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Österreichs Sozialdemokraten auf Spargelspur:
Von Kreisky bis Gusenbauer

Von Danny Leder

Im Mai 2003 begab sich Alfred Gusenbauer, Vorsitzender der österreichischen Sozialdemokraten (SPÖ), zu einem ersten Arbeitsessen mit dem nationalpopulistischen Tribun Jörg Haider. Das war ein Tabubruch, hatte doch drei Jahre zuvor der Amtsantritt einer Koalition zwischen der christdemokratischen "Österreichischen Volkspartei" (ÖVP) und der "Freiheitlichen Partei" (FPÖ) von Haider europaweite Empörung, namentlich aufseiten der Sozialdemokraten, ausgelöst. Dem gemeinsamen Mahl von Gusenbauer und Haider, bei dem ein Spargelgericht auf dem Menü stand, folgte im Frühjahr 2004 eine "Spargel-Koalition", wie österreichische Medien ätzten: in Kärnten, Österreichs südlichstem Bundesland, einigten sich FPÖ und SPÖ auf einen regionalen Regierungspakt unter Vorsitz von Haider.

Diese zeitweiligen Annäherungen zwischen SPÖ und FPÖ werfen die Frage der Vereinbarkeit zwischen aktuellem politischen Engagement und dem Vermächtnis des Holocausts in Österreich auf. Unter den Persönlichkeiten der SPÖ, die sich bereits früher um einen Brückenschlag zur FPÖ bemühten, sticht der verstorbene Kanzler Bruno Kreisky hervor. Zu diesem Zweck versuchte Kreisky die eigene jüdische Leidensgeschichte den Erfordernissen der geläufigen Erinnerungskultur der Arbeiterschaft in Österreich unterzuordnen, wie der im folgenden Text enthaltene (und bisher nie veröffentlichte) Dialog mit Kreisky verdeutlicht.

Als im Vorfeld des 70. Todestags des christlich-sozialen Diktators Engelbert Dollfuß, der im Juli 1934 von NS-Putschisten ermordet worden war, die Diskussion über die Einstufung des "Ständestaats" (ein rechtsklerikales Regime, das in den fünf Jahren vor dem Einmarsch Hitlers in Österreich herrschte) in einigen österreichischen Medien wieder entbrannte, erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Bruno Kreisky. Der sozialdemokratische Ex-Bundeskanzler hatte mich 1985, anlässlich eines Interviews für ein französisches Magazin, in seiner Wiener Villa in der Ambrustergasse empfangen. Unter anderem kam auch die Rede auf das Regime von Dollfuß und seines Nachfolgers Kurt Schuschnigg.

Kreisky erläuterte eingangs, weshalb er noch zu seinen Amtszeiten die Koalition zwischen den Sozialdemokraten (SPÖ) und der "Freiheitlichen Partei" (FPÖ) vorbereitet hatte, als Alternative zu der seiner Meinung nach völlig ausgereizten "Großen Koalition" zwischen der SPÖ und der "Volkspartei" (ÖVP – Österreichs bürgerliche Großpartei und Schwesterorganisation der CSU/CDU).

Die FPÖ stand damals noch unter der Führung des liberalen Flügels um Norbert Steger. Mit dem Skandal um den aus Italien heimgekehrten NS-Kriegsverbrecher Walter Reder, der vom FP-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager am Flughafen per Handschlag empfangen worden war, und dem immer heftigeren Rumoren von Jörg Haider im FP-Hintergrund geriet aber die Steger-Führung zunehmend in die Klemme.

Kreisky konzedierte zwar, dass es unter FPÖ-Funktionären "überproportional viele Ehemalige (Nazis) und ihre Söhne" gebe, trotzdem schien ihm aber der "Liberalisierungsprozess der FPÖ besonders stark". Haider, auf den Kreisky bereits aufmerksam geworden war, und dem er "Verbreitung nazistischen Gedankenguts" vorwarf, räumte er keine sonderlichen Erfolgschancen ein. Außerdem hatte Kreisky erleben müssen, wie ihn ein ÖVP-Spitzenpolitiker auf einer Versammlung einst als "Saujuden" bezeichnet hatte. Auch im Parlament hatte er aus den Reihen der Volkspartei antisemitische Beschimpfungen erdulden müssen, die geradewegs der christlich-sozialen Vorkriegstradition entsprangen. "Bei den Freiheitlichen", resümierte Kreisky, "habe ich das nie gehört, weil die ja gewusst haben, dass jede antisemitische Äußerung ihnen den Vorwurf des Nazismus einbringt".

Als ich auf die christlich-sozialen beziehungsweise späteren ÖVP-Politiker verwies, die von den Nazis verfolgt worden waren, entspann sich folgender Dialog (Tonband-Aufnahme):

Kreisky: "Das war der unterlegene Faschismus. Der Kleriko-Faschismus ist unterlegen und im KZ gelandet."
Ich: "Aber der hätte nie diese mörderische Dimension erreicht."
Kreisky: "Das sind quantitative Unterschiede. Die soll man nicht über…"
Ich: "Quantitative Unterschiede?"
Kreisky: "Na entschuldigen sie bitte…"
Ich: "Die industrielle Vernichtung ganzer Volksgruppen…"
Kreisky: "Ja die quantitative Veränderung im Effekt hat ein qualitativ anderes System geschaffen. Das ist der Unterschied zwischen Kleriko-Faschismus und dem. Die haben also die Vernichtung ins Gigantische übertragen, und dadurch ist eine ganz neue… ein anderer Typ von Diktatur entstanden. Aber politisch muss das auch als Diktatur bewertet werden. Aber etwas anderes möchte ich ihnen sagen. Man sieht das anders, wenn man kein Jude ist. Das muss man auch sehen. Die österreichischen Arbeiter haben halt leider ihre Vernichtung durch den Kleriko-Faschismus erfahren."

