Der
lange Abschied
von der "Reinheit der Waffe"?
Nur die Spitze des Eisbergs
Hauptmann R., Kommandeur der Hilfstruppe der Einheit
„Shaked", der die irrtümliche Tötung eines palästinensischen
Mädchens im Grenzbereich zwischen Sinai und Rafiach "sichergestellt"
haben soll, wurde in der vergangenen Woche aus der Armee entlassen.
Das Mädchen hatte sich auf dem Schulweg aus bisher ungeklärten
Gründen einer Stellung der Verteidigungskräfte genähert.
Jossi Sarid übte in der Knesset schwere Kritik am
Generalstabschef und forderte, die Überprüfung des Vorfalls nicht
bei der IDF zu belassen, sondern an eine außenstehende Stelle zu
übergeben: "Die IDF befindet sich vor dem moralischen Bankrott", so
Sarid.
Jedioth achronoth, Israels größte Tageszeitung,
befasste sich in einem Leitartikel mit der Lage in den
Verteidigungskräften: "Vier Jahre nach Ausbruch des Konflikts mit
den Palästinensern wird das Thema der Kampfmoral der IDF zu einem
immer brisanteren Thema. Was bisher ein störendes Durchsickern
allgemeiner Äußerungen und Angaben war, die sich mit dem gesunden
Menschenverstand kaum vereinbaren ließen, droht jetzt zu einem Strom
fundierter Tatsachen zu werden, der alle Grundmauern überschwemmen
wird, auf welchen sich die israelische Kraft stürzt.
Die erste Generation der Soldaten, die in die Intifada eingezogen
wurde, hat ihren Wehrdienst längst beendet. Es handelt sich dabei um
eine Generation, wie sie es in der Geschichte der IDF noch nie
gegeben hatte: Ein ganzer Wehrdienst mit permanentem Krieg, fast
täglichem Schusswechsel inmitten einer feindlichen Zivilbevölkerung.
Es gab noch keine Generation, die so viele Checkpoints aufstellte,
in so viele palästinensische Wohnhäuser eindrang, so viele
Absperrungen und Blockaden verhängte. Die Kampfsoldaten von
insgesamt relativ wenigen Einheiten, machen dies nun schon seit vier
Jahren: Fünf Monate ununterbrochen in den Gebieten, drei Wochen
Pause, und das immer und immer wieder.
Es gab noch nie eine Generation, der so unklare Grenzen für
Gewaltanwendung gesetzt wurden. Die Anordungen für die Eröffnung von
Feuer seit Beginn des Konflikts geben nicht nur die schwer
definierbare Art der Kämpfe und die listige und gewalttätige Natur
des Feindes wider, sondern auch den Einfluss der israelischen
Ansicht zu diesem Krieg. Was uns seit dem ersten Tag als „zweiter
Unabhängigkeitskrieg“ und „Krieg um unser Zuhause“ vermarktet wird,
kann nicht nach den Normen der Genfer Konvention ablaufen.
Generalstabschef Ja’alon sagt wiederholt, die Gesetze des Krieges
müssten neu formuliert werden. Was er meinte, war eine allgemeine
Äußerung über die Art des asymmetrischen Konflikts gegen einen
terroristischen Feind, der sich inmitten der Zivilbevölkerung
versteckt. Aber auf der Ebene des öffentlichen Bewusstseins kann man
diese Äußerungen nicht anders auslegen als eine Anerkennung der
Tatsache, dass sich die bisher bekannte Kampfmoral ebenfalls
verändert hat.
Israel machte Liquidierungen zu einem politischen Instrument, das
Eindringen in Wohnhäuser und den Aufenthalt in ihnen zu einer
Taktik, die Gefühllosigkeit an den Checkpoints zur täglichen Norm.
Für eine vom Schmerz gezeichnete Öffentlichkeit, die ihre Toten
zählt und in einer Realität lebt, in der ein Einkaufsbummel oder ein
Restaurantbesuch ein Spiel mit dem Leben ist, hat in seinen
Emotionen keinen Raum mehr für eine Auseinandersetzung damit. Im
Gegenteil: immer mehr glauben, dies sei der beste Weg, die andere
Seite zur Vernunft zu bringen.
Im vergangenen Jahr, seit auch die Hoffnung, die man auf Abu-Masen
gesetzt hatte gemeinsam mit der PA zusammenbrach, ist der Konflikt
nicht mehr als ein blutiger Kampf zwischen zwei Stämmen, ohne Logik,
ohne Ende. Viele von uns, die im Sommer im Ausland waren und
feststellten, wie man uns dort betrachtet, sahen sicherlich ein
Bild, das an das erinnert, was wir über Bosnien oder Somalia
dachten: etwas Unverständliches, Gesetzloses, Blutiges und
Nutzloses.
Unter diesen Umständen könnte durchaus der Verdacht aufkommen, dass
die Fälle der letzten Woche nur die Spitze des Eisbergs sind. …Für
einen Staat wie Israel sind Gerechtigkeit und Moral kein Luxus,
sondern eine Waffe, deren Bedeutung die von Panzern und Flugzeugen
übersteigt. Und für die Kampfsoldaten der 2000-er Jahre, die
zwischen dem Delphinarium und den Park-Hotel eingezogen wurden und
jetzt kurz vor dem Abschluss ihres Wehrdiensts stehen, ist die
Realität, in der sie die letzten drei Jahre verbrachten, eine Wunde,
deren Auswirkungen wir alle zu spüren bekommen werden.
hagalil.com
17-10-2004 |