Mehr als zwanzig Jahre gab es massive
Versuche im Bundestag die Verfolgung von Naziverbrechern zu beenden. Wer
sich an die Justiz im Adenauer Staat erinnert, weiß, dass die Verfolgung von
Naziverbrechern nur ein Randphänomen war. Kein Wunder, denn der
bundesdeutsche Nachkriegsstaat wurde weitgehend mit Kadern aus der Zeit des
Faschismus errichtet. Besonders im Justizwesen kam es fast zu einer
hundertprozentigen Übernahme der braunen Blutrichter. Nach dem Verbot der
KPD 1956 standen wesentlich mehr Kommunisten vor deutschen Gerichten als
Naziverbrecher. In Wahrheit war ab Ende der vierziger Jahre eine bestimmte
Nazivergangenheit geradezu das geeignete politische Führungszeugnis, um in
der restaurativen Bundesrepublik etwas zu werden. Nur gegen einige besonders
"schräge Vögel" mußte (meist auf Druck von außen) vorgegangen werden.
Es ist kein Zufall, dass sich der
legendäre hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Sachen Eichmann an
den Staat Israel wandte. Er hatte kein Vertrauen in die bundesdeutschen
Organe. Es herrschte ein Klima, dass Franz Josef Strauß in einer seiner
Bierzeltreden so bediente: "Ein Volk das diese wirtschaftlichen Leistungen
vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr zu hören."
Im Bundestag saßen damals viele Hohmänner, die die Verfolgung von
Naziverbrechen einstellen wollten. Es wurde in der Verjährungsdebatte 1965
darauf verwiesen, "dass es schon immer in der Geschichte Kriegsverbrechen
gegeben hätte" oder "auch die anderen hätten Verbrechen begangen".
Wer das frisch erschienene Buch von Marc
von Miquels (Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und
Vergangenheitsbewältigung in den sechziger Jahren) ließt, findet Zitate, die
mehr als deutlich sind. So warb Rainer Barzel, mit dem Satz "Hitler ist Tod
und Ulbricht lebt", 1965 für die "Ehre der deutschen Soldaten". Der
ehemalige "Nationalsozialistische Kraftfahrer" (Strauß war NSKK Mitglied)
F.J. Strauß erklärte 1965: "Die Verlängerung oder Aufhebung der Verjährung
bedeutet eine Erschütterung der Geschichte, weil man damit dokumentiert, als
ob nur die Deutschen Kriegsverbrechen begangen hätten". Strauß stand auf der
Seite der Nazis, er wollte sie amnestieren.
Der Gesetzgeber hatte bereits 1960 die
Verjährungsfrist für Totschlag verstreichen lassen, seitdem waren alle
Verbrechen unterhalb von Mord oder Beihilfe zum Mord der Verfolgung
entzogen. Das kam den braunen Mördern extrem entgegen, denn die
bundesdeutsche Justiz ging in aller Regel nur von einzelnen Tätern aus, alle
anderen Nazimörder galten als Gehilfen. Justiz, Bürokratie und Gesetzgeber
haben lange Zeit zusammengewirkt um NS-Verbrecher auf kaltem Wege zu
amnestieren. Mit dem Jahr 1965 sollte kein Nazimörder mehr belangt werden
können. Dieser Versuch scheiterte vor allem an den Protesten aus dem
Ausland. Auch im Jahr 1969 scheiterte die offene Reaktion damit,
Naziverbrechen straffrei zu stellen. Die Verjährungsfristen wurden
verlängert. In den siebziger Jahren erhitze sich die Debatte über den Umgang
mit Naziverbrechern erneut. Der damalige bayerische Innenminister Alfred
Seidl, forderte in dieser Zeit besonders intensiv die Freilassung seines
ehemaligen Mandanten des "Hauptkriegsverbrechers" Rudolf Heß. Die "liberale"
und "linksliberale" Öffentlichkeit reagierte empört auf solche Vorstöße.
Empört wurde im Jahr 1978 auch die
Provokation des ehemaligen NS-Marinerichters Filbinger zurückgewiesen. Jener
erklärte in seiner Funktion als Ministerpräsident von Baden-Württemberg:
"Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein". Damit rechtfertigte
Filbinger seine Todesurteile von Anfang Mai 1945. Der Rücktritt von
Filbinger 1978 war ein Fortschritt. Dies kann auf das "Gesetz gegen die
Verjährung von Mord" im Jahr 1979 keinesfalls übertragen werden. Denn der
Bundestag konnte sich nicht dazu durchringen, explizit Naziverbrechen und
Nazimorde von der Verjährung auszunehmen. Mit dem Bundestagsbeschluss wurden
Naziverbrechen mit anderen Verbrechen beliebig austauschbar. Die Debatte im
Bundestag 1979 war von der Formel Mord=Mord geprägt. Der Parlamentsbeschluss
hatte allerdings den Vorteil, dass es für Nazimörder keine Amnestie gab. Die
Gleichsetzung von Naziverbrechen mit anderen "Verbrechen" bedeutet jedoch
eine Relativierung des nazistischen Genozides. Der Bundestagsbeschluss vom
3. Juli 1979 war ein weiterer Hosenknopf für einen neudeutschen
Geschichtsrevisionismus und einem perfiden Opferkult.
"Wir alle sind Opfer"
Wenn jedes Verbrechen mit einem anderen
Verbrechen bunt austauschbar ist, dann kann auch jeder "Opfer" sein.
Natürlich wird mit der Parole "Wir alle sind Opfer oder Täter" konkretes
beabsichtigt. Das Besondere am Hitlerfaschismus wird ausgeblendet.
Tatsächlich wird im undifferenzierten "Täter Opfer Diskurs" verblieben, um
beim spezifischen "deutschen Leid" anzugelangen. Das ist das Motto, unter
dem das "Zentrum gegen Vertreibung" in Berlin gebaut werden soll. Unzählige
Fernsehserien und Bücher behandeln den "Bombenterror" oder den Luftkrieg
gegen Deutschland. Vor allem in den neuen Bundesländern entwickelt sich eine
"Gedenkstättenkultur", die das DDR System mit dem Hitlerfaschismus
gleichgesetzt wissen will. Die Erinnerungskultur verkommt zum esoterischen
"Karma". Unterschiede zwischen Systemen werden ignoriert, Kriege werden mit
Kriegen gleichgesetzt und historische Besonderheiten relativiert. Wenn alle
Opfer und Täter zugleich sind, dann war Auschwitz nichts außergewöhnliches.
Das kleinbürgerliche deutsche Gemüt erhält damit die Möglichkeit, sich im
"eigenen Leid" zu aalen.
Historische Verantwortung und die Frage
nach den Ursachen bestimmter Erscheinungen (Bombenkrieg gegen
Nazideutschland), verschwinden im Nebel des eigenen Opferstatutes. Der
Bundestagsbeschluss von 1979, der keinen Mord mehr Verjähren ließ und damit
dem Nazismus seinen besonderen Charakter nahm, war letztendlich ein
wichtiger Baustein in dieser Entwicklung.