"Wieder geht ein Transport ab und diesmal sind wir dabei":
Das Tagebuch der Helga Deen
Eine einzigartige Fundsache erhielt das
historische Archiv im niederländischen Tilburg: Aufzeichnungen einer
jüdischen Frau, die in Sobibor ermordet wurde.
Von Elke Wittich
Jungle World 50 v.
01.12.2004
Solche Resonanz hatten sich die Mitarbeiter des
Regionalarchivs Tilburg gar nicht erwartet, als sie Ende 2003 die
Bevölkerung dazu aufriefen, bei der Dokumentation der Nazizeit mitzuhelfen.
Denn der Mann, der daraufhin Kontakt mit ihnen aufnahm, wollte ihnen gern
einige "eventuell historisch wichtige Dokumente" zeigen. Als
Archivmitarbeiter Gerrit Kobes ihn schließlich besuchte, wurde ihm eine
abgewetzte braune Damenhandtasche überreicht.
Sein Vater, der 1991 verstorbene Künstler Kees van den Berg, habe sie Zeit
seines Lebens in seinem Atelier aufbewahrt, erzählte Conrad van den Berg.
Über den Inhalt könne er nichts Genaueres sagen, aber er wisse, dass es sich
um Andenken an die zusammen mit ihrer Familie in Sobibor ermordete jüdische
Freundin seines Vaters, Helga Deen, handele. Die Familie habe von der
Existenz dieser Erinnerungsstücke immer gewusst, sagte er, "sie waren für
ihn wie Reliquien, keiner durfte sie sehen oder anfassen, sie gehörten ihm
ganz allein". Er selber habe nie in diese Tasche geschaut, "denn sonst hätte
ich mich gefühlt wie ein Voyeur, der in der Vergangenheit des Vaters
herumschnüffelt". Kees van den Berg, so erzählte der Sohn weiter, habe Helga
Deen überdies in mehreren Zeichnungen und einem Bild festgehalten.
Als Kobes die Tasche schließlich öffnete, fand er neben Briefen, einem
Füller, einer Haarlocke und einer Damenbinde auch das 21 Seiten umfassende
Tagebuch der 18jährigen. Helga Deen hatte ihr altes Chemieheft benutzt, um
Kees van den Berg, mit dem sie schon eine Zeit lang zusammen war, ihre
Eindrücke aus dem Arbeitslager Vught zu schildern – dies sei zwischen beiden
abgesprochen worden, vermutet Kobes. Die Gefangenen durften zwar Briefe nach
draußen schreiben, aber weil diese vorher durch die Zensur mussten, gibt es
kaum zeitgenössische tägliche Aufzeichnungen über die wirklichen Zustände in
den in den Niederlanden gelegenen Lagern – die meisten Erinnerungen wurden
lange nachher verfasst. Das einzige bislang bekannte niederländische
Tagebuch stammt von David Koker; es wurde erst 1977 unter dem Titel
"Konzentrationslager Herzogenbusch" veröffentlicht.
Helga Deen schrieb einige offizielle Karten an ihren Freund, ihr Tagebuch
wurde jedoch, davon ist man beim Tilburger Archiv überzeugt, aus dem Lager
herausgeschmuggelt.
Viel ist über die Familie Deen noch nicht bekannt. Vater Willy, 1891 in
Tilburg geboren, war im Jahr 1922 mit seiner deutschen Ehefrau, der Ärztin
Käthe Deen-Wolff nach Stettin gezogen. Dort wurde am 6. April 1925 Tochter
Helga geboren, drei Jahre später folgte Sohn Klaus Gottfried.
Im Mai 1933 zog die Familie, so geht es aus alten Meldebüchern hervor,
zurück nach Tilburg. Willy Deen arbeitete als selbständiger Vertreter für in
der Textilindustrie verwendete technische Geräte. Beide Kinder besuchten das
Gymnasium, ob Helga und Kees sich dort kennenlernten, ist nicht bekannt.