"Faschismus" – eine Umschreibung des heimischen Nationalsozialismus

Es ist sicherlich kein Verstoß gegen Vernunft und Anstand, wenn man den Begriff Faschismus auf die Regime von Mussolini, Franco, Dollfuß und Hitler gleichermaßen anwendet, um gewissen ideologischen und strukturellen Parallel-Ansätzen dieser Herrschaftsformen Rechnung zu tragen. Das ist aber nur dann akzeptabel, wenn der Faschismus-Begriff nicht als ultimative, nivellierende Charakterisierung dient, sondern, bestenfalls, als Ausgangspunkt für eine Differenzierung dieser Regime. Also wenn gleichzeitig die Bandbreite zwischen, auf der einen Seite, dem Franco-Regime und der frühen Mussolini-Diktatur (die Juden vor dem Zugriff der Nazis bewahrten), und, auf der anderen Seite, der "völkischen" Vernichtungs-Ideologie und -Maschinerie Hitlers hervorgestrichen wird. Es ist auch klar, dass in Österreich und Deutschland nur allzu oft bei Gedenkaktionen die Verwendung des Begriffs "Faschismus" als verharmlosende Umschreibungsformel diente, um die viel direktere Benennung des heimischen "Nationalsozialismus" zu vermeiden – man denke nur an das Denkmal mit dem den Boden waschenden Juden auf dem Wiener Albertina-Platz, das der Bildhauer Alfred Hrdlicka "Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" betitelte.

Umgekehrt ist es wohl auch kein Vergehen, wenn man die - wenn auch ungelenke und viel zu oft halbherzige - Gegnerschaft eines Teils der christlich-sozialen Österreich-Patrioten gegen Hitler würdigt. Das ist aber auch nur zulässig, wenn man gleichzeitig auf die Rolle der Christlichsozialen als Totengräber der Demokratie, als Liquidatoren der nicht-totalitären Arbeiterbewegung und als Wegbereiter des Judenhasses betont.

Um auf Kreisky zurückzukommen: er versuchte die Nazi-Herrschaft begrifflich auf eine massivere Ausformung des christlich-sozialen Regimes herabzudefinieren, um an die in Österreichs Arbeiterschaft, in seiner Generation, vermutlich dominante Erinnerungskultur anzuknüpfen. Im Unterschied zu Deutschland, wo ja die linke Arbeiterbewegung dem Terror der Nazis direkt zum Opfer fiel, kam in Österreich das christlich-soziale Regime den Nazis bei der Ausschaltung der Arbeiterbewegung zuvor.

Die Repression durch das Dollfuß-Regimes lässt sich zwar nicht mit der allumfassenden Terrorwelle der Nazis, wie sie die linke Arbeiterbewegung in Deutschland erlitt, vergleichen, sie grub sich aber als einschneidendes Erlebnis in der Erinnerung der österreichischen Arbeiterschaft fest. Bis zu einem gewissen Grad wurde das Dollfuß-Regime sogar wegen seiner Schwäche zum prioritären Feindbild vor allem der sich nach links und rechts radikalisierenden Jugend im städtischen und kleinstädtischen Bereich. Die christlich-soziale Diktatur verfügte über keine fanatisierte Massenbasis und konnte schon deswegen keine, mit dem Hitler-Regime vergleichbare totale Unterdrückung potentieller Gegner ausüben. Gerade aber wegen diesem spürbaren Mangel an politischer Dynamik und Durchsetzungswillen stachelten die Unterdrückungsmaßnahmen des Dollfuß-Regimes die Wut und Risikobereitschaft seiner Gegner an.

Von der SP zur NSDAP und wieder retour

Schon unter der ersten Republik, nach dem ersten Weltkrieg, hatten sich blutige Gräben aufgetan. 1927 hatten christlich-soziale "Frontkämpfer" in einer kleinen Ortschaft im Burgenland, naher der ungarischen Grenze, auf eine sozialdemokratische Demonstration geschossen. Es gab zwei Tote, darunter ein Kind. Bei dem anschließenden Geschworenenprozess wurden die Schützen freigesprochen, woraufhin die wütende Wiener Arbeiterschaft bei einem Massenaufmarsch ins Stadtzentrum strömte. Nach einem Angriff berittener Polizei-Einheiten wurde der Justizpalast in Brand gesteckt. Mit dem Sanktus des christlich-sozialen Kanzler und Prälaten Ignaz Seipel setzte die Polizei schließlich Schusswaffen ein. 79 Menschen starben im Kugelhagel.

