Zurück in die Tora:
Zwei Jahre Jüdisches Lehrhaus Göttingen
Am 16. Juni 2004 feierte das Jüdische Lehrhaus Göttingen
sein zweijähriges Bestehen mit einem Konzert der Opernsängerin und Kantorin
Mimi Sheffer aus Berlin, die schon der Eröffnungsfeier zwei Jahre zuvor mit
Gesängen und Gebeten aus der jüdischen Liturgie einen festlichen Rahmen
verliehen hatte: "Lernen ist im Judentum eine Säule der Existenz. Die
jüdische synagogale musikalische Tradition ist so reich an Quellen und
Emotionen, dass es keinen schöneren und unmittelbareren Weg gibt, Judentum
zu erleben und zu erlernen als die Musik", schrieb Mimi Sheffer dem
Göttinger Lehrhaus in ihrer Vorankündigung für das Konzert.
Das Göttinger Lehrhaus beruft sich auf die von Franz
Rosenzweig mit seinem 1920 in Frankfurt eröffneten Freien Jüdischen Lehrhaus
begründete Tradition: Der Preis von Emanzipation und Assimilation seit der
Französischen Revolution war die Aufgabe der jüdischen kollektiven Identität
und die Reduktion des Jüdischen auf die Privatkonfession des Einzelnen.
Franz Rosenzweigs Kernfrage lautete daher: Was kann getan werden, damit
jüdisches Leben in Deutschland wieder lebendig wird? Diese Frage stellt sich
auch heute wieder und zwar aufgrund der jüdischen Einwanderung aus den
Staaten der ehemaligen Sowjetunion dringlicher als jemals zuvor. Auf allen
Ebenen müssen in den schnell gewachsenen deutschen Gemeinden Grundkenntnisse
vermittelt werden, damit sich wieder ein bewusstes Judesein entwickeln kann.
"Das Jüdisches Lehrhaus Göttingen will", so seine Vorsitzende
Eva Tichauer Moritz bei der Eröffnungsfeier im Jahre 2002, "denen die
Rückkehr zum Judentum eröffnen, für die ihre Religion längst etwas Fremdes
geworden ist, und denen helfen, denen das Judentum viel bedeutet, obwohl sie
keine Juden sind, damit ein Lern-Dialog geführt werden kann." Das Göttinger
Lehrhaus steht daher – wie sein Vorbild in Frankfurt – sowohl Juden als auch
Nichtjuden offen.
"Ein Lernen nicht mehr aus der Tora ins Leben hinein, sondern
umgekehrt aus dem Leben, aus einer Welt, die von Gesetz nicht mehr weiß,
oder sich nichts wissen macht, zurück in die Tora", so hatte es Franz
Rosenzweig formuliert, und genau so sieht heute auch das Jüdische Lehrhaus
Göttingen seine Aufgabe.
Dabei hat es in seinem zweijährigen Bestehen schon Einiges
bewegt: Am 14. November 2001 trat es mit einem Musical über Moses und den
Auszug des Volkes Israel aus Ägypten erstmals an die Öffentlichkeit. Das
erste Lehrhaus - sozusagen ein Probelernen - fand am 20. Januar 2002 über
die Opferung Jitzaaks statt und seit dem gab es jeden Monat eine
Veranstaltung: Hilde Domin, Arno Lustiger, Efrat Gal-Ed waren auf Einladung
des Lehrhauses in Göttingen; Rabbiner Bea Whyler und Rabbiner Jona Sievers,
Rabbinerin Gesa Ederberg und Kantor Laszlo Pasztor haben in Göttingen
Lehrhäuser abgehalten; Rabbinerin Elisa Klapheck hat schon drei
Lernnachmittage gestaltet, Rabbinerin Eveline Goodman-Thau zweimal in der
Nacht vom 9. zum 10. November eine Lange Lernnacht gehalten. Das Göttinger
Lehrhaus hat bisher insgesamt sechs öffentliche Konzerte veranstaltet, außer
mit Mimi Sheffer auch mit Daniel Kempin, Francois Lilienfeld, dem Trio
Bulbes und mit Jascha Nemtsov, der den Göttingern die russischen Komponisten
der Neuen Jüdischen Schule nahe brachte. Diese Konzerte fanden im Rahmen der
vom Lehrhaus organisierten 3. Jüdischen Kulturtage im Sommer 2003 statt, für
die unter anderem auch die Ausstellung "Schalom - Salam" mit Kunstobjekten
von jüdischen und muslimischen Künstlern nach Göttingen geholt worden war
und ein Kurs für israelische Tänze angeboten wurde.
