Von Max Brym
Ende Dezember 2004 legte das in Prishtina beheimatete
Wirtschaftsinstitut "Riinvest" eine Studie zur sozialen Lage in Kosova vor.
Die Ergebnisse der Untersuchung sind erschreckend. Das Institut
diagnostizierte, dass in Kosova "über 12% der Einwohner in extremer Armut
leben". Weitere 50% der Bevölkerung leben "in trostloser Armut und befänden
sich auf dem Weg in die absolute Armut".
Der Bericht geht nicht von einer Verbesserung des Lebens der
Kosovaren in den letzten Jahren aus, sondern von einer weiteren
"Verschlechterung der Situation". Riinvest kommt zu dem Schluß: "Kosova ist
das ärmste Gebiet in Europa und der Lebensstandard läßt sich am ehesten mit
einem Land wie Tadschikistan vergleichen."
Soziales Desaster
Offiziell sind in Kosova 57% der Menschen arbeitslos. Die
tatsächliche Arbeitslosigkeit dürfte allerdings bei fast 80% liegen.
Insgesamt hat Kosova eine Gesamtbevölkerungszahl von knapp 2,5 Millionen
Einwohnern. Das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters liegt pro Monat bei
200 Euro (Angaben Riinvest, der Euro ist Landeswährung). Die meisten
Arbeitsplätze des Landes gibt es in Prishtina. Hauptsächlich sind das
Tätigkeiten im "Öffentlichen Dienst" und Beschäftigungsverhältnisse, die eng
mit der UNMIK Bürokratie verbunden sind.
Ein Rentner erhält eine Pension von höchstens 40 Euro im Monat.
Die Lebenshaltungskosten sind mit den Preisen in Deutschland zu vergleichen.
Ein Rentner gilt demzufolge zu Recht als arm. In der Armutsstatistik finden
auch viele regulär beschäftigte Arbeiter mit Familie ihren Platz. Aber noch
extremer ist die Lebenssituation der Arbeitslosen mit den dazugehörigen
Kindern. In der Untersuchung von "Riinvest" heißt es: " 34% der Albaner und
4% der Serben leben von weniger als 1 Dollar pro Tag". Insgesamt sollen 64%
der Albaner und 49% der Serben von weniger als 2 Dollar pro Tag leben.
Einige albanische Zeitungen sprachen im Herbst 2004 die Befürchtung aus,
"dass es im Winter die ersten Hungertoten in Kosova geben wird". Eine
Besserung der Lage ist nicht in Sicht.
In der Studie wird konkret dargelegt, dass in der Stadt
Prishtina im Jahr 2003 23.000 Personen Arbeit suchten, von diesen
Arbeitsuchenden fanden bis Ende 2004 nur 383 Leute einen Arbeitsplatz. Die
Zahl der Arbeitsuchenden war aber Ende 2004 in Prishtina, wie im ganzen
Land, um einiges höher wie Anfang 2003. Erschreckend sind auch Zahlen aus
der Stadt Gjakova, dort gab es 1990 noch 30.000 Arbeitsplätze - heute sind
es nur noch ca. 1.500. Kosova durchlebt momentan die schlimmste Rezession,
die es je erfahren hat. Seit September 2000 haben sich die
Lebenshaltungskosten verdoppelt, während die Löhne gleich blieben oder sogar
sanken. Rund 70% des Einkommens der kosovarischen Familien besteht aus
internationalen Spenden und Diaspora-Sendungen. Beides geht jedoch immer
stärker zurück. Fast alle internationalen NGOs arbeiten nach
marktwirtschaftlichen Prinzipien. Die "Hilfsstationen" ziehen in Gebiete
weiter, welche im Fokus des öffentlichen Interesses stehen. Der potentielle
Spender in der Metropole wird über die Schlagzeile aus der bürgerlichen
Presse angesprochen. Private Firmen schrecken davor zurück in dem Gebiet zu
investieren. Zwar gibt es objektiv "ausbeutungsfähiges Menschenmaterial" in
Kosova, aber keine Rechtssicherheit.
Der ungeklärte politische Status Kosovas behindert die
Entwicklung "normaler" kapitalistischer Verhältnisse. Kosovarische
Einrichtungen wie das Parlament haben keinerlei Kompetenzen. Jeder Beschluß
der örtlichen "Regierung" muß dem Protektoratsleiter der UNMIK vorgelegt
werden. Der serbische Staat regiert zusätzlich nach Kosova hinein, indem er
serbische Beamte, die mit 200 Euro von der UNMIK bezahlt werden, zusätzlich
mit 500 Euro pro Monat ausstattet, um rein serbische Parallelstrukturen in
Kosova zu entwickeln. Immer deutlicher zeichnet sich die Absicht der
serbischen Regierung ab, Kosova ethnisch zu teilen.