Die ohnmächtige Wut der sozialdemokratischen Arbeiterschaft steigerte sich freilich noch nach der Abschaffung des Parlaments und der Errichtung eines autoritär-klerikalen Regimes durch den christlich-sozialen Kanzler Engelbert Dollfuß im März 1933. Mit dem Beschuss der Wiener Gemeindebauten, der Hochburgen der Sozialdemokratie, durch das Militär des Dollfuß-Regimes, im Februar 1934, und der erschütternden Hinrichtung von Kämpfern des "Republikanischen Schutzbunds" (dem sozialdemokratischen Wehrverband) wurden für viele Anhänger der Sozialdemokratie die Christlich-Sozialen zum Inbegriff von "Arbeitermördern" schlechthin. Während der vier restlichen Jahre bis zum "Anschluss" (der Annektierung Österreichs durch Hitler, 1938), fanden sich Sozialdemokraten und Nazis gemeinsam in der Illegalität und rückten, den Umständen entsprechend, einander näher. Trotz dieser katastrophalen Bedingungen - die eigene Bewegung war ausgeschaltet, es herrschte Massenarbeitslosigkeit, im Vorbild- und Bruder-Staat Deutschland triumphierte Hitler – hielt ein beträchtlicher Teil der sozialdemokratischen Arbeiter den gezielten Anbiederungsversuchen der Nazis stand. Ein weiterer Teil – unter den organisierten Anhängern der Sozialdemokratie könnte es sich um ein Drittel gehandelt haben – aber wechselte, mehr oder weniger dezidiert in die Reihen der aufstrebenden NSDAP (1). Wobei Teile der sozialdemokratischen Aktivisten prompt bereit waren, die Schuld für die Niederlage der Arbeiterbewegung auf die "jüdischen" Führer, wie etwa Otto Bauer, abzuwälzen.

Aus dieser historischen Konstellation nährte sich der besondere Auftrieb der Nazi-Bewegung in Österreich, die stellenweise dem "Anschluss" mit eigenen Massenmobilisierungen zuvorkommen konnte. Namhafte sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten in Österreich wie etwa Karl Renner, der sich bei der Anschluss-Abstimmung für das Ja ausgesprochen hatte, wurden vom Naziregime auch nicht weiter belangt. In seiner Anfangsphase konnte sich das NS-Regime als Bezwinger der Arbeitslosigkeit und als Vehikel zur Revanche der Arbeiter gegenüber dem Klerus und der katholisch-konservativen Bauernschaft präsentieren (2). Mit der ultimativen Anstachelung und Vollstreckung des klassenübergreifenden Hasses und Neids auf die jüdische Minderheit brachten die Nazis von Anfang an die österreichische Gesellschaft auf ihren aggressivsten und unwiderruflichsten gemeinsamen Nenner (3).

Die SPÖ-Führer der Nachkriegsperiode trugen dieser untergründigen Erinnerungskultur, in der die Anschluss-Euphorie positiv besetzt blieb, teilweise und indirekt Rechnung. Einige taten dies wohl eher aus taktischer Not, bei anderen schwangen eigene Reminiszenzen mit. Der schonende Umgang mit der NS-Vergangenheit, sobald die Alliierten wegschauten, zielte nicht nur auf die Stimmen der "Ehemaligen", sondern auch auf die Versöhnung der eigenen Anhängerschaft. Der Kleister, um diese Elemente der Arbeiterschaft wieder in die Sozialdemokratie einzubinden, war die Bedeutungs-Aufladung des christlich-sozialen Staatsstreichs und die dadurch automatisch erfolgende Relativierung der nachfolgenden Naziperiode.

In einigen Regionen, namentlich in Österreichs südlichstem Bundesland Kärnten, wo die soziale und zeitweilig religiöse (protestantische) Dissidenz gegenüber dem katholischen Klerus und der österreichischen Monarchie tiefe historische Wurzeln auch im (klein)bäuerlichen und (klein)bürgerlichen Milieu aufwies, wurde die Nachkriegs-SPÖ (neben der FPÖ-Vorläuferpartei "Verband der Unabhängigen") zum natürlichen Sammelbecken all jener, die zuvor aus Antiklerikalismus und Deutschnationalismus zu den Nazis geströmt waren. Bei diesen Wählern stieß die ÖVP als Nachfolgepartei der Christlich-Sozialen auf prinzipielle Ablehnung. Eine Problematik, die in den siebziger Jahren in den schweren Spannungen innerhalb der Kärntner SPÖ während des so genannten Ortstafel-Konflikts zu tage treten sollte. Dabei ging es um die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln in den von der slowenischen Minderheit bewohnten Gebieten Kärntens. Ein im österreichischen Staatsvertrag enthaltenes Grundrecht, das aber von einer deutschnationalen Mehrheit in allen Kärntner Parteien, inklusive, der SPÖ, der slowenischen Minderheit verwehrt wurde. Wobei die von den Behörden schließlich aufgestellten zweisprachigen Ortstafeln von aufgeputschten Mengen niedergerissen wurden. In diesem Konflikt bewies Kreisky beträchtlichen Mut: er veranlasste die Aufstellung dieser Tafeln und nahm dafür verbale, und bei einem Besuch vor Ort, sogar physische Attacken seiner eigenen – sozialnationalen – Parteifreunde in Kauf. Die selbe Ursprungsproblematik der Nachkriegs-SP sollte sich noch später, im fulminanten Aufstieg von Jörg Haider in Kärnten (er wurde in diesem Bundesland 2004 schon zum dritten Mal zum Landespräsidenten gewählt) und den Abgrenzungs-Schwierigkeiten von Teilen der Kärntner SPÖ gegenüber der FPÖ bahn brechen.

