Palästinensische Wahlen:
Auf den Schultern des Alten
Der neue PLO-Vorsitzende Mahmoud Abbas
will von der Popularität des verstorbenen Yassir Arafat profitieren. Er geht
mit kämpferischen Parolen auf Stimmenfang.
Von Michael Borgstede, Tulkarem
Jungle World 1 v.
05.01.2005
In Tulkarem machte Mahmoud Abbas noch keine gute Figur.
Ganz wie der verstorbene Yassir Arafat es bisweilen zu tun pflegte, hatte
der neue PLO-Vorsitzender seine Wahlkampfrede mit einem Zitat aus dem Koran
begonnen. Doch als die Menge dann genau so reagierte, wie sie das zu Arafats
Zeiten auch immer getan hatte, und etwas von "einer Million Märtyrern" auf
dem Weg nach Jerusalem brüllte, da schien Abbas sich in seiner Haut
plötzlich nicht mehr so recht wohl zu fühlen.
Arafat hätte gelächelt, mit der Faust rhythmisch gen Himmel
gestoßen und mitskandiert. Abbas stand bewegungslos hinter dem Rednerpult,
nestelte verlegen an seiner Krawatte und wartete, bis die Menge sich wieder
beruhigte. Dann setzte er seine Rede fort. Er forderte Israel zum Ende der
Besatzung auf, pochte auf eine "gerechte Lösung" für die palästinensischen
Flüchtlinge und versicherte, "keinerlei Siedlungen in Palästina" dulden zu
wollen. Die Taktik schien leicht durchschaubar. Abbas, der moderate
Pragmatiker, will im Wahlkampf an Profil gewinnen und sich als standfester
Vertreter der palästinensischen Interessen anbieten. Bis zum Wahltermin am
9. Januar will er seinen Ruf als Weichling und Marionette der Israelis und
Amerikaner loswerden und die Zweifler von seiner Kompetenz als
Regierungschef überzeugen.
Sein wichtigster Wahlhelfer dabei heißt Yassir Arafat. Bei
jeder Wahlveranstaltung der vergangenen Tage stand der ehemalige Präsident
im Mittelpunkt. "Ich werde Abu Amrs Vermächtnis in Ehren halten und nicht
von seinem Weg abweichen", versicherte Abbas auch in Tulkarem. Dann wandte
er sich direkt an den verstorbenen Palästinenserpräsidenten: "Was immer du
bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt hast, wovon du bei unseren Treffen
auch gesprochen hast, es ist unsere heilige Pflicht, deinen Willen zu
erfüllen, solange wir leben." Es folgte eine Schweigeminute und das
Versprechen, die "palästinensische Revolution" nicht eher zu beenden, bis
Arafat auf dem Tempelberg in einer palästinensischen Hauptstadt Jerusalem
seine ewige Ruhe gefunden habe.
Im Wahlkampf für die Präsidentenwahl am 9. Januar sonnt sich
Abbas, wo immer er kann, im Schein des längst mythisch verklärten Arafat.
Die Machtkämpfe während des kurzen Intermezzos von Abbas als
Ministerpräsident erwähnt niemand mehr. Die neue Botschaft lautet: Eine
Stimme für Abbas ist das gleiche wie eine für Arafat. Deshalb zeigt jedes
Wahlplakat und jede Zeitungsanzeige Abbas gemeinsam mit Arafat. "Kameraden
im Kampf" steht dann darunter oder "Gemeinsam für Palästina".
Bezeichnenderweise dominiert meistens Arafat das Bild.
In Jenin, zwei Tage nach dem Auftritt in Tulkarem, kommt
Abbas schon erheblich selbstsicherer daher. Maschinengewehrsalven der
militanten al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden heißen den Kandidaten willkommen, der
lokale Chef der Brigaden, Zakaria Zubeidi, geleitet den Konvoi durch die
engen Gassen des Flüchtlingslagers. Vor dem Friedhof, wo nicht wenige
Kampfesgenossen von Zubeidi ruhen, nimmt der junge Mann den alten Kandidaten
sogar auf die Schultern. Abbas und die Militanten? Was war geschehen? Doch
das war nur der Anfang. Wenig später sollte der PLO-Vorsitzende im
Gaza-Streifen seine Verbundenheit mit jenen ausdrücken "die Israel
bekämpfen". Sie seien "wahre Helden im Freiheitskampf", sagte er in Rafah.
Die Palästinenserbehörde werde nicht mit Waffengewalt gegen diese
"Freiheitskämpfer" vorgehen.
