"auf einmal da waren sie weg ..." -
Ausstellung zur Erinnerung an jüdische Personen in München/Bogenhausen
Bis 27. Januar 2005 - Montag bis Freitag von 10 bis 19 Uhr, Mittwoch
von 14 bis 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.
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Siegbert Wilmersdörfer wurde am 26.Dezember 1885 in Hof als Sohn des
Nürnberger Kaufmanns Samson Wilmersdörfer und seiner Frau Helene geb.
Kaufmann geboren. Er besuchte das Gymnasium bis zur 7. Klasse und diente im
Ersten Weltkrieg als Gefreiter in einer Starkstromabteilung.
Im Jahre 1920 zog er nach München und heiratete dort am 16.5.1923 die 17
Jahre jüngere Münchnerin Frieda Lucie Berliner, genannt Fritzi. Sie hatte
zuvor 6 Jahre die Höhere Mädchenschule besucht und war nach ihrer Hochzeit
nicht beruflich tätig. Am 4.6. 1924 wurde die gemeinsame Tochter Ruth Selma
geboren. Ruth besuchte später 3 ¼ Jahre ein Mädchenlyzeum. Spätestens seit
1933 wohnte die Familie in der Ismaningerstraße 152/I r. Siegbert
Wilmersdörfer war Kaufmann und betrieb ein kleines Handelsgeschäft für
Berufskleidung in der Senefelderstr. 11 ½. Im Rahmen dieser Tätigkeit war er
auch als Handelsreisender unterwegs.

Siegbert Wilmersdörfer |
1936 wurde der Geltungsbereich der Pässe von Juden auf das Inland
beschränkt, so dass Siegbert Wilmersdörfer im Mai 1938 in einem Brief an das
Passamt bei der Polizeidirektion München um die "Ausstellung eines
Auslandsreisevermerks zur Durchführung einer Informationsreise nach Italien"
nachsuchen musste. Diesem Antrag wurde stattgegeben und die Gültigkeit des
Passes wurde für eine kurze Zeit, nämlich vom 16.7. bis zum 17.8.1938 auf
das Ausland ausgedehnt. Siegbert Wilmersdörfer begründete diese Reise in
seinem Brief an die Polizeidirektion damit, dass er sein "Erwerb -
Versandgeschäft von Berufskleidung" nicht mehr aufrechterhalten könne und
mit der Ausnahme eines Anteils von 1/9 eines hoch belasteten Hauses auch
kein Vermögen besitze. Deshalb müsse er in das Ausland übersiedeln und dort
einen anderen Erwerb suchen, um seine Familie zu ernähren.
In diesem Brief begründete Siegbert Wilmersdörfer auch, warum er sein
Geschäft nicht weiterführen kann und machte dadurch deutlich, wie schon im
Vorfeld der "Kristallnacht" vom 9./10. November 1938 der Spielraum von
jüdischen Gewerbetreibenden immer weiter eingeengt wurde und sie schließlich
ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Seit Anfang 1938 verweigerte ihm
sein einziger Lieferant für männliche Berufskleidung die Annahme seiner Aufträge. Zwar versuchte
Siegbert Wilmersdörfer Ersatz für diesen Lieferanten zu finden, seine
Bemühungen blieben aber erfolglos obwohl er mit 70 deutschen und
österreichischen Herstellern diesbezüglich Kontakt aufgenommen hatte. Auch
die Beschwerde, die Siegbert Wilmersdörfer beim Reichswirtschaftsminister
gegen die Kölner Firma einreichte, wurde abschlägig beschieden. Daraufhin
versuchte Siegbert Wilmersdörfer Berufskleidung für Männer in Lohn
herstellen zu lassen. Dies scheiterte daran, dass er als Jude nur sehr
geringe Mengen an Gewebe erwerben konnte. Für Frauen-Berufskleidung gelang
es ihm hingegen zunächst, eine Lohnnäherei zu finden. Die zu verarbeitenden
Stoffe konnte Siegbert Wilmersdörfer in kleinen Mengen von einer
verwandtschaftlich nahestehenden Großhandlung erhalten. Möglicherweise
handelt es sich dabei um die Manufakturwaren-Großhandlung Fa. Max
Wilmersdörfer, die ihre Geschäftsräume ebenfalls in der Senefelderstr. 11 ½
hatte. Nach kurzer Zeit verweigerte allerdings auch die Firma Gg. Bernklau
in der Schwanthalerstr. 12 - die weitere Zusammenarbeit mit Siegbert
Wilmersdörfer.
