Historischer Gedenktag:
Trauer an Tisha B'AvAuszüge
aus einem Kommentar von Nadav Shragai, Ha'aretz, 27.07.2004
Übersetzung von Daniela Marcus
Der heutige Tag ist Tisha B'Av, der neunte
des Monats Av im jüdischen Jahr 5764. Der Staat Israel besteht bereits seit
56 Jahren und "der Tempelberg" ist seit 37 Jahren "in unseren Händen". Am
Vorabend von Tisha B'Av weichen wir nicht von unseren Trauerriten bezüglich
des Verlustes des heiligen Tempels, der nicht länger zu unserem öffentlichen
und religiösen Leben gehört, selbst wenn das Gefühl wirklichen Schmerzes
relativ schwach unter uns ist.
Dieses Jahr organisieren die Tempel- und
Tempelbergbewegungen vielleicht mehr Veranstaltungen zu Tisha B'Av als in
den Jahren zuvor. Sie erreichen damit jedoch nicht das allgemeine Publikum.
Selbst das Bestehen auf der Schließung von Cafés und Restaurants am Vorabend
von Tisha B'Av bringt kaum jemanden näher an den Inhalt dieses Tages. (…)
Das Ergebnis solcher Unnachgiebigkeit ist ein Verlust: Apathie gegenüber der
Wichtigkeit dieses historischen Gedenktages, der an die Zerstörung des
Landes erinnert, könnte sich bei denen, die kein Verständnis für die
Bedeutung von Tisha B'Av haben, zu wirklicher Entfremdung entwickeln.
Leider ist das Ignorieren von Tisha B'Av eine Praxis von
vielen, die sich fragen, warum sie –die im souveränen jüdischen Staat leben-
um die Zerstörung des Tempels und Jerusalems trauern müssen. Die Quelle
ihres Mangels an Verständnis ist der Verlust des nationalen Gedächtnisses.
Für zu viele Israelis findet alles hier und jetzt statt, und die weit
entfernte, vergangene Existenz des Tempels wird als bizarr empfunden.
Deshalb sollte der Schwerpunkt der Geschichte von Tisha
B'Av und dem Tempelberg auf dem Verlust jüdischer Souveränität und Freiheit
und –vor allem- auf dem Beginn der langen Exilzeit liegen. Wäre nicht dieses
Exil gewesen, das uns von unserem Land getrennt hat, dieses Exil, in dem wir
verfolgt, unterdrückt und ermodert wurden, dieses Exil, das der Zerstörung
des Tempels folgte, so hätte die Geschichte unseres Volkes vollkommen anders
aussehen können.
Chaim Arlosorov, einer der bekannten Leiter der
Hapo'alim-Bewegung, schrieb zu Beginn des letzten Jahrhunderts, dass Tisha
B'Av "der traurigste Tag" der jüdischen Nation ist, "ein Tag, um die Seelen
an ihr Schicksal zu erinnern". (…)
Wenn man all dies betrachtet, so findet man eine gewisse
Rechtfertigung in der Empfehlung, die der frühere Premierminister Menachem
Begin gab, nämlich, Tisha B'Av mit dem Schoah-Gedenktag und mit dem
Gedenktag für die Gefallenen der israelischen Armee zu verbinden. Solch eine
Verbindung würde sowohl der Schoah wie Tisha B'Av einen größeren Bezug
zukommen lassen. Die Schoah kann nur in Abwesenheit der Souveränität, im
Exil, geschehen. (…)
Die Schaffung eines nationalen Gewissens und die Stärkung
der Verbindung zwischen dem Verlust der Souveränität und der Zerstörung
sowohl der jüdischen Gemeinschaft wie auch des spirituellen und religiösen
Zentrums des jüdischen Volkes würde das heute fehlende Bewusstsein und
nationale Gedenken wieder aufrichten.
Es würde der Ehre des Buches der Klagelieder und der
traditionellen jüdischen Trauerlieder nicht schaden, wenn Tisha B'Av – vor
allem in Erziehungseinrichtungen - nicht nur dem gewidmet wäre, was verloren
gegangen ist, sondern auch dem, was hier wieder geschaffen wurde.
Die jüdische Tradition nennt unbegründeten Hass als Ursache für die
Zerstörung des Zweiten Tempels. Auch zurzeit sitzt Israel bis zum Hals in
Streitereien, die die Gesellschaft auseinander zu reißen drohen.
Deshalb ist Tisha B'Av der passende Zeitpunkt, um uns auf unsere gemeinsame
Basis zu besinnen, um zu klären, wie wir das jüdisch-israelische Gefüge als
ein Stück erhalten können und um herauszufinden, welcher
Entscheidungsfindende Mechanismus benutzt werden kann, damit wir nie wieder
solche Krisen haben werden wie zu Zeiten der Morde von Premierminister Rabin
oder Friedensaktivist Emil Grunzweig oder des Beschusses des Waffenschiffs
Altalena.
Tischa beAw -
Der 9.Aw ist ein Gedenk- und Fasttag zur Erinnerung an die
Zerstörung des 1.Tempels in Jerusalem (Bajith Rishon) durch die Babylonier
und an die Zerstörung des 2. Tempels in Jerusalem (Bajith Sheni) durch die
Römer. In Erinnerung zu bringen sind an diesem Tag auch das
Massaker der Kreuzritter
an der Bevölkerung Irushalajims
im Jahre 1099; die
Vertreibung der Juden aus Spanien, die am 9.Aw 1492 proklamiert
wurde; der 9.Aw im Jahre 1914 - an diesem Tag begann der
I. Weltkrieg...
hagalil.com
27-07-2004 |