit
Völkermord, Leid und Konflikten dient der Stadt nicht, behindert ihre
Entwicklung, verschlechtert die Lebensbedingungen der Einwohner", heißt es
in der Projektbeschreibung. Man will nicht länger mit dem Schreckensort
assoziiert werden, dem Ort des singulären Menschheitsverbrechens.
Ob man sich von einem von der deutschen Barbarei
verschuldeten Stigma befreien möchte oder ob durch all den Aufwand zur
Rufrettung doch der Geist des Stadtoberhaupts Marszalek scheint, bleibt
offen. Das Konzentrationslager ist aus der offiziellen Geschichtsschreibung
der Stadt nicht wegzudenken, das jüdische Leiden anscheinend schon. Kein
Wort wird in der im Internet präsentierten Stadtgeschichte über Auschwitz
als Ort der Shoah verloren.
So sind die offiziellen Stellungnahmen von Staatssekretär
Przewoznik sichtlich um Schadensvermeidung bemüht: "Eine der ersten
Aufgaben, die ich mir bei der Vorbereitung der Gedenkveranstaltung gestellt
hatte, war vor allem die Beruhigung aller Konflikte, die um die
Angelegenheit der Gedenkfeier stattfanden." Die Gedenkveranstaltung findet
am 27. Januar auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau
statt. Zehntausende Besucher werden erwartet, darunter Überlebende und
zahlreiche Staatsgäste. Weitere Veranstaltungen bedienen sich aus dem Fundus
unverfänglicher Gedenkrituale. Gedenkgottesdienste, Gedenkkonzerte,
Kranzniederlegungen – Auschwitz als kategorischen Imperativ für politisches
Handeln in die Gegenwart zu befördern, bleibt die Aufgabe der überlebenden
Opfer. Ehemalige Häftlinge werden die Charta des Internationalen
Bildungszentrums für Auschwitz und den Holocaust mit der Aufforderung an
alle Staatschefs unterzeichnen, einer Wiederholung der Shoah mit allen
Mitteln entgegenzutreten.
Auf Sicherheit in inhaltlicher Hinsicht sind die
Organisatoren allein deshalb bedacht, um nicht die Reihe der Skandale der
letzten zehn Jahre fortzusetzen. Am 50. Jahrestag hielt der damalige
Staatspräsident Lech Walesa eine Gedenkrede, ohne den Massenmord an den
Juden in Auschwitz auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. 1996 marschierte
eine Gruppe der antisemitischen Polnischen Nationalkameradschaft vor dem
ehemaligen Konzentrationslager auf, skandierte judenfeindliche Parolen,
beschimpfte israelische Touristen und legte schließlich im Inneren der
Anlage einen Kranz zu Ehren der dort ermordeten Polen nieder. Der Plan, nur
200 Meter vor dem Eingang des Auschwitz-Museums einen Supermarkt mit
Schnellrestaurant und Großparkplatz zu eröffnen, konnte 1996 erst nach
heftigen Protesten nationaler und internationaler jüdischer Gruppen
abgeschwächt werden. Noch im September 2000 erlaubte der zuständige Landrat
des Kreises Oswiecim den Bau einer Diskothek auf dem ehemaligen Gelände
einer zum Konzentrationslager Auschwitz gehörenden Gerberei. Die Fläche
liegt nicht direkt in oder an der Gedenkstätte, auch nicht in der
zugehörigen Unesco-Schutzzone, in der der Bau neuer privater oder
gewerblicher Gebäude untersagt ist. Ein Ort nationalsozialistischer
Mordtaten war die Gerberei dennoch.
Der heftigste Konflikt entbrannte jedoch um Kreuze, die
extremistische polnische Katholiken an einer als Massengrab benutzten
Kiesgrube aufgestellt hatten. Kardinal Jozef Glemp, höchster Vertreter der
katholischen Kirche in Polen, bezichtigte den jüdischen Protest dagegen des
"Hochmuts", der "die Gefühle des polnischen Volks verletzt". Die
nationalistische Vereinigung der Kriegsopfer drohte sogar mit der
gewaltsamen Verteidigung des Papstkreuzes, das Johannes Paul II. nach einer
Großmesse in Auschwitz hinterlassen hatte, und in Flugblättern wurden die
Kritiker als "teuflisch-heidnische Kräfte" bezeichnet. An die Spitze
antijüdischen Märtyrertums stellte sich der ehemalige Parlamentsabgeordnete
Kazimierz Switon mit einem 42tägigen Hungerstreik für das Papstkreuz.
Auch in der Doktrin der Staatssozialisten, die Auschwitz als
Ort des Martyriums des polnischen Volks und seines Widerstands gegen die
NS-Besatzung betrachteten, hatten die jüdischen Opfer nur bedingt Platz, den
sie 1967 unter Staatschef Wladyslaw Gomulka, während der Kampagne gegen den
Zionismus, vollständig verloren.
Der Umgang mit dem Jahrestag in Auschwitz erscheint
offensichtlich nicht nur den Organisatoren der Gedenkveranstaltung als
schwierig, sondern auch der polnischen Presse. Sie hält sich bisher sehr
bedeckt, bis auf das auflagenstärkste Blatt Gazeta Wyborcza. Der Fokus der
Berichterstattung in der Zeitung liegt jedoch auf den russisch-polnischen
Beziehungen. Dabei wird eifrig über ein Treffen von Staatspräsident
Aleksander Kwasniewski und Wladimir Putin, der immer noch wegen Polens
Politik in der Ukraine verstimmt ist, spekuliert, das am Tag des Gedenkens
stattfinden könnte.
Papst Johannes Paul II., der 1998 bei einem Besuch in der
katholischen Bastion Polen wenig zimperlich zu einem Vergleich des Holocaust
mit Abtreibungen griff, schickt mit dem vom Judentum zum Katholizismus
konvertierten Kardinal Lustiger, dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde,
den passenden Repräsentanten zum Gedenktag. So scheint man sich für die
Gedenkveranstaltung am 60. Jahrestag vor allem auf eines einigen zu können:
Deckel drauf. Auch wenn es darunter brodelt.
hagalil.com
27-01-2005 |