Juden und Moslems in Frankreich:
Kollision zweier Leidensgeschichten
Arabische Feministinnen gegen
Antisemitismus / Erfundene Attacken und reale Angriffe / Bedrängte
Minderheit in der Minderheit
Von Danny Leder
In den ersten neuen Monaten von 2004 wurden in
Frankreich 322 antijüdische Vorfälle registriert – mehr als im gesamten Jahr
2003. Die Autoren waren zu überwiegendem Teil junge Moslems aus arabischen
aber auch aus schwarzafrikanischen Einwandererfamilien beziehungsweise
moslemische Konvertiten frischen Datums aus dem selben vorstädtischen
Jugendmilieu.
Etliche dieser Vorfälle ereigneten sich in einer Grauzone zwischen
Verbreitung gehässiger antijüdischer Klischees, islamistischer Propaganda,
Wut gegen Israel, sozialer Verwahrlosung und allgemeiner Jugendgewalt, die
Frankreichs städtische Randsiedlungen heimsuchen. Daran hat sich eine
Debatte zwischen zwei Strömungen entzündet: für die einen sind die
antijüdischen Übergriffe Ausdruck einer alarmierenden "antisemitischen
Welle", für die anderen sind sie nur ein – selten – auftretendes Phänomen
unter vielen anderen der alltäglichen Gewalt und sozialen Verwahrlosung an
den gesellschaftlichen Rändern.
In beiden Meinungsströmungen finden sich jüdische aber auch franko-arabische
Persönlichkeiten. Zwei Meldungen über spektakuläre antijüdische Attacken,
die sich nachträglich als erfunden herausstellten, bestärkten in den letzten
Monaten jene Strömung, die eine "mediale Übertreibung" der antijüdischen
Vorfälle vermutet und vor einer "weiteren Stigmatisierung" der
franko-arabischen Vorstadtjugend warnt. Auf der anderen Seite haben eine
kleine, aber rührige franko-arabische Frauenbewegung und die symbolträchtige
Organisation "SOS Racisme", im Verbund mit Frankreichs Jüdischen
Studentenverband UEJF, den Kampf gegen den Judenhass zum Angelpunkt ihres
gemeinsamen Engagements gegen alle Formen von Diskriminierung und
Obskurantismus gemacht.
Die Auseinandersetzung um diese Fragen tendiert auch zu einer Kollision
zwischen zwei Leidensgeschichten: jene der moslemischen Migrantenfamilien,
die in ihren nordafrikanischen Ursprungsländern das koloniale Joch
Frankreichs ertragen mussten und in Frankreich noch Ausgrenzungen erfahren.
Und der Leidensgeschichte der französischen Juden, die überwiegend auch aus
Nordafrika stammen, wo sie der Verachtung und Bedrohung durch die
moslemischen Mehrheiten ausgesetzt waren, wenn sie nicht gar, während der
deutschen Besetzung, der Vernichtungsmaschinerie der Nazis und des
französischen Kollaboriationsregimes ausgeliefert waren.
"Allahu Akbar" (Gott ist Groß), rief der Mann, zog ein Messer aus einer
Plastiktüte und versetzte einem jungen Juden vor einer Talmud-Studienstätte
einen Stich in die Brust. Der Angriff ereignete sich im Juni 2004 in
Epinay-sur-Seine, eine jener Satelittenstädte nördlich von Paris, die immer
wieder zum Schauplatz anti-jüdischer Übergriffe wurden.
Den Mordversuch von Epinay empfanden viele als Fanal. In den letzten vier
Jahren war es zwar häufig zu Anpöbelungen, manchmal zu Schlägen, seltener zu
Steinwürfen gegen Juden und ganz selten sogar zu Brandlegungen gegen
jüdische Einrichtungen gekommen, aber eine Messerattacke war ein Novum. Das
Opfer, der 17 jährige Israel Ifrah, überlebte trotz eines Lungendurchstichs.
Der Angreifer konnte flüchten und wurde später gefasst: Eskander Guessine,
ein 30 jähriger, beschäftigungsloser Buchhalter, Sohn einer Tunesierin und
eines Algeriers, der in seiner Umgebung als verschlossener Einzelgänger
galt. In seiner Wohnung fand man radikal-islamische Plakate, knapp vorher
hatte Guessine eine Reise nach Saudi-Arabien unternommen.
