Nachruf:
Ein Mann und sein Volk
Von Uri Avnery
Wo immer er auch nach seinem Tod begraben werden
mag, es wird der Tag kommen, an dem seine sterblichen Überreste
durch eine freie palästinensische Regierung zu den muslimischen
heiligen Stätten in Jerusalem überführt werden.
Yasser Arafat ist einer aus der Generation der großen
Führer, die nach dem 2. Weltkrieg auftraten. Die Statur eines
Führers wird nicht einfach nur von dem bestimmt, was er erreicht
hat, sondern auch von der Größe der Hindernisse, die er überwinden
musste. In dieser Hinsicht hat Arafat weltweit keinen Konkurrenten:
kein Führer unserer Generation musste solch grausame Tests bestehen
und mit so viel Unglück fertig werden wie er.
Als er Ende der 50er Jahre auf der weltpolitischen
Bühne auftauchte, war sein Volk nahe daran, in Vergessenheit zu
versinken. Der Name Palästina war von der Landkarte gelöscht worden.
Israel, Jordanien und Ägypten hatten das Land unter sich aufgeteilt.
Die Welt hatte sich entschieden, dass es keine palästinensische
nationale Entität gibt, dass das palästinensische Volk zu existieren
aufgehört hat – falls es überhaupt jemals existiert hat.
Innerhalb der arabischen Welt wurde die
"Palästinensische Sache" noch erwähnt, aber sie diente nur als Ball,
der zwischen arabischen Regierungen hin und her gestoßen wurde. Jede
versuchte, sie für ihre eigenen egoistischen Zwecke zu benutzen,
gleichzeitig aber jede unabhängige palästinensische Initiative
brutal zu unterdrücken. Fast alle Palästinenser lebten in
Diktaturen, die meisten unter erniedrigenden Umständen.
Als Yasser Arafat, damals ein junger Ingenieur in
Kuweit, die "Palästinensische Befreiungsbewegung" gründete, deren
Initialen rückwärts gelesen FATAH ergeben, meinte er zunächst
Befreiung von den verschiedenen arabischen Führern, um das
palästinensische Volk für sich selbst sprechen und handeln zu
lassen. Das war die erste Revolution des Mannes, der während seines
Lebens wenigstens drei große Revolutionen in die Wege leitete.
Es war eine gefährliche Revolution. Fatah hatte keine
unabhängige Basis. Sie musste in den arabischen Ländern agieren, wo
sie oft gnadenlos verfolgt wurde. Eines Tages wurde z.B. die ganze
Führung der Bewegung, einschließlich Arafats, vom damaligen
syrischen Diktator, weil sie seinen Befehlen nicht gehorchte, ins
Gefängnis geworfen. Nur Umm Jihad, die Frau von Abu Jihad, blieb
frei. Sie übernahm das Kommando für die Kämpfer.
Jene Jahre prägten Arafats charakteristischen Stil.
Er musste zwischen den arabischen Führern manövrieren, spielte sie
gegeneinander aus, benutzte Tricks, Halbwahrheiten, doppeldeutiges
Gerede, wich Fallen aus und umging Hindernisse. Er wurde Weltmeister
der Manipulation. Auf diese Weise rettete er in der Zeit ihrer
Schwäche die Befreiungsbewegung vor vielen Gefahren, bis sie zu
einer starken Kraft werden konnte.
Gamal Abd-al-Nasser, der ägyptische Herrscher, der in
jener Zeit der Held der ganzen arabischen Welt war, war vor der
aufkommenden unabhängigen palästinensischen Bewegung beunruhigt. Um
sie beizeiten abzuwürgen, schuf er die Palästinensische
Befreiungsorganisation (PLO) und setzte einen palästinensischen
politischen Söldner an ihre Spitze, Ahmed Shukeiri. Aber nach der
schändlichen Schlappe der arabischen Armeen 1967 und dem aufregenden
Sieg der Fatahkämpfer gegen die israelische Armee in der Schlacht
von Karameh (März 1968), übernahm die Fatah die PLO, und Arafat
wurde der unbestrittene Anführer des ganzen palästinensischen
Kampfes.
