Warschauer Aufstand:
"Wir haben trotzdem gesiegt"
An einem selbstbewussten Polen
waren weder Stalin noch Roosevelt oder Churchill interessiert.
Dennoch war der Warschauer Aufstand nicht sinnlos
Aus Warschau Gabriele Lesser
Der Warschauer Aufstand ist Mythos und Trauma
zugleich. Er war einer der blutigsten, sinnlosesten und
verzweifeltsten Kämpfe, die die Polen in ihrer an Verzweiflung nicht
armen Geschichte geführt haben. Kein Ereignis des Zweiten Weltkriegs
hat die Polen so stark traumatisiert wie das Scheitern des Aufstands
von 1944. Bis heute sind die Hintergründe für den Tod von fast
200.000 Aufständischen und Zivilisten nicht klar.
Warum sah die Rote Armee tatenlos zu, als die
Deutschen den Warschauer Aufstand niederschlugen? Warum saß in
London plötzlich kein Pole mehr an den Funkgeräten? Warum ließen
auch die Westalliierten Großbritannien und die USA Polen im Stich?
Der Verdacht, dass sich Churchill, Roosevelt und Stalin schon vor
Ausbruch des Warschauer Aufstands darauf geeinigt hatten, ihn
scheitern zu lassen, um Stalin seine Kriegsbeute im Osten Europas zu
sichern, konnte nie bewiesen, aber auch nie widerlegt werden. Die
Historiker Wlodzimierz Borodziej und Norman Davies, die jüngst zwei
Standardwerke zum Warschauer Aufstand vorlegten, mussten die
Vorläufigkeit ihrer Bemühungen eingestehen: Auch für sie blieben die
entscheidenden Archive in Russland und Großbritannien verschlossen.
So ist es kein Wunder, dass viele Polen sehr
empfindlich und verletzt reagieren, wenn jemand den Warschauer
Aufstand 1944 mit dem Ghettoaufstand 1943 verwechselt, wie es der
frühere Bundespräsident Roman Herzog vor zehn Jahren getan hatte.
Oder wenn Deutsche scheinheilig Mitgefühl mit den ach so armen Polen
bekunden, die nach dem Vernichtungskrieg der Nazis für 50 Jahre
hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden, zugleich aber offene
Kriegsrechnungen präsentieren. "Ich wohne in Warschau", erklärt Adam
Michnik, der frühere Bürgerrechtler und heutige Chefredakteur der
Gazeta Wyborcza, die Gefühlslage vieler Polen. "Das ist eine Stadt,
die von den Deutschen total gesprengt wurde. Die Erinnerung an meine
Kindheit - das sind Trümmer, Trümmer, Trümmer. Ich erwarte heute von
keinem Deutschen, dass er sich dafür entschuldigt, dass ich in
Trümmern groß geworden bin. Ich erwarte nicht einmal, dass mich ein
Deutscher dafür um Entschuldigung bittet, dass fast meine ganze,
100-köpfige Familie im Holocaust umgekommen ist. Ich denke, dass man
diese Rechnungen schließen muss." Die Vertreibung von Millionen
Polen und Deutschen aus ihrer Heimat sei Folge des
Hitler-Stalin-Pakts gewesen. Falls die Deutschen noch offene
Kriegsrechnungen hätten, müssten sie diese selbst begleichen.
Im Spätsommer 1944 arbeiteten die einstigen
Bundesgenossen Stalin und Hitler ein letztes Mal zusammen. Denn die
Vernichtung der polnischen Hauptstadt war zwar militärisch völlig
sinnlos, psychologisch aber von großem Nutzen für Stalin. Am 27.
Juli 1944 hatte Moskau erklärt, dass das gerade erst gegründete
"Polnische Komitee der Nationalen Befreiung" in Lublin "die einzige
legale provisorische Regierung in Polen" sei. Damit begann der Kampf
um die Macht im Land.
Mit dem Aufstand wollten die bürgerlichen Polen der
ganzen Welt zeigen: "Wir sind die Herren im eigenen Haus. Wir
befreien uns selbst von den Deutschen. Und: Wir wollen nicht von
Moskau regiert werden!" Doch die Westalliierten hatten Stalin
bereits 1943 die Gebiete Ostpolens zugestanden, die er 1939
annektiert hatte. Ohne Stalin war der Krieg nicht zu gewinnen. Die
Weigerung der polnischen Exilregierung in London, als Ausgleich für
die Verluste im Osten deutsche Gebiete in Schlesien, Pommern und
Ostpreußen zu akzeptieren, sorgte für erheblichen Unmut unter den
Alliierten.
An einem selbstbewussten Polen, das nach Kriegsende
auf einen erfolgreichen Aufstand und Befreiungsschlag verweisen
konnte, waren weder Stalin, Churchill noch Roosevelt interessiert.
Nach dem gescheiterten Aufstand und der "Befreiung" Polens durch
Stalin begannen Massenverhaftungen. Die Aufständischen wurden zu
Volksfeinden und Kollaborateuren der Nazis erklärt. Es gab keine
Denkmäler, keine Museen, keine Schulbücher, in denen die Wahrheit
gestanden hätte.
Die selbstquälerische Frage nach dem Sinn des
Aufstands, der so viele Opfer forderte, stellt heute niemand mehr in
Polen. Doch die Wunden sind kaum verheilt und schmerzen noch immer.
An diesem Samstag wird in Warschau ein Aufstandsmuseum eröffnet, das
eine neue Epoche einleitet: an die Stelle der Sinnsuche wird die
Sinngebung treten: "Wir haben trotzdem gesiegt. Wir sind frei."
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01-08-2004 |