Freilich: Guessine hatte nach seiner Attacke vor der jüdischen Schule noch
vier weitere Passanten zu erstechen versucht, darunter einen Moslem, wobei
er wirre religiöse Sätze rief. Also nur ein wahnsinniger, unrepräsentativer
Eigenbrötler oder doch, gerade wegen seiner psychischen Labilität, der
Vollstrecker des in moslemischen Kreisen grassierenden Judenhass?
Eine derartige Grauzone umgibt viele der gegen Juden begangenen Taten.
Daraus versuchen zwei gegensätzliche Meinungsströmungen ihre
Interpretationsmuster zu schöpfen, wobei Staatspräsident Jacques Chirac
zunehmend in die Rolle eines engagierten Friedensrichters gerät.
Auf der einen Seite stehen die meisten jüdischen Verbände, eine Reihe von
Intellektuellen, von denen etliche, aber bei weitem nicht alle aus jüdischen
Familien stammen, ja sogar eine kleine Gruppe von Moslems. Auf der anderen
Seite firmieren die Mehrheit der moslemischen Organisationen sowie der
Großteil der linksalternativen Szene, darunter etliche Persönlichkeiten, die
ihrerseits auch aus jüdischen Familien stammen.
Die erst genannte Strömung sieht in der von Moslems ausgehenden
Judenfeindschaft eine umfassende Bedrohung für die jüdische Minderheit und
die Republik, die zu lange unterschätzt wurde. Weil die meisten Attacken
gegen Juden von Jugendlichen aus nordafrikanischen Einwandererfamilien
begangen wurden, von denen viele bereits zuvor in Kleinkriminalität
abgeglitten waren, hätte man die antijüdischen Vorfälle erst gar nicht als
solche zur Kenntnis genommen. Der gewaltschwangere Alltag in den verarmten
Randvierteln habe die Sicht auf die besondere Bedrohung der Juden vernebelt.
Dazu kam das schlechte Gewissen der französischen Öffentlichkeit gegenüber
den Jugendlichen aus moslemischen Migrantenfamilien, die unter
Diskriminierung bei der Job- und Wohnungssuche leiden. Die soziale Misere
dieser Jugendlichen habe, zumindest unterschwellig, als Entschuldigung
gewirkt, ebenso wie der Verweis auf Israels Besatzungspolitik gegenüber den
Palästinensern.
Arabische Feministinnen gegen Antisemitismus
Der Irak-Krieg der US-geführten Koalition brachte eine Zeitenwende, zumal
Staatschef Chirac die Gefahr erkannte, die mit seiner Rolle als Kontrahent
von George Bush und Kritiker Israels einherging. In der arabischen Welt
heimste Chirac Rekordpopularität ein: bei einem Besuch in Algier, im März
2003, wurde er von Hunderttausenden als "Raisuna" (unser Präsident)
bejubelt. Aber das Anwachsen der antijüdischen Übergriffe in Frankreich
lieferte Nährstoff für das Zerrbild eines "antisemitischen Landes", das
US-Medien und israelische Politiker zeichneten.
Ein kleines Büchlein sollte eine besondere Rolle spielen und auch Chirac
nachhaltig beeindrucken: "Les territoires perdus de la République" - die
verlorenen Territorien der Republik (Hg.:Emmanuel Brenner, Editions Mille et
une nuits). Lehrer schilderten darin, wie jüdische Schüler aber auch
jüdische Lehrer von ihren mehrheitlich moslemischen Klassen bedrängt wurden,
wie stellenweise der Unterricht über den Holocaust und die Dreyfus-Affäre in
Tumulte mündete. Aber auch wie Lehrerinnen, weil Frauen, zunehmend von
moslemischen Schülern gemobbt wurden, wie der Unterricht über die
Philosophie der europäischen Aufklärung unter dem Vorwurf "atheistischer
Propaganda" boykottiert wurde.
Die Grundthese der Autoren, die Abwehr der islamistisch geprägten
Judenfeindschaft werde zur Nagelprobe für die Standfestigkeit der Republik,
machten sich auch einige wenige, aber rührige Frauenrechtlerinnen aus
moslemischen Familien zu eigen. Deren Argumentation: Fundamentalistische
Aktivisten würden das islamische Kopftuch als politisches Banner einsetzen
um ihre Machtansprüche in immer mehr öffentlichen Institutionen (Schulen,
Universitäten, Spitäler, Sozialämter, Verwaltungen, Gerichte) geltend zu
machen und einen schier unwiderstehlichen Gruppendruck zu erzeugen.