Mitte der 60er-Jahre begann Yasser Arafat mit seiner
zweiten Revolution: mit dem bewaffneten Kampf gegen Israel. Die
Anmaßung war fast absurd: eine Handvoll schlecht bewaffneter und
deshalb nicht besonders wirksame Guerillas gegen die mächtige
israelische Armee. Es war auch nicht in einem Land mit
undurchdringlichem Dschungel oder schwer begehbaren Gebirgsketten,
sondern in einem schmalen, fast nur flachen, dichtbevölkerten
Landstrich. Aber dieser Kampf brachte die palästinensische Sache auf
die Agenda der Welt. Es muss offen eingestanden werden: ohne die
mörderischen Angriffe hätte die Welt dem palästinensischen Ruf nach
Freiheit keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Als Folge davon wurde die PLO als die "einzige
Vertretung des palästinensischen Volkes" anerkannt, und vor genau
dreißig Jahren wurde Yasser Arafat eingeladen, seine historische
Rede vor der UN-Generalversammlung zu halten: "Heute kam ich
hierher, in der einen Hand den Ölzweig und in der anderen Hand das
Gewehr der Revolution. Lasst den grünen Zweig nicht aus meiner Hand
fallen!" Für Arafat war der bewaffnete Kampf nur ein Mittel – nicht
mehr. Nicht Ideologie, nicht eine Sache per se. Für ihn war klar,
dass dieses Instrument das palästinensische Volk stärken und so die
Anerkennung der Welt gewinnen, dass es aber nie Israel besiegen
würde.
Der Yom Kippur-Krieg im Oktober 1973 veranlasste in
seiner Zielsetzung eine neue Kehrtwende. Er sah, wie die Armeen
Ägyptens und Syriens nach einem glänzenden, anfänglich
überraschenden Sieg gestoppt und am Ende von der israelischen Armee
besiegt wurden. Das überzeugte ihn schließlich, Israel sei nicht
durch Waffengewalt zu überwältigen.
Deshalb fing Arafat unmittelbar nach diesem Krieg
seine dritte Revolution an: er entschied, die PLO müsse mit Israel
ein Abkommen erreichen und sich mit einem palästinensischen Staat
auf der Westbank und im Gazastreifen zufrieden geben.
Nun war er mit einer historischen Herausforderung
konfrontiert. Er musste das palästinensische Volk davon überzeugen,
seinen historischen Standpunkt aufzugeben, nämlich die Legitimität
des Staates Israel zu leugnen, und sich nur mit den restlichen 22%
des Palästinagebietes von vor 1948 zufrieden zu geben. Ohne dies
ausdrücklich festzustellen, war es klar, dies habe auch den Verzicht
einer unbegrenzten Rückkehr von Flüchtlingen auf das Gebiet Israels
zur Folge. Daran begann er auf seine ihm eigene Weise zu arbeiten:
mit Hartnäckigkeit, Ausdauer und Tricks - zwei Schritte vorwärts,
einen zurück. Wie ungeheuerlich diese Revolution war, kann an einem
Buch gesehen werden, das die PLO 1970 in Beirut veröffentlichte, das
in scharfer Weise die Zwei-Staaten-Lösung (die der "Avnery-Plan"
genannt wurde, weil ich damals sein ausgesprochener Befürworter war)
angriff.
Seit 1974 war ich Zeuge der enormen Bemühungen, die
Arafat investierte, um sein Volk dahin zu bringen, diese neuen Wege
mitzugehen. Nach und nach wurden sie vom Palästinensischen
Nationalrat, dem Parlament im Exil, akzeptiert. Zunächst durch eine
Resolution, die besagt, eine palästinensische Behörde "in jedem von
Israel befreiten Teil Palästinas" aufzubauen und 1988, einen
palästinensischen Staat neben Israel zu errichten.
Arafats (und unsere) Tragödie bestand darin, dass,
sobald er sich einer friedlichen Lösung näherte, die israelische
Regierung sich davon zurückzog. Seine Mindestforderungen waren klar
und blieben seit 1974 unverändert dieselben: ein palästinensischer
Staat auf der Westbank und im Gazastreifen, palästinensische
Herrschaft über Ost-Jerusalem (einschließlich des Tempelberges -
aber ohne die Klagemauer und das jüdische Viertel); die
Wiederherstellung der Grenzen von 1967 mit der Möglichkeit von
begrenztem, aber gleichwertigem Landaustausch; Evakuierung aller
israelischen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet und die Lösung
des Flüchtlingsproblems in Abstimmung mit Israel. Für Palästinenser
ist dies das äußerste Minimum - mehr können sie nicht aufgeben.
