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Palitücher:
Deutsche Geschichtsaufarbeitung und Antisemitismus

Von Andreas Stafflinger

Selten werden in Deutschland Debatten so emotional aufgeladen geführt wie bei Antisemitismusvorwürfen gegen deutsche Politiker oder Schriftsteller. Höhepunkte solcher Diskussionen stellten sicherlich die Äußerungen von Jürgen W. Möllemann (FDP) im vorletzten Jahr und die Erklärungen von Martin Hohmann (CDU) im vergangenen Herbst dar sowie allerdings auch die Goldhagen-Debatte Mitte der Neunziger Jahre.

Was aber hat das mit Geschichtsaufarbeitung, Antisemitismus und dem Palästinensertuch zu tun? Diese Frage will ich mit dem folgenden Text zu beantworten versuchen. Denn: In der Regel haben Kleidungsstücke nicht unbedingt eine deutliche Aussage, dieses aber mit Sicherheit!

Die Geschichte des "Palästinensertuches"

Die Kafiya, wie das Palituch eigentlich heißt, war ursprünglich eine von vielen verschiedenen traditionellen Kopfbedeckungen aus ländlichen arabischen Gebieten. Besondere Verbreitung fand sie unter den islamischen Fedajin. Von 1936 bis 1939 kam es in Palästina zu einem faschistischen Putsch eines ehemaligen osmanischen Offiziers, dem Mufti von Jerusalem (1). Die Truppen des Mufti trugen als Erkennungszeichen die Kafiya. In den von ihm kontrollierten Gebieten zwang der Mufti alle Männer, die Kafiya, und alle Frauen, den Schleier zu tragen.

Dadurch festigte sich in arabischen Ländern gerade das Palituch als Ausdruck des Kampfes gegen die Juden. Der Putsch von 1936-1939 war gescheitert, doch nach der Gründung Israels 1948 fand die palästinensische Nationalbewegung, unter der Führung des Muftis und unter dem Zeichen des Palituches, einen neuen Feind: den "Judenstaat" Israel.

Wissenswertes zum Antisemitismus

Die Art, wie sich ein Antisemit mit "den Juden" beschäftigt und dies äußert, lässt sich in einer Skala von latent (im Unterbewusstsein) bis manifest (das zentrale Denken bestimmend) einordnen. Latent tritt Antisemitismus dann auf, wenn verborgene Vorurteile, Klischees oder Mythen über Jüdinnen und Juden, die als antisemitische Stereotype bezeichnet werden, im Unterbewusstsein vorhanden sind, aber zum Großteil von der inneren moralischen Instanz, dem Über-Ich unterdrückt bzw. verdrängt werden.

Jeder Mensch kennt und besitzt mehr oder weniger solcher Rassismen und Antisemitismen in seinem Unterbewusstsein. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Allerdings haben diese Antisemitismen, auch wenn sie nur latent vorhanden sind, Einfluss auf alle kognitiven Emotionen und Analysen, z.B. bei der Berichterstattung über den Nahost-Konflikt.

Je nach sozialer oder politischer Lage können latente Ideologien zum Ausdruck kommen. Interessant ist die Entstehung solcher Stereotype. Das Phantasma der "jüdischen Rachsucht" geht auf das angebliche biblische Rechtssystem der Juden, "Auge um Auge, Zahn um Zahn", zurück. Dabei handelt es sich, nach David Bollag, einem Lehrer an der Heidelberger Hochschule für jüdische Studien, um eine Fehlübersetzung des hebräischen Bibeltextes, wonach "ajin tachat ajin" eigentlich "Auge für Auge" heißen müsse. Es handelt sich hierbei um das tatsächliche, damalige Rechtsprinzip des Ausgleichs von Schuld durch Entschädigung.(2)

Manifest bedeutet in diesem Falle, dass der Antisemitismus das Denken zentral beeinflusst. Egal welche Informationen auf das menschliche Denken dann einfließen, sie werden immer in Zusammenhang mit Jüdinnen und Juden gebracht. Dann werden hinter dem Sozialabbau, hinter den Amerikanern und den Kommunisten, hinter allem wird eine dunkle "jüdische Macht" vermutet. In dieser Form tritt der Antisemitismus häufig bei rechtsextremen und islamistischen Ideologen auf. Jegliche inhaltliche Argumentation scheitert hier, da oftmals bereits ein geschlossenes Weltbild existiert: das der Weltverschwörung.