Aber nicht illustre Gäste oder öffentliche Veranstaltungen,
so wichtig sie auch für die Wahrnehmung des Lehrhauses in der Göttinger
Öffentlichkeit sind, prägen die Lehrhausarbeit, sondern das gemeinsame
Lernen, das Studieren und Diskutieren von Texten - Lernnachmittage
vorbereitet von Lehrhausmitgliedern, die getreu der Rosenzweigschen Idee als
Amei-ha-aretz (Unwissende) als Lehrer und Schüler zugleich auftreten: "Der
Lehrer wird zum Anleiter im gemeinsamen Fragen, zum selbst Hörenden, zum
potenziell von seinen Schülern Lernenden", so wieder Eva Tichauer Moritz bei
der Eröffnungsfeier 2002.
Wie schon das Rosenzweigsche Lehrhaus ist auch das Jüdische
Lehrhaus Göttingen unabhängig von der Jüdischen Gemeinde und den dort
tätigen Rabbinern. Die Zusammenarbeit mit der Gemeinde wird aber natürlich
gesucht und gefördert.
Eigene Räumlichkeiten hat das Göttinger Lehrhaus bis jetzt
nicht, es ist seit Beginn seiner Tätigkeit Gast bei der gewerkschaftlichen
Bildungseinrichtung "Arbeit & Leben" in der Göttinger Langen Geismarstr. 72,
wo auch die meisten Veranstaltungen stattfinden. Jährlich wird ein
Faltblattkalender herausgegeben, in dem die jüdischen Feiertage mit
entsprechenden Erläuterungen eingetragen sind und in dem man neben dem
jeweiligen Programm für das erste Halbjahr auch lesen kann, was eigentlich
ein Jüdisches Lehrhaus ist.
Weiterführende Informationen findet man auf der Homepage des
Göttinger Lehrhauses:
www.juedisches-lehrhaus-goettingen.de
Cordula Tollmien
(Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins "Jüdisches Lehrhaus Göttingen
e.V.")
Das Programm für das zweite Halbjahr 2004:
12.9.2004, 16 Uhr, "Arbeit & Leben", Lange Geismarstraße 72:
Eva Tichauer Moritz: Schuld und Umkehr – Gedanken zu Jom Kippur
24.10.2004 16 Uhr, "Arbeit & Leben", Lange Geismarstraße 72:
Kristina Krüger: "Du sollst Dir kein Bildnis machen" – die Auslegung des
zweiten Gebots und die Wandmalerei in der spätantiken Synagoge von
Dura-Europos
31.10.2004 20 Uhr, Altes Rathaus: Micha Brumlik: Integration
durch Konflikt - Juden in Deutschland seit 1945 (Vortrag)
9.11.2004 19.30 Uhr, "Arbeit & Leben", Lange Geismarstraße
72: 3. Lange Nacht der Erinnerung:
"Im Angesicht der Zeugen" – Erinnerungen überlebender Göttinger Juden
(Videovorführung)
12.12.2004 15 Uhr (für Kinder) und 18 Uhr, Kino Lumière,
Geismarlandstraße 19: Jalda Rebling u.a.: Jehoshua ben Joseph - ein
jüdisch-christlich-muslimisches Weihnachtsmärchen (Improvisationstheater)
hagalil.com 14-07-2004 |