
"Der Kapitalismus muss weg":
Interview mit Kurt-Julius Goldstein
Jude, Kommunist, Spanienkämpfer,
Auschwitz-Häftling, führendes SED-Mitglied und einer der obersten
Journalisten in der DDR - Kurt-Julius Goldstein, der diesen Monat 90
wurde, hat ein Leben geführt, das für sieben reichen würde.
Aufgewachsen in Hamm (Westfalen), floh er vor den Nazis nach
Palästina, kämpfte gegen Francos Truppen in Spanien und überlebte
Auschwitz und Buchenwald. Nach dem Krieg wurde er Chefredakteur,
später Intendant des DDR-Radios "Stimme der DDR". Goldstein,
Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitzkomitees und
Ehrenvorsitzender der Verfolgten des Naziregimes/Bund der
Antifaschisten, spricht über Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg,
die er bekämpfte, die Mauer, die er verteidigte, die Stasi-Untaten,
von denen er nichts wusste, und den Sozialismus, der eines Tages
kommen soll.
Interview Philipp Gessler
Herr Goldstein, was trieb einen 90-Jährigen wie
Sie, zusammen mit der Internationalen Projektgruppe
Auschwitz-Sammelklage (Ipas) die USA zu verklagen?
Im Zweiten Weltkrieg hat es ein Gespräch gegeben zwischen dem
US-amerikanischen Rabbiner Stephen Wise und dem damaligen
Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Wise bat Roosevelt, etwas zu tun
gegen die Ermordung der europäischen Juden, er versprach es. Die
amerikanische Seite hatte einen ausgearbeiteten Plan, die
Zufahrtswege nach Auschwitz zu bombardieren - das hat der damalige
Vize-Verteidigungsminister John McCloy abgelehnt. Deshalb habe ich
Klage erhoben. Diese Klage wurde von einer Richterin angenommen.
George W. Bush hat das Verfahren dieser Richterin entzogen, eine ihm
wohl gesonnene Richterin stattdessen eingesetzt. Die wies die Klage
dann ab, obwohl sie das Verfahren rechtlich nicht hätte übernehmen
dürfen.
Die USA auf 40 Milliarden Dollar zu verklagen, ein Land, das
tausende von Soldaten für das Ende der Nazis und damit auch die
Befreiung der KZs geopfert hat - das ist schon ein starkes Stück.
Bei einer Bombardierung der Gleise nach Auschwitz hätten mindestens
400.000 ungarische Juden gerettet werden können.
Ohne die Amerikaner wäre Hitler-Deutschland nie besiegt worden.
Es war de facto schon nach der Schlacht von Stalingrad besiegt.
Außerdem hatten die Deutschen die nach Auschwitz verschleppten
ungarischen Juden vorher bis aufs Letzte ausgeraubt. Diese Güter,
Milliardenwerte!, wurden in einem Zug nach Deutschland
transportiert. Diesen "Goldzug" haben die US-amerikanischen Truppen
1945 komplett ausgeraubt.
Das rechtfertigt doch nicht eine Klage gegen die USA - da stimmt
doch die Verhältnismäßigkeit nicht mehr.
Warum? Jede Regierung ist doch dafür verantwortlich für das, was sie
tut. Zugegeben: 40 Milliarden Dollar waren mir auch zu viel. Aber
ich habe auch gleich erklärt, dass ich mit dem Geld nichts zu tun
haben will, keinen Pfennig für mich wollte.
Sie hatten sich als junger Mann geschworen, niemals mit der Waffe
zu kämpfen, weil Ihr Vater an den Folgen des Ersten Weltkriegs
gestorben war. Warum wurden Sie dann trotzdem Soldat der
Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg?
Als politisch Verfolgter bin ich 1933 in die Illegalität abgetaucht
und nach Palästina geflohen. Als dann der faschistische Putsch in
Spanien war, war mir klar: Dort kann ich mir den Weg nach
Deutschland frei kämpfen. In den Interbrigaden gab es keine
Verfolgungen. Sie haben an allen Fronten gekämpft.
Sie haben einmal gesagt, Sie hätten nichts mitbekommen von den
stalinistischen Verfolgungen innerhalb der Reihen der
Spanienkämpfer. Aber Sie waren doch Politkommissar, Sie hätten es
mitbekommen müssen.