Seit 1945 lässt sich in Deutschland eine neue Form des Antisemitismus beobachten: der sogenannte sekundäre Antisemtismus. Das berühmte Zitat von Zvi Rex, einem israelischen Psychoanalytiker, dass "die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden", drückt diese Erscheinungsform des Antisemitismus treffend aus. Bei dieser Variante wird mit den gleichen Stereotypen wie im traditionellen Antisemitismus gespielt, nur werden sie speziell zur Aufarbeitung der eigenen deutschen Geschichte verwendet. Zum Beispiel wirft man den Juden vor, sich an den an ihnen begangenen Verbrechen bereichern zu wollen und sich am deutschen Volk rächen zu wollen (Thema Entschädigung). Hier wird das alte Bild von den raffgierigen bzw. rachsüchtigen Juden als Stereotyp verwendet.

Deutsche Aufarbeitung – Die Ideologie von Möllemann und Hohmann

"Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen." (Kurt Tucholsky)

Während der ersten Welle groß angelegter Selbstmordattentate palästinensischer Extremisten gegen Israel, der sogenannten "ersten Intifada" von 1987 bis 1993, interessierte es in Deutschland niemanden, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) sämtliche Kritiker aus den eigenen Reihen exekutieren ließ.(3) Daneben wird unter dem Deckmantel der Israel-Kritik Israel häufig mit demselben Vokabular bezeichnet, wie früher die Nazis. Von einem "neuen Holocaust", von "hemmungslosem Vernichtungskrieg" (MdB Norbert Blüm, CDU, in einem Stern-Interview 2002) und vom "Antisemiten Scharon" ist da die Rede. Die dahinter steckende Logik ist ganz einfach: Wenn die Juden – die Opfer des Holocaust – selbst "einen Holocaust" (an den Palästinensern) verüben, ist das, was die Deutschen vor 60 Jahren gemacht haben, auch nicht mehr so schlimm.

Schließlich setzte der Bundestagsabgeordnete Hohmann (CDU) in einer Rede zum Tag der deutschen Einheit den deutschen Holocaust mit der Beteiligung von Juden an Tscheka-Erschießungskommandos nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion gleich. Henryk M. Broder (SPIEGEL-Redakteur und Autor) schreibt dazu: [Hohmann umschreibt] "einen Tatbestand der noch simpler ist als sein Gemütszustand: Je unschuldiger die Deutschen im Laufe ihrer Geschichte werden, desto schuldiger werden die Juden – vorgestern als Bolschewiken in Russland, heute als Zionisten in Palästina" (Der Spiegel 46/2003, S. 37).

Einige Monate vorher sprach Jürgen W. Möllemann (FDP) doch tatsächlich davon, dass, wenn "die Juden" so arrogant wie Michel Friedmann, der (ehemalige) stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, aufträten, sie sich gar nicht zu wundern bräuchten, wenn man sie verfolgt. Möllemann verwandelte in Fernseh-Interviews Stereotypen wie das von Antisemiten halluzinierte jüdische Großmachtstreben einfach in "zionistisches Großmachtstreben".

Antiisraelische Ressentiments sind übrigens nicht die Ausnahme, sondern sprechen großen Teilen der europäischen Bevölkerung mitten aus dem Herzen. Nach einer Umfrage, die Ende 2003 von einer EU-Kommission in Auftrag gegeben wurde, sehen 59% der Europäer Israel als größte Gefährdung für den Weltfrieden. Parallel dazu führte das Institut Emnid eine Umfrage in Deutschland durch, die ergab, dass 65% der Deutschen Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens halten.

Doch genau diese Logik, die hier in verschiedenen Variationen auftaucht, ist fatal. Daniel J. Goldhagen (4) wies 1996 mit dem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" darauf hin, dass das, was zwischen 1933 und 1945 den Juden angetan wurde, erstens mit extremer – teils von der NSDAP unbefohlener – Grausamkeit geschah, zweitens bereitwillig von einem Großteil der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde und drittens, von der Vernichtungssystematik her, einmalig war. Der Holocaust war demnach ein einmaliges, speziell deutsches Verbrechen, dass eben zu diesem Zeitpunkt deutsche Realpolitik wurde.