Mit seiner Forderung nach einem Rückkehrrecht für die
palästinensischen Flüchtlinge brachte er am Montag dieser Woche für viele
Israelis das Fass zum Überlaufen. Außenminister Silwan Shalom gab sich
ungehalten: "Diese Dinge können wir nicht ignorieren", sagte er. "Das ist
sehr, sehr unschön." Man werde zwar alles tun, um den Palästinensern freie
Wahlen zu ermöglichen, erwarte aber schon am "nächsten Tag" ein
entschiedenes Vorgehen gegen die Terrororganisationen und ein Ende der
anti-israelischen Hetze in den Medien. Auch US-Außenminister Colin Powell
forderte von der zukünftigen palästinensischen Führung bereits jetzt, der
Gewalt nach der Wahl ein Ende zu bereiten. Er nannte Abbas’ Ausritt auf den
Schultern von Zubeidi "verstörend". Sollten die Palästinenser sich nicht vom
Terror abwenden, "werden wir wieder stecken bleiben", sagte Powell dem
US-amerikanischen Sender NBC.
Nun weiß Außenminister Shalom natürlich so gut wie Colin
Powell, dass man im Wahlkampf nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen darf.
Dennoch macht man sich in Jerusalem angesichts der jüngsten Entwicklungen
ernsthaft Sorgen. Noch im November hatte Abbas mit dem Chef des
palästinensischen Fernsehens konferiert und um Mäßigung bei der alltäglichen
Propaganda gebeten. Der radikale Hetzprediger Ibrahim Madayins verschwand
sogar für einige Wochen vom Bildschirm. Am vergangenen Freitag war er wieder
auf Sendung.
Radikalisiert sich der sonst so nüchtern überlegte Abbas nur,
um bei den Wahlen möglichst gut abzuschneiden? Oder – wie manch einer in
Israel fürchtet – meint er tatsächlich, was er sagt, und unterscheidet sich
von Arafat nur durch das äußere Erscheinungsbild? Richtig ist wohl beides.
Die Hoffnung, mit Abbas würde automatisch Frieden und Versöhnung in den
Nahen Osten einziehen, war immer naiv. Abbas’ Forderungen – ein Staat ohne
israelische Siedler in den Grenzen von 1967 mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt
und ein bestenfalls begrenztes Rückkehrrecht der Flüchtlinge – sind in den
besetzten Gebieten Konsens. Davon wollen in Israel nur die Wenigsten etwas
hören.
Andererseits befindet der uncharismatische Krawattenträger
sich auf Stimmenfang und möchte dabei vor allem den Einfluss der radikalen
Islamisten eindämmen. Die nehmen an der Wahl zwar nicht teil, haben aber zum
Boykott aufgerufen. Abbas will potenzielle Nichtwähler ebenso auf seine
Seite ziehen wie die vom jahrelangen Konflikt erschöpfte Mittelklasse. Zwar
hat er den Wahlsieg schon in der Tasche, dennoch stärkt jede Stimme sein
Mandat und verschafft ihm nach der Wahl einen größeren Handlungsspielraum.
70 Prozent der Stimmen, so wird im Umfeld des zukünftigen
Präsidenten gemunkelt, sind gewünscht. Das wäre ein Mandat, mit dem sich
regieren ließe. Letzten Umfragen zufolge lag er Ende 2004 bereits bei 65
Prozent. Immerhin 71 Prozent der Befragten glaubten, Abbas sei am meisten
geeignet, um mit den Israelis Frieden zu schließen. Ob die harten Worte der
vergangenen Tage dann auf einmal vergessen sind und zu welchen
Zugeständnissen Abbas wirklich willens und fähig ist, wird wohl vorerst ein
Geheimnis bleiben. Trotz seines etwas tumben Auftretens ist er ein
erfahrener und gewiefter Politiker. Er wird – wie Ariel Scharon auf der
anderen Seite – seine Karten kaum vor Verhandlungsbeginn auf den Tisch
legen.
Ein Indikator für einen Stimmungswechsel in den besetzten
Gebieten könnten die Werbespots für die Genfer Initiative sein, die seit
einigen Tagen im palästinensischen Fernsehen gezeigt werden. Ein
Ausstrahlungsversuch vor einem Jahr endete mit einem demolierten
Fernsehstudio, jetzt kam es nur zu wenigen unaufgeregten Protesten. Die
Produktionsfirma gehört übrigens den Brüdern Yassir und Tarik Abbas. Ihr
Vater kandidiert am 9. Januar bei der palästinensischen
Präsidentschaftswahl.
hagalil.com 07-01-2005 |