Ich habe in spanischen Zeitungen gelesen, dass es in Moskau Prozesse
gab. Und was ich darüber in den Zeitungen gelesen habe, hielt ich
für richtig. Ich wusste ja nicht, dass diese Prozesse mit
gefälschten Zeugenaussagen und so weiter manipuliert wurden.
Reden wir nicht von Moskau, sondern von Spanien.
Nein, in Spanien ist meines Wissens niemand verfolgt worden, der
ehrlich die Republik verteidigt hat. Dass 1937 in Barcelona ein
Putsch niedergeschlagen wurde, habe ich für goldrichtig gehalten.
Wer in einer solchen Situation gegen eine linke Volksfrontregierung
putscht, gegen den muss man vorgehen.
Auch wenn es ein sozialistisch-anarchistischer Aufruhr war?
Der Putsch war nicht sozialistisch. Ein Teil der Anarchisten wollte
zudem die Bauern, die gerade ihr Land vom Großgrundbesitzer erhalten
hatten, in sozialistische Kollektive zwingen.
Hatte die sozialistische Bewegung nicht da schon ihre Unschuld
verloren?
Wir haben doch unsere Unschuld nicht verloren! Wir haben eine legal
gewählte Regierung verteidigt.
Nach der Niederlage der republikanischen Truppen im spanischen
Bürgerkrieg sind Sie auf der Flucht zuerst in Frankreich inhaftiert,
dann an die Deutschen ausgeliefert und schließlich nach Auschwitz
deportiert worden. Dort haben Sie nicht nur den Spitznamen
"Judenkönig" erhalten, Sie waren auch "Kapo". Das war in vielen KZs
eine schreckliche Rolle, viele "Kapos" waren verhasst.
Ja. In meinem Kommando durfte aber kein Häftling geschlagen werden,
weder im Lager noch in der Grube, wo wir schuften mussten. Die
schlimmsten Minuten in diesem Außenlager von Auschwitz wiederholten
sich für mich alle acht bis zehn Tage - das war die Selektion: Die,
die nicht mehr arbeiten konnten, wurden ins Gas geschickt. Danach
kamen Neue ins Lager. Die wollten nach zwei, drei Tagen wissen, wie
sie mit ihren Frauen und Kindern in Kontakt treten könnten, die bei
der Selektion auf der anderen Seite gelandet sind. Ich musste ihnen
erzählen: Vater, die, die auf die andere Seite gestellt wurden, sind
ins Gas geführt worden.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich hatte so eine Art Morgen- und Abendgebet, ganz für mich: Mich
kriegen die verdammten Nazis nicht kaputt! Und wenn du das
überlebst, dann suchst du dir eine Frau, mit der du viele Kinder in
die Welt setzt für die vielen, die hier umgebracht wurden. Das habe
ich mit meiner lieben Frau und meinen fünf Söhnen wahr gemacht.
In der Nachkriegszeit waren Sie in einer Unterabteilung des ZK
der SED, später Chefredakteur, dann Intendant des DDR-Radios "Stimme
der DDR" - haben Sie jemals die Verpflichtung gespürt, die
Journalisten auf Linie zu bringen?
Bei einer Diskussion im Deutschlandradio, das war wohl 1994, sagte
mir der damalige Leiter der aktuellen Politik, dass ehemalige
Mitarbeiter der "Stimme der DDR" und jetzige
Deutschlandradio-Mitarbeiter von mir reden wie von einem guten
Vater. In meiner Zeit als Intendant ist, trotz Drucks des ZKs, nie
ein Redakteur bestraft worden, wenn er einen Fehler gemacht hat.
Sie hätten von den Untaten der Stasi erst später erfahren, nach
der Wende, haben Sie mal gesagt. Wie kann das sein, wenn man an
führender Stelle in Partei und Medien der DDR war?
Sie können mich auf den Kopf stellen: Ich wusste davon nichts. Aber
ich hatte mit denen von der Stasi Ärger. Das erste Mal nach dem 17.
Juni bei der ersten gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz in der
Volkskammer 1954. Da war ein niedersächsischer Sozialdemokrat,
hinter dem die von Sicherheit dran waren. Ich bin hin zu denen und
habe gesagt: Lass die Finger von dem. Macht eure Arbeit, wo ihr
wollt, aber hier lasst die Leute in Ruhe. Macht uns hier die Arbeit
nicht kaputt. Da haben die sich bei ihrem Minister und ich mich bei
meinem Politbüro-Mitglied Paul Verner beschwert.
