Kurz vor Kriegsende fliegt die jüdische
Widerstandsbewegung in Auschwitz auf: vier junge Jüdinnen sterben am Galgen
Von Gabriele Lesser
Esther Wajchblum geht die Stufen zum Galgen hinauf. Sie schwankt
leicht. Drei Monate ist sie von SS-Männern gefoltert worden. Wie betäubt
lässt sie den Blick über die zum Abend-Appell angetretenen Frauen streifen.
Hinter ihr geht Roza Robota. Den Trommelwirbel der SS hört sie kaum. Sie
hebt den Kopf, sucht zwischen den vielen Frauengesichtern nach dem ihrer
jüngeren Schwester. Am Galgen hängen noch die beiden Frauenleichen vom
Nachmittag.
Das Trommeln hört auf. Grelle Scheinwerfer richten sich auf den Henker
und jeden seiner Handgriffe. Er zieht die Schlingen zu. Es knackt und
knirscht. Ein Schrei gellt durch Auschwitz, den kaum jemand vergessen kann,
der ihn hört: Hanka Wajchblum, die 16jährige Schwester Esthers will lieber
sterben, als allein zurückzubleiben, als einzige ihrer Familie. Mithäftlinge
halten die Verzweifelte davon ab, sich etwas anzutun. Es ist Sonntag, der 6.
Januar 1945, kurz nach 20 Uhr.
Die Nazis lösen das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau auf. Über eine
Million Menschen, die meisten davon Juden, haben sie in den Gaskammern des
KZs ermordet. Im November 1944 tragen Häftlinge Ziegel um Ziegel ab, was
andere gut drei Jahre zuvor bauen mussten. Der Platz der Gaskammern wird
planiert und mit Rasen bedeckt. Jetzt sollten die Engländer oder Russen
kommen und beweisen, dass es in Auschwitz Gaskammern gegeben hätte. Der
Krieg ist fast zu Ende, die Niederlage abzusehen. Die Deutschen versuchen,
die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen.
Am 7. Oktober 1944 hatte es einen jüdischen Aufstand in
Auschwitz gegeben. Häftlinge des sogenannten "Sonderkommandos", die die
Leichen aus den Gaskammern holen und zu den Krematorien schaffen mussten,
sprengten eines der Krematorien. Sie töteten vier SS-Männer und verletzten
viele lebensgefährlich. Fast wäre der Aufstand und die geplante Massenflucht
gelungen. Doch die polnische Widerstandsbewegung kam der jüdischen nicht zu
Hilfe.
Denn Polen in Auschwitz mussten anders als Juden nicht mit dem
Tod durch Vergasung rechnen. Jeder Tag, den sie länger lebten, brachte sie
dem Kriegsende und damit der Freiheit näher. Juden hingegen, gerade jenen
des Sonderkommandos, drohte mit der Liquidierung des KZs auch der eigene
Tod. Denn sie hatten die Gaskammern mit eigenen Augen gesehen, hatten den
Toten Goldzähne ausbrechen und deren Kleidung zum Sortieren wegbringen
müssen. Sie waren gefährliche Zeugen.
Mit dem Aufstand in Auschwitz hatte die SS nicht gerechnet.
Woher hatten die rund 600 Mann des Sonderkommandos Waffen und Munition? Die
Frauen, die in der Munitionsfabrik "Union" arbeiteten, wurden streng
kontrolliert. Jeder Kontakt zu den Männerkommandos war ihnen streng
verboten. Dass es der jüdischen Widerstandsbewegung in Auschwitz dennoch
gelungen war, Sprengstoff aus der Munitionsfabrik zu schmuggeln und
Handgranaten zur Zerstörung der Gaskammern und Krematorien zu bauen, machte
den Nazis Angst. Sie ermordeten auf der Stelle alle Häftlinge des
Sonderkommandos, die lebend in ihre Hände fielen. Die vier Frauen, deren
Namen sie durch einen Spitzel erfahren hatten, folterten sie monatelang. Wie
viele Widerstandskämpferinnen hatten Sprengstoff aus der Munitionsfabrik
geschmuggelt? In welchen Mengen? Wie viele Granaten waren noch im Umlauf?
Wie groß war die jüdische Widerstandsbewegung im Auschwitz? Doch die vier
Frauen hielten den Erniedrigungen und Schlägen stand, ertrugen Kälte und
Isolationshaft, Hunger und Durst. Ganze Tage und Nächte waren sie allein mit
ihren Peinigern. Sie verrieten nichts und niemanden.
Die Front rückt näher. Am 5. Januar 1945 müssen Häftlinge vor
der Küchenbaracke im Frauenlager von Auschwitz einen Galgen errichten. Es
schneit. Hinter den elektrisch geladenen Stacheldrahtzäunen sind die
schneebedeckten Hügel der Beskiden zu sehen. Die vier Frauen werden
öffentlich hingerichtet zur Abschreckung und "im Namen des Rechts". Noch
sind über 60.000 Häftlinge im Lager. Es ist die letzte Hinrichtung in
Auschwitz vor der Befreiung durch die Rote Armee. "Sie haben vielen Jüdinnen
und Juden in der Widerstandsbewegung in Auschwitz das Leben gerettet", sagt
Gideon Greif von der Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. "Auch die
junge Schwester von Esther Wajchblum hat überlebt. Hanka ist nach dem Krieg
in die USA emigriert."
Weitere Informationen:
Sonderkommando Auschwitz:
Wir weinten tränenlos