In der Nachkriegsperiode waren, Österreich-weit, obendrein jüngere Generationen im Anmarsch, die in beträchtlichem Ausmaß von den Institutionen und Organisationen des NS-Systems sozialisiert worden waren. Der Grad ihrer Indoktrinierung namentlich mit antijüdischen Klischees überraschte selbst zurückkehrende linke Emigranten, die immerhin den alltäglichen Judenhass der Vorkriegsperiode vollauf erlebt hatten.

Wem galten Kreiskys Wutausbrüche wirklich?

Dass der Pragmatiker Kreisky in dieser Atmosphäre glaubte sich besonders an die Linie der Öffnung gegenüber Ex-Nazis klammern zu müssen, kann nicht weiter erstaunen. Als ein aus der Emigration zurückgekehrter Politiker und Sohn einer jüdischen Familie, der genau deswegen immer wieder in der eigenen Partei auf Ablehnung stieß, hatte er kaum eine andere Wahl, wollte er an seinen politischen Ambitionen in Österreich festhalten. Aus diesem seinem Handikap schmiedete Kreisky auf die ihm eigene Weise einen politischen Vorteil. Es wäre natürlich übertrieben, würde man Kreiskys Erfolgskarriere auf diese Strategie reduzieren. Das war ein Element unter vielen anderen, das, meistens unterschwellig, in seiner Politik präsent war.

Diese nur scheinbar paradoxen Brückenschläge seinerseits ziehen sich allerdings wie ein roter Faden durch seine Laufbahn: Von seiner besonders harten Haltung in der Südtirol-Frage gegenüber Italien (4), die ihn die Nähe militanter Südtiroler "Los-von-Rom"-Untergrundgruppen suchen ließ, bis hin zu seinem innerparteilichen Bündnis mit den SP-Führungen in den Bundesländern (von denen einige, namentlich die Kärntner, auf eine NS-Prägung zurückblickten) gegen den "linkeren" Wiener Traditions-Flügel um Bruno Pittermann. Von der erstmaligen Aufnahme von vier ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in eine Nachkriegs-Regierung, 1971, bis hin zum Abbruch der Ermittlungen gegen 800 mutmaßliche NS-Verbrecher in Österreich.

Den absoluten Tiefpunkt erreichte Kreisky 1975, als er eine beschämende Hetzkampagne gegen Simon Wiesenthal lostrat. Der Leiter des berühmten Wiener jüdischen Dokumentationszentrums über NS-Verbrechen hatte die Vergangenheit des damaligen FPÖ-Vorsitzenden, Friedrich Peter, enthüllt. Peter war "Obersturmbann-Führer" einer SS-Brigade gewesen, die in Russland Massaker begangen hatte. Diese Enthüllungen versetzten Kreisky in rasende Wut, zumal er gerade den FPÖ-Chef zu seinem Verbündeten (und potenziellen Vizekanzler) erkoren hatte. Er bezichtigte Wiesenthal, unter anderem, während seiner KZ-Haft ein Kollaborateur der Nazis gewesen zu sein.

Ja sogar die visionären Warnungen, die Kreisky an Israel richtete und seine Vorreiterrolle unter den europäischen Sozialdemokraten bei der Anerkennung der Palästinenser waren mit dem Makel seiner Nachsicht gegenüber österreichischen Ex-Nazis behaftet und wurden durch seine gelegentlichen antijüdischen Sprüche wieder entwertet.

Natürlich ist Kreisky diesbezüglich ein geringerer Vorwurf zu machen als seinen Parteigenossen in den Führungsämtern der SPÖ, die nicht aus jüdischen Familien stammten, und die sich bei dem Mobbing gegen Wiesenthal hervortaten. Unter denjenigen, die sich im Windschatten Kreiskys austobten, befand sich Leopold Gratz, der damalige Zentralsekretär und spätere Wiener Bürgermeister (und nebenbei Intimus des später wegen mehrfachen Mordes verurteilten österreichischen Großbetrüger Udo Proksch) (5). Aber auch der damalige Vorsitzende der SPÖ-Parlamentsfraktion und heutige österreichische Staatschef Heinz Fischer beteiligte sich an der Stimmungsmache gegen Wiesenthal (Allerdings raffte sich Fischer in den letzten Jahren zu einer Selbstkritik bezüglich seiner damaligen Haltung auf). Kreisky musste wohl davon ausgehen, dass diese Haltung der Preis war, um in Österreich als Spitzenpolitiker akzeptiert zu werden.