Vielleicht war Yitzhak Rabin am Ende seines Lebens
dem sehr nahe gekommen, als er im Fernsehen erklärte, "Arafat sei
sein Partner". Alle seine Nachfolger wiesen dies zurück. Sie waren
nicht bereit, Siedlungen aufzugeben, im Gegenteil, sie erweiterten
sie unaufhörlich. Sie widersetzten sich jeder Bemühung, eine
endgültige Grenze festzusetzen, da ihre Vorstellung von Zionismus
eine ständige Ausdehnung fordert. Deshalb sahen sie in Arafat einen
gefährlichen Feind und versuchten, ihn mit allen Mitteln,
einschließlich einer unerhörten Kampagne der Dämonisierung, zu
vernichten. So Golda Meir ("So etwas wie ein palästinensisches Volk
gibt es nicht"). So Menachem Begin ("Zweibeiniges Tier... der Mann
mit den Haaren im Gesicht ... der palästinensische Hitler"). So
Binyamin Nethanyahu, so Ehud Barak ("Ich habe ihm die Maske vom
Gesicht gezogen"). So auch Ariel Sharon, der ihn in Beirut zu töten
plante und es seitdem immer wieder versuchte.
Kein Befreiungskämpfer hat während des letzten halben
Jahrhunderts so ungeheure Hindernisse überwinden müssen wie Arafat.
Er war nicht mit einer üblichen gehassten Kolonialmacht konfrontiert
oder einer verachteten rassistischen Minderheit, sondern mit einem
Staat, der nach dem Holocaust entstand und von der Sympathie und den
Schuldgefühlen der Welt unterstützt wurde. In jeder Hinsicht - in
militärischer, wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht - ist
die israelische Gesellschaft der palästinensischen weit überlegen.
Als er dazu aufgerufen wurde, eine palästinensische Behörde
aufzubauen, konnte er nicht wie Nelson Mandela oder Fidel Castro
einen vorhandenen Staatsapparat übernehmen, sondern nur
unzusammenhängende, verarmte Teile des Landes, dessen Infrastruktur
durch jahrzehntelange Besatzung zerstört worden war. Er übernahm
nicht eine Bevölkerung, die auf ihrem Land lebte, sondern ein Volk,
das zur Hälfte aus Flüchtlingen besteht und in viele Länder
zerstreut ist. Die andere Hälfte war entlang politischen,
wirtschaftlichen und religiösen Linien zerrissen. All dies, während
der Befreiungskampf weiterging. Es ist Yasser Arafats historisches
Verdienst, alle Teile zusammen gehalten und unter diesen Bedingungen
nach und nach zu seinem Ziel geführt zu haben.
Große Menschen haben auch ihre Schattenseiten. Eine
davon war seine Neigung, alle Entscheidungen alleine zu treffen,
besonders nachdem alle seine engsten Mitstreiter getötet worden
waren. Einer seiner schärfsten Kritiker sagte deshalb zu recht: „Es
ist nicht sein Fehler. Wir sind es, die dafür verantwortlich zu
machen sind. Seit Jahrzehnten ist es unsere Gewohnheit, vor allen
schweren Entscheidungen, die Mut und Kühnheit erforderten, davon zu
laufen. Wir sagten immer: "Lasst Arafat entscheiden!"
Und er entschied. Wie ein richtiger Führer ging er
voran und zog sein Volk mit. So stand er den arabischen Führern
gegenüber, so begann er den bewaffneten Kampf, so streckte er
gegenüber Israel die Hand zum Frieden entgegen. Wegen seines Mutes
hat er die Bewunderung und die Liebe seines Volkes verdient – trotz
aller Kritik.
Wenn Arafat stirbt, wird Israel einen großen Feind
verlieren, der ein großer Partner und Verbündeter hätte werden
können. Mit den Jahren wird seine Gestalt im historischen Gedächtnis
immer mehr wachsen.
Was mich betrifft: ich achte ihn als
palästinensischen Patrioten; ich bewundere ihn für seinen Mut; ich
verstehe die Bedingungen, unter denen er arbeiten musste; ich sah in
ihm den Partner, mit dem man eine neue Zukunft für beide Völker
hätte bauen können. Ich war sein Freund.
So wie Hamlet über seinen Vater sagte: "Er war ein
Mann, nehmt alles nur in allem; ich werde nimmer seinesgleichen
sehn."
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
Anmerkung:
Uri Avnery ist einer der wenigen Israelis, der sich heute auf den
Weg in die Mukatha gemacht hat und an der Beerdigung teilnimmt.
(Vgl. auch das Buch : Uri Avnery: "Mein Freund der
Feind", Dietzverlag 1988 ER)
haGalil onLine
12-11-2004 |