Sie müssen doch mitbekommen haben, was in Stasi-Gefängnissen wie
Bautzen oder Brandenburg passierte.
Sie werden lachen, ich habe das nicht mitgekriegt.
Sie waren Journalist! Sie hatten Informationsquellen, Sie waren
nahe an einigen führenden Gestalten der DDR.
Ich mache Ihnen nichts vor. Dass Leute verurteilt wurden wegen
Republikflucht habe ich lange für richtig gehalten. Wir wollten und
haben hier den Sozialismus aufgebaut. Jetzt treffen Sie auf der
Straße immer mehr Frauen und Männer, die sagen: Bei all der
möglichen Scheiße, die gebaut worden ist - aber es ist doch besser
gewesen als heute. Wir haben Arbeit gehabt, Rechte gehabt, unsere
Kinder Studien- und Ausbildungsplätze. Es gab keine
Arbeitslosigkeit. In den Betrieben hatten die Arbeiter und die
Gewerkschaften was zu sagen.
Man hat das erkauft durch fehlende Reisefreiheit, man konnte das
System nicht wirklich kritisieren …
… das ist nicht wahr: Ganze Völkerstämme sind nach Osten gereist,
nach Ungarn, in die Tschechoslowakei, nach Rumänien.
Ja, aber nicht in den Westen.
Als wir die Mauer gebaut haben, 1961, hat es erst einmal für alle
fühlbar einen Aufschwung gegeben, weil aus dem Westen gezielt Kader
und gut ausgebildete Leute abgeworben worden sind. Es gab nichts
Einfacheres, als sie anzurufen und zu warnen, dass morgen sie
angeblich die Stasi abholen wolle. Dann sind die Hals über Kopf
abgehauen in den Westen. Das ist systematischer betrieben worden.
Auch wenn die Mauer die DDR eine Weile stabilisiert hat, hat sie
doch hunderten den Tod gebracht, viele wurden erschossen.
Es wäre vielleicht klüger gewesen, wenn sie es nicht getan hätten.
In dieser Zeit sind in der Bundesrepublik durch Polizeikugeln auch
nicht wenige Menschen umgekommen - nur davon spricht keiner. Dass
ich zu vielem geschwiegen habe, habe ich schon gesagt. Und gegen die
Mauer habe ich schon 1986 in Wien Stellung bezogen.
Dann war die Wende von 1989/90 für Sie eine große Niederlage,
weil tatsächlich der ganze Staat nach der Maueröffnung
zusammengebrochen ist?
Ja, es war die größte Niederlage.
Wie gehen Sie heute damit um?
Ich habe es schon damals im spanischen Bürgerkrieg einem kleinen
Waisenknaben gesagt, der mich im Schach besiegt hatte und das mir
zuliebe nicht werten wollte: Niederlagen muss man ertragen können.
Wenn man für eine Sache steht, muss man weitermachen. Ich halte
heute noch die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik für den besseren
Staat.
Sie haben einmal gesagt, der Weg der DDR zum Sozialismus sei
gescheitert. Nun hat aber nicht nur die DDR dies versucht, und
bisher ist es nirgendwo gelungen. Was lässt Sie denn hoffen, dass es
mit dem Sozialismus doch noch klappt?
Weil ich es jeden Tag vor Augen habe, dass der Kapitalismus die
Probleme nicht lösen kann oder sie nur auf Kosten der Menschen löst
wie jetzt beispielsweise mit der neuen Sozialhilfe ALG II. Nächstes
Jahr werden noch einmal anderthalb Millionen Kinder in die Armut
fallen. In die echte Armut! Wissen Sie, wann die erste bürgerliche
Revolution war? Im 17. Jahrhundert, die Glorious Revolution in
England.
Sie meinen, man muss also mehr Geduld haben?
Ja, man muss mehr Geduld haben. Nach den Niederlagen, die wir jetzt
erlitten haben, werden in 20, 30, 40 Jahren immer mehr Menschen zu
der Erkenntnis kommen, dass man mit dem Kapitalismus die Probleme
nicht lösen kann. Ob die kommende Gesellschaft dann sozialistisch
heißt, weiß ich nicht. Dennoch: Der Kapitalismus muss als
Grundordnung abgelöst werden.
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23-11-2004 |