Bei den Thesen von Möllemann und Hohmann wird nun zweierlei konstruiert: Erstens werden Realität und Intensität des deutschen Holocaust untertrieben und somit die Schuld der Vorfahren gemindert, zweitens werden weltweit ständig neue Genozide entdeckt (was ersteres wiederum verstärkt).

Diesen populistischen Scheinargumenten hält Adornos (5) Feststellung entgegen:
"Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen." (aus: "Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?")

Zurück zum Palituch und der Frage, was das mit uns Schülern zu tun hat.

Das Palituch ist gesellschaftsfähig geworden, viele junge Leute tragen es, oftmals ohne Hintergedanken, manchmal um eben alternativ auszusehen. Doch das Palituch dient derzeit auch als Symbol für einen weltweiten antijüdischen Kampf, ob uns das bewusst sein mag oder nicht.

Und egal wie der Antisemitismus auch erscheinen mag, es bleibt dabei:
"Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod der Juden." (Jean-Paul Sartre)

Dieser Artikel ist für die Nürnberger Schülerzeitung "Bildungslücke" geschrieben worden.

Anmerkungen:
(1) Der Großmufti von Jerusalem, Amin el-Husseini:
Enger Vertrauter und Freund Hitlers; "Erfinder" des Hitlergrußes; Husseinis Weltanschauung bezieht sich hauptsächlich auf Hitlers "Mein Kampf" und "Die Weißen von Zion" (Die beiden Lehrbücher des Antisemitismus); er vergöttert den Holocaust, weil auch sein Lebensziel die Vernichtung der Juden war;
(2) Im Talmud ist ein solcher Ausgleich auf fünf Gebieten vorgeschrieben: Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Entschädigung für Arbeitsausfall und Schamgeld (Bawa Kama; Kapitel 8)
(3) Über 800 Palästinenser wurden von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) unter dem Vorsitz Arafats wegen "Kollaboration mit dem Feind" umgebracht ("Denkpause" Nr. 18; Hg. von MdEP Ilka Schröder). Mindestens 942 weitere wurden von der Hamas getötet. Das sind mehr Palästinenser, als im gleichen Zeitraum in Gefechten mit der israelischen Armee getötet wurden.
(4) Daniel Jonah Goldhagen stützt seine These vom fest in der deutschen Bevölkerung verankerten Antisemitismus auf folgende Fakten: (Beispiele)
- Bereits vor ’33 bestimmten antisemitische Grundstimmungen den Alltag der deutschen Bevölkerung. Sämtliche Schriftsteller haben über die "Judenfrage" o.ä. geschrieben, alle Parteien hatten die "Judenproblematik" in ihrem Parteiprogramm, etc.
- Die deutschen Polizeibataillone und die Wehrmacht (die beide eben aus ganz normalen Deutschen bestanden) wendeten massenhaft unbefohlene Folterungen, bzw. unbefohlene Grausamkeiten gegen Juden an.
- Während es sogar erfolgreichen Widerstand, aus der Bevölkerung, gegen die Euthanasie-Vorhaben (Auslöschung von "unwertem" Leben (z.B. Behinderten)) der Nazis gab, gab es keine nennenswerten kritischen Stimmen gegen die Judenverfolgung.
"Schon lange vor Hitler war der Antisemitismus tief verwurzelt in der deutschen Gesellschaft. Es waren nicht nur einige SS-Leute, sondern ganz normale Deutsche, die millionenfach Juden erniedrigten und ermordeten" (Zitat Buchrücken)
(5) Theodor W. Adorno (1903-1969): Musiker, Philosoph und Gesellschaftskritiker, der unter anderem versuchte die marx’sche Gesellschaftskritik zu modernisieren und an die Gesellschaft nach Auschwitz anzupassen. Gilt zusammen mit Max Horkheimer als Begründer der "Frankfurter Schule". Er ist der wohl bekannteste Autor der "Kritischen Theorie" und Vordenker der ’68er Bewegung. Er leitete mit seinem Freund Horkheimer jahrelang das "Institut für Sozialforschung" schrieb zahlreiche Aphorismen ("Minima Moralia" – Aphorismen-Sammlung), Bücher über Musik, Ästhetik und Gesellschaftskritik, darunter das mit Horkheimer gemeinsam verfasste, wichtigste Werk der "Kritischen Theorie", die "Dialektik der Aufklärung".

hagalil.com 28-09-2004

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