Die existenziellen Schwierigkeiten, mit denen Siegbert Wilmersdörfer zu
kämpfen hatte, nahmen ihn so in Anspruch, dass er seine Handelsreisen, mit
denen er den größten Teil seines Umsatzes machte, nahezu einstellen musste.
Da ihm die Beschäftigung eines "arischen" Lehrlings verboten war, ein
jüdischer bzw. halbjüdischer Lehrling nicht zu finden war und ein
diesbezügliches Gesuch an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung abgelehnt
wurde, musste Siegbert Wilmersdörfer jede noch so kleine Arbeit selbst
machen. Die für Siegbert Wilmersdörfer so wichtige Reisetätigkeit wurde auch
durch den Ablauf der dazu notwendigen Reiselegitimationskarte am 12.7.1938
bedroht. In der Tat ist davon auszugehen, dass diese Legitimationskarte
nicht verlängert wurde, da ab Februar 1938 auf Anordnung des Münchner
Oberbürgermeisters Fiehler die Gewerbelegitimationskarten, wegen nicht näher
begründeter "Unzuverlässigkeit" nicht mehr verlängert wurden.
Ab September 1938 war Juden auch laut Gesetz eine Tätigkeit als
Handelsvertreter verboten. Damit wurde die Existenzgrundlage von Siegbert
Wilmersdörfer endgültig zerstört und sein Geschäft von Amts wegen in den
Ruin getrieben. Er war kurz darauf gezwungen, sein Gewerbe abzumelden.
Trotzdem unternahm Siegbert Wilmersdörfer im Januar 1939 einen letzten
Versuch, sein Gewerbe zu erhalten und beantragte beim Gewerbeamt "die
Genehmigung zur Neuerrichtung eines jüdischen Gewerbebetriebs". Dieser
Antrag wurde im Mai 1939 abgelehnt.

Frieda und Ruth Wilmersdörfer |
Offenbar gelang es Siegbert Wilmersdörfer auf seiner Reise nach Italien
nicht, Geschäftskontakte zu knüpfen und eine neue Existenz für sich und
seine Familie in Italien zu beginnen, denn die Familie Wilmersdörfer stellte
schon im April 1939 einen erneuten Antrag auf die Ausstellung von
Reisepässen "zum Zweck der Auswanderung in die USA mit Zwischenaufenthalt in
England, der Schweiz oder Belgien". In einem erneuten Brief an das Passamt
bei der Polizeidirektion München bat Siegbert Wilmersdörfer darum, den Pass
so schnell wie möglich auszustellen, da die Hilfskomitees im Ausland in
ihren Fragebögen stets die Angabe der Passnummer und des Ausstellungsdatums
verlangen würden. Die Situation der Wilmersdörfers war zu diesem Zeitpunkt
immer bedrohlicher geworden, denn Siegbert Wilmersdörfer war nach der
"Kristallnacht", wie 1.000 andere Münchner Juden auch, in das KZ Dachau
verschleppt worden. Dort wurde ihm, wie er sich ausdrückte, "befohlen,
schleunigst auszuwandern". Ruth wurde gezwungen, das Lyzeum zu verlassen und
eine auf Juden beschränkte Berufsschule zu besuchen. Auch die finanzielle
Lage der Familie wurde immer angespannter. Siegbert Wilmersdörfer verfügte
zu diesem Zeitpunkt nur noch über sehr geringe Geldmittel. Die Pässe wurden
zwar ausgestellt, aber auch dieser Auswanderungsversuch misslang.