Dadurch wären etwa in Vorortesiedlungen mit vielen Moslems all jene Mädchen,
die barhäuptig blieben, als sexuelles Freiwild gezeichnet. Gewalt gegen
(unverschleierte) junge Frauen fände eine religiöse Legitimierung. In
Spitälern, so konstatierten sie, würden radikal-moslemische Männer darauf
beharren, dass ihre Frauen oder Töchter nur von weiblichem Personal
untersucht und behandelt werden. Die Teilnahme junger Mädchen in
Sportvereinen der Vorortesiedlungen ginge drastisch zurück, in
Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbädern würde eine strikte,
zeitlich-räumliche Geschlechtertrennung gefordert und teilweise auch
durchgesetzt.
Bekannt wurden diese, überwiegend franko-arabischen Frauenrechtlerinnen mit
ihrem Slogan: "Ni putes, ni soumises" (sinngemäß: wir sind weder Huren noch
Untergebene der Männer). Unter dieser Bezeichnung organisierten sie
spektakuläre Diskussions-Tourneen in städtischen Krisenvierteln. Ebenso
übernahmen sie eine führende Rolle bei einem "Marsch gegen den
Antisemitismus" mit rund zehntausend Teilnehmern im Mai 2004.
Zuvor hatten diese Frauenbewegung und die über den Judenhass besorgten
Lehrer wesentlich dazu beigetragen, dass im Februar 2004, auf Initiative von
Chirac, das französische Parlament ein Gesetz gegen religiöse Symbole an
öffentlichen Schulen beschloss. Das Tragen "großer" christlicher Kreuze, der
jüdische Kippa und des islamischen Kopftuchs wurde verboten. Zu Beginn des
Schuljahres 2004/2005 kam dieser Beschluss, bis auf wenige Ausnahmen, zur
konfliktfreien Anwendung.
Erfundene Attacken und reale Angriffe
Möglicherweise aber könnte Frankreichs Öffentlichkeit im Sommer 2004 einen
neuerlichen, vorläufigen Umkehrschub erlebt haben. So wie nach den Protesten
gegen den Irakkrieg die Stimmung zugunsten jener Strömung zu kippen begann,
die die antijüdischen Übergriffe junger Moslems als Angelpunkt der
gesellschaftlichen Krise einstuften, dürfte jetzt wiederum das Pendel auf
die andere Seite ausgeschlagen haben. Also zugunsten jener Meinungsströmung,
die in der Judenfeindschaft ein Randphänomen sieht, dessen Überbewertung auf
eine Stigmatisierung der moslemischen Migranten hinauslaufen würde.
Drei Ereignisse dienten als Katalysatoren: einmal die Affäre, Anfang Juli
2004, um eine junge Frau, die behauptet hatte, in einem Pariser Vorortezug,
gemeinsam mit ihrem 13 monatigen Baby, von jeweils drei jungen
Franko-Arabern und drei Franko-Afrikanern misshandelt worden zu sein, weil
diese sie – irrtümlich - für eine Jüdin gehalten hätten.
Die Frau war zwar als krankhafte Lügnerin, die schon mehrmals Überfälle
erfunden hatte, bei der Polizei aktenkundig. Aber noch bevor das
innerbehördlich eruiert wurde, gelangte eine Benachrichtigung über den
angeblichen Überfall zu Innenminister Dominique de Villepin und Präsident
Chirac. Beide veröffentlichten standepe scharfe Kommuniques, woraufhin die
gesamte französische Politszene und Medienlandschaft die Meldung für bare
Münze nahm. Die Spitzen fast aller Politlager machten ihrer Empörung Luft,
die französische Nationalversammlung legte eine sofortige Sondersitzung ein.
Tempo und Heftigkeit dieser Reaktion hatten ihre - guten - Gründe: Politiker
und Journalisten wollten sich nicht noch einmal, so wie während der ersten
Welle der antijüdischen Übergriffe in den Jahren 2001 und 2002, dem
teilweise berechtigten Vorwurf aussetzen, sie würden die Gewaltakte gegen
Juden nicht genügend beachten. Obendrein hatte das französische
Innenministerium in den ersten fünf Monaten von 2004 bereits 135
antijüdische Vorfälle registriert - mehr als im gesamten Jahr 2003, in dem
"nur"127 Vorfälle gezählt worden waren. Etwa 80 Prozent aller amtlich
konstatierten und als "rassistisch oder fremdenfeindlich" eingestuften
Drohungen waren gegen Juden gerichtet. Dieser alarmierende Anstieg ist
freilich auch auf eine zunehmend konsequentere Registrierungsbereitschaft
der Behörden zurückzuführen.