Interessant ist für Belgrad der wirtschaftlich reiche Norden,
das Gebiet um die Stadt Mitrovica. Einst war das Kombinat Trepca in Europa
der zweitgrößte Betrieb in Sachen Zink-, Kupfer- und Bleiförderung. Heute
liegt das ehemalige Kombinat flach, eine Förderung oder gar Verarbeitung der
Rohstoffe findet nicht statt. Die UNMIK vergab eine Option für die Förderung
an ein französisch-schwedisch-amerikanisches Kapitalkonsortium. Dagegen
wehrt sich die serbische Regierung, sie besteht auf "ihrem"
Eigentumsanspruch. Im Bündnis mit der serbischen Regierung stehen private
Firmen aus Frankreich und Griechenland, die von der Regierung unter
Milosevic Teile von Trepca erworben haben wollen. Überhaupt nicht zur
Debatte steht die Forderung der albanischen Bergarbeitergewerkschaft, die
die ehemaligen Arbeiter als Eigentümer von Trepca betrachten, da im alten
Jugoslawien die Betriebe "Gruppeneigentum" der Arbeiter waren. Die
Bergarbeitergewerkschaft bot den serbischen Arbeitern im Norden der
geteilten Stadt Mitrovica ein Abkommen an, um gemeinsam die Produktion
wiederaufzunehmen. Dieses Vorhaben stößt auf den Widerstand der UNMIK und
natürlich auf den Widerstand sämtlicher Nationalisten.
Abschiebungen fördern das soziale Elend
Die bisherigen Strukturen von Bildung, sozialer Wohlfahrt,
Gesundheitsvorsorge und Sicherheit können mit der großen Anzahl an
rückkehrenden Flüchtlingen nicht Schritt halten. Das Land kann den
Rückkehrern weder Unterkunft noch soziale Sicherheit gewähren. Ganz im
Gegenteil, besonders wichtig für die Bevölkerung in Kosova sind die Gelder
von Familienmitgliedern aus westlichen Staaten. Diese Existenzgrundlage wird
der Bevölkerung aufgrund der rigorosen europäischen Abschiebepolitik nach
Kosova genommen. Führend in der Abschiebung von Menschen nach Kosova ist die
BRD.
Jede Nacht finden in Deutschland Jagden nach Menschen aus
Kosova statt, um sie umgehend abzuschieben. Kalt ignorierte vor einigen
Monaten Bundesinnenminister Schily einen Appell der UNMIK. Diese forderte
ihn auf, "von den Abschiebungen aufgrund der vorhandenen sozialen und
ethnischen Probleme abzusehen". Besonders die Sicherheit der
nicht-albanischen BürgerInnen stellt ein großes Problem dar. Insbesondere
Gewalt zwischen den verschiedenen "ethnischen Gruppen" ist noch immer an der
Tagesordnung. Dazu sinkt der Lebensstandard der Bevölkerung dramatisch.
Wie geht es weiter in Kosova?
Das UNMIK-Experiment Kosova wird von der Bevölkerung, egal
welcher Nationalität, als gescheitert angesehen. Die Albaner nennen die
UNMIK meist ARMIK, was zu deutsch 'Feind' heißt. Der UNMIK-Bürokratie wird
zu Recht Inkompetenz und Arroganz vorgeworfen. Erregung lösen die
"überdimensionierten" Gehälter der UNMIK-Bürokraten aus. Der Chef der
Telefongesellschaft verdient über 20.000 Euro monatlich. Ausländische
Polizisten, die keine Ahnung von den Gegebenheiten in Kosova haben,
verdienen das 10-fache ihrer einheimischen Kollegen. Diese gerechtfertigte
Ablehnung der UNMIK wird durch den vorhandenen mehrheitsfähigen
Nationalismus kanalisiert. Nach dem Motto: Wenn zwei sich streiten, freut
sich der Dritte, nützt der Konflikt zwischen Albanern und Serben nur der
UNMIK.
Allerdings hat die UNMIK auch kein Interesse daran, dass es zu
nationalistischen Exzessen wie im März 2004 kommt, in denen die Gefahr
besteht, daß die UNMIK-Herrschaft plötzlich selbst in die Feuerlinie gerät.
Die UNMIK ist an einem dosierten Nationalismus interessiert, obwohl sie
ständig Phrasen über die Schaffung eines "multiethnischen" Kosovas von sich
gibt. Gegenwärtig gibt es sowohl auf albanischer wie serbischer Seite
Gruppen und Einzelpersonen, die sich für eine Beendigung des nationalen
Haders aussprechen. Entscheidend könnte die Arbeit der unabhängigen
Berarbeitergewerkschaft in Mitrovica werden. Sie richtet den Fokus ihrer
Arbeit auf die soziale Frage. Politiker wie Adem Demaci (ehem. politischer
Sprecher der UCK, bis März 1999) setzen sich für den zwischennationalen
Dialog und das Ende jeglicher Diskriminierung in Kosova ein.
Der ehem. Studentenführer Albin Kurti (bis Anfang 2001 in
serbischer Haft) greift den "dummen Nationalismus" auf allen Seiten an.
Dennoch sprechen sich sowohl Demaci wie Albin Kurti für das
Selbstbestimmungsrecht Kosovas aus. Es ist tatsächlich nötig, den Status von
Kosova endgültig zu klären. Denn ohne Lösung der Statusfrage hat eine
multiethnische soziale Bewegung keine Chance. Jede Armut und soziale
Diskriminierung würde weiter von nationalen Debatten überlagert werden. Jede
Art von Protektorat sowie jede Art von Fremdbestimmung gegen den
Mehrheitswillen der Bevölkerung kann nur zu neuerlichen nationalistischen
Exzessen führen und die soziale Frage weiter dramatisch zuspitzen.