Nicht beweisbar, aber gut vorstellbar ist auch, dass die Wutanfälle und Gehässigkeiten Kreiskys im Umgang mit jüdischen und israelischen Kritikern eigentlich seinem österreichischen Umfeld galten. Also vornehmlich jenen Persönlichkeiten in der eigenen Partei und in der FPÖ, deren Achtung, wenn nicht gar Sympathie er zu erringen versuchte. Es gab wohl keinen Österreicher, der einst als Jude ausgegrenzt wurde, und nicht irgendwo, im tiefsten Inneren, eine unausrottbare Hoffnung nährte, von seinen nicht-jüdischen Landsleuten doch noch als ihresgleichen anerkannt zu werden. Indem Kreisky Politikern die Hand reichte und ihnen zu zusätzlicher öffentlicher Akzeptanz verhalf, die er wegen ihrer NS-Vergangenheit und/oder ihrer verniedlichenden Haltung zur Naziperiode für repräsentativ hielt, konnte er sich ja bis zu einem gewissen Grad auch als ihr übergeordneter Gönner wähnen – möglicherweise ein Hauch von Revanche, sicherlich aber auch der Traum von der gefühlsmäßigen Konversion dieser Leute.

Es ist daher ausgeschlossen, dass Kreisky nicht auch die immer wieder zu tage tretenden Niederträchtigkeiten dieser seiner Partner als persönliche Verletzungen empfand, auch wenn diese Niederträchtigkeiten von ihm selber hervorgelockt worden waren. Aber wehe, er hätte sich da getroffen gezeigt: dann wäre er ja von dem Podest der gönnerhaften Leitfigur auf den Rang des verwundbaren jüdischen Exilanten hinuntergepurzelt. Gegen diese Leute musste er sich jede öffentliche Attacke verbieten, wollte er die von ihm eingeschlagene Umgehungsstrategie des österreichischen Judenhasses durchstehen.

All diese Feststellungen bedeuten in keiner Weise eine Kritik an Kreiskys Weigerung, als Angehöriger einer "jüdischen" Ethnie eingestuft zu werden. Das war nicht nur Kreiskys Recht, er hatte dabei auch Recht. Gegenüber dem zionistischen Vertretungs-Anspruch eines universellen jüdischen Volks pochte Kreisky auf die Generationen deutsch-österreichischer Lehrer und Patrioten in seiner Familie. Aber auch ohne die wäre Kreisky für sein Bleiberecht und seine Austrianität der einzig zuständige Richter gewesen – und nicht die von ihm dazu indirekt ausersehenen Figuren wie Friedrich Peter oder Leopold Gratz, und seien diese noch so repräsentativ für kollektive Stimmungen in Österreich.

Aber Kreisky war und blieb, wie die allermeisten Verfolgten seiner Generation, ein Gefangener der antisemitischen Klischees, die Nichtjuden gegen ihn richteten, und folglich der eigenen Klischees, die er, der Spross einer westlich gebildeten, mitteleuropäischen Bürger-Familie auf die Juden Osteuropas applizierte: in der Auseinandersetzung mit israelischen Politikern, die aus Osteuropa stammten, wie etwa dem verstorbenen rechtszionistischen Premierminister Menachem Begin, verfiel er in eine verächtliche kollektive Etikettierung der "Ost-Juden" als kleinlich und engstirnig, so als hätten diese Menschen, per Essenz, nicht das Format und "das gute Auftreten", das er als Kennzeichen "vieler deutscher Juden bürgerlicher Herkunft" wähnte (6).

Erniedrigendes Faschingsduo

Kreiskys Methode der moralischen Abstriche im Umgang mit dem österreichischen NS-Erbe zwecks Gewährleistung des politischen Siegs steht in abgewandelter Form auch heute wieder in der SPÖ zur Debatte. Im Mai 2003 begab sich der SPÖ-Vorsitzende Alfred Gusenbauer ebenso überraschend wie demonstrativ in einen steirischen Landgasthof zu einer Mahlzeit im Tete-a-tete mit Jörg Haider. Auf dem Menü stand ein exquisites Spargelgericht. Die österreichischen Medien erwogen von nun an die Möglichkeit einer "Spargel-Koalition". Tatsächlich weigerte sich Gusenbauer in anschließenden Interviews, eine Koalition mit dem nationalpopulistischen Einpeitscher auszuschließen.

Ein Vorzeichen hatte es schon beim Kärntner Fasching in Villach (das österreichische Pendant zum Kölner Fasching) gegeben. Da bot sich ein besonders erniedrigendes Schauspiel: Gusenbauer und Haider, Seite an Seite, beide mit ähnlich dodeligen Langhaar-Perücken ausstaffiert, gaben ein humoriges Duo zum Besten.

Tatsächlich kam es nach den Kärntner Landtagswahlen im März 2004, in Absprache mit Gusenbauer, zu einer Regionalkoalition zwischen der FPÖ (42,4 Prozent der Stimmen) und der SPÖ (38,4 Prozent). Der örtliche SP-Chef und der zum dritten Mal gekürte Landeshauptmann Haider besiegelten ihren Regierungspakt bei einem festlichen Chianti-Umtrunk. Haider, bei sämtlichen anderen Wahlen in Österreich auf der Verliererstraße, jubelte über das Ende des gegen ihn, von der SPÖ betriebenen Ausgrenzungskurs. Österreichs Kanzler Wolfgang Schüssel, der vier Jahre zuvor die Regierungskoalition auf Bundesebene zwischen seiner ÖVP und der Haider-Partei gewagt hatte, quittierte den sozialdemokratischen Tabubruch in Kärnten mit höhnischer Genugtuung.