Die Familie steht auf einer am 26. Juli 1942 erstellten Liste der jüdischen
Einwohner der Stadt. Willy Deen war zu dieser Zeit Vorsitzender des
Judenrats in Tilburg und verantwortlich für Reise- und Umzugsgenehmigungen,
wodurch die Deens der ersten Deportation im August 1942 noch entgingen. Der
für Nord-Brabant zuständige SS-Führer Rauter erteilte schließlich den
Befehl, dass alle arbeitsfähigen Juden sich bis zum 10. April 1943 im Lager
Vught zu melden hätten. Familie Deen benutzte, so geht aus alten Listen
hervor, keinen der bereitgestellten Busse. Aus Helgas Briefen geht vielmehr
hervor, dass sie schon am 1. April in dem Arbeitslager eintraf, wo ihr eine
Pritsche in Baracke 34 B zugewiesen wurde.
Helgas Hoffnung, einen Arbeitsplatz beim Glühlampenhersteller Phillips zu
erhalten und dadurch vom Weitertransport nach Westerbork verschont zu
bleiben, erfüllt sich jedoch nicht. Am 2. Juli 1943 verfasst sie den letzten
Eintrag in ihr Tagebuch: "Packen, heute morgen ein sterbendes Kind erlebt,
was mich völlig durcheinander gebracht hat. Aber alles ist nichts,
verglichen mit dem Letzten. Wieder geht ein Transport ab und diesmal sind
wir dabei."
Einige Tage später kommen die Deens in Westerbork an, am 8. Juli schreibt
Helga ihren letzten Brief an Kees. Am 13. Juli wird die Familie nach Sobibor
deportiert, wo Willy, Käthe, Helga und Klaus-Gottfried drei Tage später
ermordet werden.
In ihren Aufzeichnungen hatte Helga Deen zunächst versucht, optimistisch zu
klingen. Auf der bislang einzig frei gegebenen ersten Seite des Tagebuches
schreibt sie ihrem Freund vom ersten Tag in Vught: "Ich habe die mittlere
Pritsche des Stockbetts genommen, denn dann kann ich aus dem Fenster sehen
und den Sternenhimmel sehen." Sie berichtet: "Überall laufen hier
Strafgefangene herum, langsam und freundlich, hier ist nichts Furchtbares."
"Ich sehne mich so nach Dir!" fährt sie fort, "wenn Du nur bei mir wärst –
aber eigentlich bist Du es ja und kannst durch meine Augen sehen. Ich bin
nun müde, der Tag war so lang. Alles scheint nun schon Jahrhunderte
zurückzuliegen und ist doch erst so kurze Zeit her. Oh Gott, lieber, lieber
Mann. Bis morgen." Keine vier Wochen später schreibt sie: "Wenn mein Wille
stirbt, sterbe ich auch".
Das Tagebuch von Helga Deen soll nun bald in einer kommentierten Ausgabe
herausgegeben werden.
Darüber hinaus bleiben noch eine ganze Menge Fragen und Rätsel: Warum wurde
Helgas Tagebuch erst 13 Jahre nach dem Tod von Kees abgegeben? Leben
vielleicht irgendwo noch entfernte Verwandte der Familie Deen? Wer
schmuggelte das Heft aus dem Lager? Wie minutiös war dies von den beiden
Jugendlichen vorausgeplant worden? Wie hielten sie miteinander Kontakt?
Eigentlich, so sagt John Boeren, Pressesprecher des Regionalarchivs, sei
beschlossen worden, dass man nach dem gewaltigen Medienecho Anfragen bis auf
weiteres nicht mehr beantworte. Immerhin, so viel könne er sagen: "Alle
diese Fragen stellen wir uns auch. Wir müssen noch eine Menge über Helga und
ihre Familie sowie Kees recherchieren – und natürlich über die Fakten, die
im Tagebuch erwähnt sind." Mehrere Monate, so schätzt Boeren, werden diese
Nachforschungen dauern, "erst wenn sie abgeschlossen sind, werden wir
entscheiden, was wir weiter mit den Fundstücken tun werden".
Eines stehe aber bereits fest: "Wir sind uns sicher, dass Helgas
Aufzeichnungen authentisch sind, denn als wir das Tagebuch erhielten, haben
wir es sofort auf seine Echtheit hin überprüfen lassen und erst, als sie
feststand, die Öffentlichkeit infomiert."
hagalil.com
21-10-2004 |