Als aber zwei Tage nach Verbreitung der Meldung über den angeblichen
Überfall auf die junge Frau und den erbitterten Stellungnahmen der Politiker
die Story platzte, empörten sich moslemische Würdenträger und
antirassistische Organisationen über "Islamophobie" und forderten –
vergeblich – eine "Entschuldigung" der Politiker. Junge Franko-Araber und
Franko-Afrikaner klagten, gegen sie verübte Polizeiübergriffe fänden keine
auch nur annähernd vergleichbare Resonanz. Die Diskriminierungen und
Beleidigungen, die sie in ihrem Alltag vielfach erleiden müssen, würden
weitaus weniger prominente Proteste auslösen. Der pauschalierende
Antisemitismus-Vorwurf sei bloß ein weiteres Mittel, um sie zu "Barbaren" zu
stempeln und ihre Benachteiligung als selbstverschuldet darzustellen.
Die Zerstörung eines jüdisches Sozialzentrums inmitten des volkstümlichen
elften Pariser Bezirks, Ende August 2004, durch einen Brandanschlag löste
neuerlich massive Reaktionen aus. Premierminister Jean-Pierre Raffarin begab
sich vor Ort und versprach "extreme Strenge gegen Antisemiten",
sozialistische Oppositionspolitiker forderten "endlich Taten statt
Krokodilstränen". Per Internet erschien ein Bekennerschreiben einer
Islamistengruppe, an den Wänden des zerstörten Zentrums hatte man
Hakenkreuze und anti-jüdische Aufschriften vorgefunden. Eine Woche später
aber stellte sich der Brandstifter: ein jüdischer Kostgänger und
gelegentlicher Beschäftigter des Zentrums, der sich für den Entzug einer
Gratis-Wohnung rächen wollte.
Bedrängte Minderheit in der Minderheit
Auch hatte ein Aufruf von Ariel Sharon, im Juli 2004, an Frankreichs Juden,
"unverzüglich" nach Israel auszuwandern, um einem "entfesselten
Antisemitismus" zu entfliehen, bereits für eine Überreizung der
französischen Öffentlichkeit gesorgt.
Unter den Juden in den Vororten stießen die Äußerungen des israelischen
Premierministers aber eher auf Zustimmung. Wenn Sharon von einer "neuen Art
des Antisemitismus" spricht und dabei auf die zehn Prozent moslemische
Bevölkerung Frankreichs verweist, entspricht das dem Bedrohungsgefühl
etlicher Juden. Vielfach in denselben Gegenden angesiedelt wie die meisten
der rund fünf Millionen Moslems Frankreichs, sehen sich diese Juden als eine
Minderheit in der Minderheit.
Die Mehrzahl der 600.000 Juden Frankreichs, so wie die meisten ihrer
moslemischen Nachbarn, stammt aus dem arabischen Nordafrika. Aber während
die Moslems hauptsächlich als Arbeitsmigranten nach Frankreich kamen, flohen
die Juden nach Abzug der französischen Kolonialmacht auch vor den
Anfeindungen der Moslems.
Ist Israel für die Juden zur Heimstätte vieler ihrer Verwandten und zu einer
Art Trost für ihre Vertreibung aus Nordafrika geworden, so erscheint der
moslemischen Bevölkerung Frankreichs das Schicksal der Palästinenser unter
israelischer Herrschaft als Wiederholung ihrer eigenen Geschichte unter dem
französischen Kolonialregime. Wecken die antijüdischen Attacken bei Juden
aus Nordafrika Erinnerungen an ihre einstige Gängelung in den
arabisch-moslemischen Gesellschaften, so erscheint jungen Franko-Arabern die
massive Erörterung der moslemischen Judenfeindschaft wie eine weitere
Demütigung durch eine Gesellschaft, die ihre Eltern vielfach ausgrenzte und
ihnen noch immer Chancengleichheit verwährt. Wollen sich Juden nicht mehr
damit abfinden, dass sie schon wieder als Sündenböcke für allgemeine soziale
Missstände herhalten müssen, geraten junge Moslems, die sich stets aufs Neue
an gesellschaftlichen Barrieren stoßen, in aggressive Indifferenz gegenüber
Gewaltopfern. In Frankreich kollidieren zwei Leidensgeschichten, deren
Träger Seite an Seite leben – eine gefährliche Nachbarschaft.
Die Ursprungsversion dieses Textes erschien in der
Süddeutschen Zeitung vom 17.08.04.
hagalil.com
12-12-2004 |