Diese Avancen gegenüber Haider stießen nicht nur in den übrigen sozialdemokratischen Parteien Europas auf Verständnislosigkeit, sondern – immerhin – auch auf ansatzweises, innerparteiliches Missfallen, namentlich seitens des Wiener Bürgermeisters Michael Häupl.

In mehrerlei Hinsicht ist die Konstellation der diesbezüglichen öffentlichen Diskussion aber eine andere als zu Kreiskys Zeiten: abgesehen von dem unterschiedlichen Gewicht der Persönlichkeiten Kreiskys und Gusenbauers hat sich das sozialkulturelle Klima Österreichs in den letzten Jahrzehnten spürbar verändert: eine breite, eher linksliberal orientierte, städtische Bildungsschicht gibt heute dem Land ein Gepräge, das eine Verharmlosung oder (Teil)Rechtfertigung der Naziperiode wesentlich erschwert. Das gilt in beträchtlichem Ausmaß gerade für die neuen Kerngruppen der rot-grünen Wählermehrheit in Wien. Bürgermeister Häupl selber kann von seinem politischen Werdegang her als ziemlich typischer Träger der Wertvorstellungen dieses neuen urbanen Mittelschichtsmilieus betrachtet werden: er stammt aus einer ÖVP-nahen Familie, als Gymnasiast, war er Mitglied einer rechten Burschenschaft, geriet zu ihr in scharfem Gegensatz und wurde in den siebziger Jahren, an der Universität, Mitglied des sozialistischen Studentenverbands, der am linken Flügel der SPÖ angesiedelt ist.

Die selbstkritische öffentliche Beschäftigung mit dem NS-Erbe wurde auch durch das Aussterben seiner Träger erleichtert. Der Aufstieg der FPÖ zur zweitstärksten Partei Österreichs mit fast 27 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen 1999 stellte zwar, unter anderem, einen Rück- und Gegenschlag jener Teile der Bevölkerung dar, die die Infragestellung ihrer postnazistischen Erinnerungskultur als Ärgernis empfanden. Aber auch diese Schlacht mündete in einen neuerlichen, selbstkritischen Introspektionsschub der österreichischen Öffentlichkeit. Begünstigt, um nicht zu sagen erzwungen, wurde dieser abermalige historische Rückblick durch die kombinierte Kraft der österreichischen Protestbewegung gegen den Amtsantritt der Koalition zwischen der ÖVP und Haiders FPÖ, im Februar 2000, die anfänglichen diplomatischen Sanktionen der übrigen Staatsführungen der Europäischen Union gegen diese österreichische Regierung (bis September 2000) und die erhöhte Aufmerksamkeit der westlichen Medien für Österreich.

Auch das Ergebnis der letzten österreichischen Präsidentenwahl, im April 2004, ist Ausdruck eines veränderten Kräfteverhältnisses. Der SP-Kandidat Heinz Fischer erhielt den entscheidenden Wählerzustrom vonseiten der Grünen, als er sich in verhältnismäßig klarer Form gegenüber Jörg Haider abgrenzte, während die ÖVP-Kandidatin offensichtlich auch für die Unterstützung seitens der FPÖ abgestraft wurde.

Mit Sozialkritik einen moralischen Imperativ erbetteln?

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels befand sich Haiders FPÖ, mit Ausnahme Kärntens, in allen Regionen Österreichs auf dem Sturzflug nach unten. Bei den Wahlen für das EU-Parlament 2004 kam die FPÖ nur mehr auf 6,3 Prozent (bei den vorhergehenden EU-Wahlen 1999 hatte sie noch 23,4 Prozent erlangt.) Die Wahlschlappen der Haider-Partei ereigneten sich freilich nie als nachweisliche Folge von provokanten Äußerungen von FP-Politikern zur Nazivergangenheit. Haiders Niedergang erfolgte nach seinen zickigen Kehrtwenden und der Enttäuschung seiner Wähler in der Arbeiterschaft über die von der FPÖ in der Regierung mitgetragene, schmerzhafte Reform des österreichischen Wohlfahrtsstaats.

Auf letzteres zielte Gusenbauers Spargelkurs. Gusenbauer unterbreitete Haider das öffentliche Angebot, aus seiner Kritik an der "neo-liberalen" Regierungspolitik Konsequenzen zu ziehen und gegen Schüssel im Parlament zu stimmen. Das voraussehbare Kneifen Haiders sollte den Arbeitnehmern die Inkonsequenz ihres angeblichen Fürsprechers beweisen. Von einem taktischen Gesichtspunkt aus, könnte sich dieser Kurs für die SPÖ rechnen: bedenkt man, dass die Haider-FPÖ in ihrer Aufstiegsphase vor allem eine große Anzahl von jungen Erstwählern aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu gewann, ist die Überlegung vertretbar, dass eine frontale Ausgrenzung der FPÖ möglicherweise ein Hindernis bei der (Rück-)Gewinnung dieser enttäuschten FPÖ-Erstwähler darstellt.

Die ebenfalls taktischen Einwände gegen den Spargelkurs: Gusenbauer wertete dadurch den (zurzeit) abgehalfterten FPÖ-Tribun wieder unnötig auf. In den Reihen der SPÖ sorgte Gusenbauer durch diesen Tabu-Bruch für eine gewisse Verunsicherung (die sich aber, wie die seitherigen Wahlen und internen Diskussion der SPÖ zeigten, in Grenzen hielt). Einige Wähler dürfte Gusenbauer allerdings durch seinen zeitweiligen Flirt mit Haider von der SPÖ zu den Grünen getrieben haben.