Kurz darauf erreichte der Verfolgungsdruck mit der Vertreibung der
Münchner Juden aus ihren angestammten Wohnungen eine neue Stufe. Zahllose
jüdische Familien mussten Mitte 1939 ihre Wohnungen verlassen und wurden
zwangsweise in "Judenhäusern" bzw. "Judenwohnungen" zusammengelegt. Die
Wilmersdörfers mussten im Mai 1939 in die Hermann-Lingg-Str. 16 umziehen. Im
April 1940 musste die Familie erneut umziehen und wechselte innerhalb von
zwei Monaten zweimal die Adresse. Zunächst waren sie in der
Herzog-Heinrich-Str. 15/2 bei Gold gemeldet, danach zogen sie in eine
Wohnung oder Pension am Sendlinger-Tor-Platz 10/4 um dann im Juli 1940 ihre
letzte Unterkunft in der Kaiserstr. 7/0 zu finden.
In der Folge unternahm die Familie eine ganze Reihe weiterer vergeblicher
Versuche, aus Deutschland auszuwandern. Im Juli 1940 strebten sie die
Ausreise nach Shanghai an und ließen sich zu diesem Zweck ihre Reisepässe
verlängern. Auch diese Pläne scheiterten, doch gelang es Frieda
Wilmersdörfer und ihrer Tochter im September 1940 ein Einreisevisum für
Costa Rica und ein Transitvisum für Panama zu bekommen. Am 17.10.1940
stellte Siegbert Wilmersdörfer einen Antrag für seine Tochter auf Erteilung
eines Ausreisesichtvermerks für eine Reise nach Panama. Dieser Sichtvermerk
wurde auch für Frieda Wilmersdörfer erteilt. Ob es auch Siegbert
Wilmersdörfer gelang, dieses Visum zu erhalten, ist nicht bekannt. Im
September 1941 versuchte die Familie Wilmersdörfer erneut, nach Costa Rica
auszuwandern. Frieda Wilmersdörfer und ihre Tochter erreichten eine
Verlängerung des Visums für Costa Rica. Offensichtlich hatte zu diesem
Zeitpunkt auch Siegbert Wilmersdörfer ein entsprechendes Visum, denn er
beantragte am 11.9.1941 für sich und seine Frau, die Gültigkeit der Pässe
und der Ausreisegenehmigungen zu verlängern zum Zweck der Ausreise nach
Panama über Spanien. Möglicherweise war die Familie Wilmersdörfer zu diesem
Zeitpunkt kurz vor der Ausreise, denn Siegbert Wilmersdörfer schreibt in
seinem Antrag, dass die Schiffspapiere von einer Berliner Reederei sofort
besorgt werden könnten, wenn die Ausreisegenehmigung vorlägen und bittet
deswegen um schnelle Bearbeitung des Antrags. Noch am 2.10.1941 wird der
Pass von Siegbert Wilmersdörfer persönlich in Empfang genommen. In den
Pässen von Frieda Wilmersdörfer und ihrer Tochter finden sich
Ausreisesichtvermerke nach Costa Rica vom 2.10.1941 sowie eine
Passverlängerung vom selben Tag.
Die schriftlichen Begründungen zu den Passanträgen, die in allen Fällen
von Siegbert Wilmersdörfer geschrieben wurden, dokumentieren die zunehmende
Verarmung und Resignation der Familie. War der Antrag für die Italienreise
noch in wohlgesetzten Worten auf Geschäftspapier geschrieben, so werden die
folgenden Anträge immer knapper und auf schlechtem Papier geschrieben. In
dem Antrag vom Juli 1940 entschuldigt sich Siegbert Wilmersdörfer im Voraus
für die Verwendung von kleinen Buchstaben und begründet dies mit einem
Schaden seiner Schreibmaschine. Der letzte Antrag vom September 1941 kann
nur noch handschriftlich verfasst werden, da Schreibmaschinen von Juden
zwischenzeitlich beschlagnahmt worden waren.
Ab Oktober 1941 war eine Auswanderung nicht mehr möglich und die Familie
Wilmersdörfer gehörte zu den ersten 1.000 Münchnern, die am 25.11.1941
deportiert und 5 Tage später in Kaunas/Litauen von SS-Einsatzkommandos
erschossen wurden.
Ruth wohnte zum Zeitpunkt der Deportation schon nicht mehr bei den Eltern
in der Kaiserstr. 7, sondern war schon vorher in das Arbeitslager Lohhof
verschleppt worden, wo sie zusammen mit ca. 100 anderen jungen Jüdinnen
Zwangsarbeit in der angeschlossenen Flachsröste leisten musste.