Die Kurden:
Ein Volk ohne Staat
Von Haydar Isik
Nächste Woche wird mit Sicherheit über einen Termin für
die Beitrittsverhandlungen der Türkei in die Europäische Union entschieden.
Aber wie ich von der Presse entnommen habe, wird dieser Beitritt durch
manche Bedingungen erschwert. Die Türkei muss Zypern anerkennen, ihre
Probleme mit Griechenland lösen und darf in Gefängnissen nicht foltern.
Kein einziges Mal hört man von den EU-Behörden, dass die Türkei den 20
Millionen Kurden im Land ihre Geburtsrechte geben soll. Um die Türkei nicht
zu verärgern, ignorieren sie in diesem Fall das kurdische Volk, aber um die
Kurden zu beruhigen, verleihen sie Leyla Zana, die zehn Jahre im Gefängnis
saß, weil sie im türkischen Parlament den Abgeordneteneid auch in kurdisch
ausgesprochen hatte, den Sacharow Preis.
Die Behörden behaupten, dass die EU nicht mit den Kurden sondern mit dem
türkischen Staat den Beitritt verhandeln. Mag sein, aber sind sie blind,
dass sie 20 Millionen Kurden nicht sehen? Obwohl die Türkei gegen Kurden
einen Krieg führt, Tausende ihrer Dörfer dem Erdboden gleich gemacht hat,
die Identität der Kurden immer noch ignoriert, den kurdischen Kindern keine
Möglichkeit gibt in den staatlichen Schulen ihre Muttersprache zu erlernen,
sieht man all dies nicht als Probleme?
"Einen Schafsbock erkennt man an der Schwelle des Stalls", sagen die Kurden.
Gestern haben die Europäer Saddam Hussein mit Giftgas versorgt und die
Türkei mit aller Art Waffen aufgerüstet, vor allem die Bundesrepublik
Deutschland, die diese Waffenlieferung auch während der Rot-grünen Regierung
großzügig weiter führt. Heute erwartet man von denen nicht, dass sie ein
Gewissen besitzen. Solange die Welt Welt bleibt, wird der Wolf den Schafen
auflauern, sagen die Kurden.
Da die Kurden keinen Staat und auch keine Lobby haben, glauben die Europäer,
mit ihnen umgehen zu können, wie es ihnen passt. Das ist nicht nur eine
Gewissenlosigkeit sondern auch ein großer Fehler. Heute leben in den Grenzen
der EU nahezu zwei Millionen Kurden. Wenn die Türkei Beitritt, wird die
Einwohnerzahl der Kurden 22 Millionen sein.
Kann man so ein großes Volk rechtlos halten wie in der Türkei? Wenn nicht,
warum stellt man der Türkei nicht ganz offen jetzt die Bedingung, dass der
Weg in die EU nur möglich ist, wenn das Kurden-Problem politisch gelöst ist.
Einmal sagte mir ein Richter nach seinem Gerichtsurteil: "Wenn Sie einen
Staat hätten, würden Sie nicht da stehen." Seitdem betrachte ich dies als
einen weisen Rat.
Die Türkei rühmt sich, dass sie die Kopenhagener Kriterien erfüllt hat.
Manche EU Länder vor allem die Bundesrepublik bescheinigt die Änderungen in
der Türkei als ausgezeichnet. Sie denken im Vordergrund an ihre Interessen,
und wie sie mit der Türkei Geschäfte abschließen können, aber sie schließen
die Augen um das wahre Problem nicht zu sehen. Diese Haltung tut weder
Türken noch Kurden und schon gar nicht den Europäern besonders gut, weil sie
das Kurdenproblem in diesem Stadium, bevor man der Türkei einen
Verhandlungstermin gibt noch nicht behandelt haben.
Die türkischen Politiker äußern sich als ob der Beitritt schon beschlossen
wäre. Sie sagen ganz offen, dass sie kein Kurdenproblem haben, weil die EU
es ignoriert hat. Also, sie kann nur die Hausaufgabe machen, die von ihr
verlangt werden. Schließlich hat sie den Kurden die Duldung des privaten
Sprachunterrichts ermöglicht und im staatlichen Fernsehen eine Stunde in der
Woche im lokalen Dialekt genehmigt. Das ist alles.
Wer das Problem eines Volkes mit 20 Millionen Einwohnern auf diese Art
ignoriert, wird das Problem auf die Zukunft übertragen. Da die Machthaber
der Türkei knallharte rassistisch und faschistoidisch ideologisierte
Kemalisten sind, und zu Ungunsten ihres Regimes keine Reformen machen
werden, dachten wir, dass die EU das Land zu den demokratischen Reformen
zwingen würde. Doch rühmt sich diese, dass sie in der Türkei viele
Fortschritte ermöglicht hat. Aber der türkische Soldat tötet weiter
kurdischen Kindern, die Polizei foltert weiter die Kurden.
Wenn die kurdische Identität noch nicht in der Verfassung der Türkei
verankert ist, wenn die kurdischen Kinder nicht in den staatlichen Schulen
ihre Muttersprachen erlernen dürfen, wenn die Kurden sich nicht in ihrer
Region, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen politisch, sozial,
wirtschaftlich autonom entwickeln können, kann man nicht von einem
Fortschritt sprechen. Der Fortschritt wird an diesen Dingen gemessen. Die
Kurden wollen das Recht der Katalanen und Basken in Spanien oder Wallonen in
Belgien haben. So lange man diese Rechte der Kurden nicht ermöglicht, werden
die Kurden keine Ruhe geben sie zu fordern.
Wir sind ein großes Volk. Weil wir keinen Staat haben, werden wir nicht nur
von den Staaten, die Kurdistan unter sich aufgeteilt haben, Iran, Irak,
Syrien und die Türkei, terrorisiert, sondern auch von den europäischen
Staaten misshandelt, obwohl Kurden den islamischen Fundamentalismus
ablehnen. Es ist unbedingt notwendig, dass die EU auch legitimierte
kurdische Vertretungen als Gesprächspartner in ihre Verhandlungen
einbezieht, damit die Interessen der Kurden wahrgenommen werden.
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08-12-2004 |