Man kann also, aus der Sicht der SPÖ, sowohl taktische Vor- als auch Nachteile für den Gusenbauer-Kurs gegenüber der FPÖ orten. Der springende Punkt ist aber, dass sich die aktuelle sozialpolitische Auseinandersetzung in Österreich nicht mit dem moralischen Zusammenbruch der österreichischen Gesellschaft vor 67 Jahren vermengen lässt.

Zweifellos sind in den Bewegungen und Parteien der Linken eher jene Persönlichkeiten anzutreffen, die die Beschäftigung mit dieser Erblast als Teil ihrer Tradition, ihres Weltbilds und ihres Einsatzes für gerechtere Verhältnisse betrachten. Aus diesen Reihen kamen auch die jungen und konsequentesten Aktivisten des zivilgesellschaftlichen Aufbäumens gegen den Amtsantritt der Regierungskoalition zwischen der ÖVP und Haiders FPÖ. Ihr Verdienst um die Ehrenrettung Österreichs ist immens. Ihre ausdauernden, oft bunten und halbspontanen Aktionen wurden von Kommentatoren als "antifaschistischer Karneval" etikettiert, was wohl als Verhöhnung gedacht war. Aber diese Kommentatoren müssen sich die Frage gefallen lassen, was passiert wäre, wenn der Griff der Haider-Partei zur Macht, 55 Jahre nach dem Holocaust, unbeantwortet geblieben wäre und keine massiven Proteste ausgelöste hätte. Diese Frage zielt nicht auf die aktuelle (Un)-Möglichkeit einer "faschistischen" Umgestaltung Österreichs, sondern vor allem auf den symbolischen Machtkampf zwischen Erinnerungskulturen. Die scheinbar so unverhältnismäßigen, "überzogenen Reaktionen" (wie diese Kommentatoren pedantisch bemäkelten) ergaben sich ja nicht so sehr aus Haiders eigenem, aktuellen realpolitischen Wirkungsradius, sondern primär aus dem Geschehenen. Wie wäre es ohne diese heftigen Reaktionen in Österreich auf Haiders Vormarsch, um die Selbstachtung vieler Österreicher und die politisch-kulturelle Hygiene in diesem Land bestellt gewesen? Wie unvergleichlich frecher hätten sich dann die Haiderianer, nicht zuletzt bezüglich der Interpretation des Geschehenen, gebärden können?

Diese Fragen zu stellen, heißt sie bereits zu beantworten. Jenseits dieser Fragen aber eröffnet sich eine weitere, fundamentalere Problematik: der Holocaust verträgt keine nachträgliche politische Sinnstiftung, etwa als "Lehre" oder "Argument" im "Kampf" gegen "den Kapitalismus" oder "die Ellbogengesellschaft". Ja sogar das bestens gemeinte "Nie wieder" enthält, je tiefer man in den Holocaust eindringt, und diesen auf sich dringen lässt, eine absurde Note. All diese Parolen müssen schon an der Dimension des Geschehenen scheitern.

Es ist auch nicht zulässig, sich für die, zugebenermaßen, meistens lästige Beschäftigung mit dem Holocaust quasi zu entschuldigen, indem man den Opfern eine nützliche Funktion für die Lebenden abverlangt – sie würden "mahnen" und sollten künftigen Generationen eine "Wiederholung" des Geschehenen ersparen. Das Geschehene kann uns aber diese gefällige Rechtfertigung nicht liefern, es braucht sie auch nicht zur eigenen Bedeutungserhöhung. So wie die gegenwärtigen sozialen Konflikte auch nicht die Einsicht in das Jahrtausend-Verbrechen quasi mitbedienen können.

Das Dilemma errechnete förmlich ein Kärntner SP-Politiker, der erklären wollte, weshalb seine Partei die Koalition mit der FPÖ schwerlich ablehnen konnte: die Anliegen der beiden Landes-Parteien wären "zu 80 Prozent" deckungsgleich, klagte der Sozialdemokrat. Es ist auch durchaus möglich, dass von diesen restlichen, strittigen zwanzig Prozent, im Kärntner Ambiente, kaum mehr als ein Prozent die gelegentlichen Versuche Haiders betreffen, die Nazivergangenheit zu verharmlosen und durch Teilaspekte, indirekt, zu rehabilitieren. Aber in diesem letzten, winzigen Prozentchen sind eben die sechs Millionen ermordeten Juden, darunter eineinhalb Millionen Kinder, enthalten. Ein politisch eigenschaftsloser Abgrund.

Selbst wenn Haider sich nicht als Steigbügelhalter der Schüssel-ÖVP (in der Optik der Reform-Verlierer unter den österreichischen Wählern) erwiesen hätte, selbst wenn er sich nicht als launischer Narziss lächerlich gemacht hätte, selbst wenn die FPÖ, einmal am Ruder, nicht sofort Vetternwirtschaft entfaltet hätte und in einen rekordverdächtigen Skandalstrudel geraten wäre, selbst wenn sich Haider nicht dem Verdacht ausgesetzt hätte, mit Hilfe von Polizeikreisen ein Bespitzelungsnetz angelegt zu haben, selbst wenn er bei seinem Spesenaufwand und seinen Finanzquellen nicht in eine derartige Schieflage geraten wäre, selbst wenn so viele seiner Minister an den leistungsmäßigen Anforderungen der Regierungsämter nicht so kläglich gescheitert wären, selbst wenn sich sein engster Verbündeter im kirchlichen Milieu nicht als Protektor von Kinderschändern gebärdet hätte… also selbst wenn all dies nicht gegen Haider sprechen würde (und die Liste ist weder vollständig noch abgeschlossen), müsste er einzig und allein wegen seiner einschlägigen Erklärungen zur NS-Periode, als Politiker im einstigen Kronland des Holocausts, definitiv unwählbar und nie mehr Allianzfähig sein. Man sollte um diesen moralischen Imperativ nicht betteln müssen, ihn nicht als eine Art Nebeneffekt anstreben, indem man etwa den FPÖ-Arbeiterwählern erst beweist, wie wenig der Millionär Haider sich doch um sie schert. Das wäre so ähnlich, wie Kreiskys eingangs erwähnter Versuch, durch eine semantische Klammer zwischen dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime und dem Regnum Hitlers, jene Opfer des ersteren doch noch gnädig zu stimmen, die sich dem zweiten begeistert angeschlossen hatten. Ein kläglicher Weg, aber vielleicht der einzig politisch gangbare im post-nazistischen Österreich.

Anmerkungen:
(1) Siehe dazu: Rudolf G. Ardelt und Hans Hautmann (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. Wien / Zürich, 1990. Helmut Konrad: Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten. S.73. Hans Schafranek: NSDAP und Sozialisten nach dem Februar 1934. S.91.
(2) Siehe dazu: Evan Burr Bukey: Hitlers Österreich. Hamburg / Wien, Januar 2001. Kapitel 4: Die Arbeiterklasse: Akzeptanz und Apathie.
(3) Eines der treffendsten, weil nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Eingeständnisse des Judenhasses als gemeinsamer gesellschaftlicher Nenner zugunsten der Nazis in Österreich verdanken wir Karl Renner, der selber, auch noch nach dem Holocaust, für die unverschämte und reuelose Gesinnung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung größtes Verständnis aufbrachte. Bei einer Kabinettsratssitzung am 29.August 1945 erklärte der damalige Staatskanzler: "Ich will nicht behaupten, dass ich damit recht habe, aber die Sache ist nach meinem Gefühl doch so, dass all diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die Nazi gar nicht weittragende Absichten gehabt haben – höchstens, dass man den Juden etwas tut – vor allem aber nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren. Wenn nun diese Leute schwer bestraft werden und ihre Stellung verlieren, so appellieren sie an das Mitleid und das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen und es kann sein, dass dann die Stimmung umschlägt; und dies umsomehr, als es fast keine sozialistische Arbeiterfamilie gibt – ich gebrauche dieses Wort für sozialdemokratisch und kommunistisch – die nicht in der näheren oder ferneren Verwandtschaft Leute hat, die mit den Nationalsozialisten mitgegangen sind." In Robert Knight (Hg.): "Ich bin dafür die Sache in die Länge zu ziehen". Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über Entschädigung der Juden. Frankfurt am Main, 1988. S.113.
(4) Rückblickend begründete Kreisky in seiner Autobiographie seine Haltung in der Südtirol-Frage: "Ich musste verhindern, dass man aus meiner sozialistischen Haltung und meiner kosmopolitischen Neigung, die manchmal mit meiner jüdischen Abstammung in Verbindung gebracht wurde, die Schlussfolgerung zog, ich würde mich mit dem Südtirol-Problem nicht intensiv genug beschäftigen". In: Bruno Kreisky: Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil. Wien 1988. S.148.
(5) Der holländische Journalist Martin van Amerongen, der Kreiskys Verhältnis zur NS-Problematik ein Buch widmete, war beim SPÖ-Parteitag im Juni 1970 zugegen: "Ein jüngerer Mann… stellte die Causa Wiesenthal zur Diskussion. Es war Leopold Gratz, damals Unterrichtsminister und Zentralsekretär der SPÖ… Ich war überrascht, ausgerechnet von einem Sozialisten hören zu bekommen, dass das Dokumentationszentrum Wiesenthals ein Femegericht sei. Was war das für ein Ton? War ich vielleicht zufällig zur Jahresversammlung eines deutschnationalen Traditionsverbands gekommen? Nein, ich befand mich tatsächlich mitten in der versammelten Führungsspitze der österreichischen Sozialdemokratie. Und Gratz hörte nicht auf… Das war his Masters Voice… und das passte den Delegierten ausgezeichnet, wie der laute Beifall zeigte… Danach ergriff ein älterer Mann das Mikrophon und rief…, dass seine Partei, die SPÖ, langsam "ganz von Nazis überwuchert wird". Dieser Sprecher – es war der ehemalige Widerstandskämpfer Josef Hindels – erhielt dagegen wenig Beifall". In: Martin van Amerongen: Kreisky und seine unbewältigte Gegenwart. Graz 1976. S.49.
(6) In: Bruno Kreisky: Zwischen den Zeiten. Berlin 1986. S.370

hagalil.com 07-01-2005

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