Nachruf:
Else Levi-Mühsam zum Abschied
Von Thomas Uhrmann
Die Israelitische Kultusgemeinde Konstanz und mit ihr eine
große Zahl von Freunden und Bekannten trauern um Else Levi-Mühsam. Am
vergangenen Donnerstag, dem 3. Juni 2004, ist in Jerusalem die langjährige
Leiterin der Dr.-Erich-Bloch-und-Lebenheim-Bibliothek der jüdischen Gemeinde
im Alter von 94 Jahren gestorben.
Else Levi-Mühsam, am 8. Mai 1910 in Görlitz geboren, hatte in
ihrer Jugend bereits den Wunsch, Bibliothekarin zu werden. Da aber in der
Stadtbücherei Görlitz keine Praktikantenstelle frei war, führte sie der Weg
an die Universität Genf, wo sie die Fächer Literatur, Philosophie,
Französisch und Völkerrecht belegte. 1931 begann sie ihre berufliche
Laufbahn bei einem Wirtschaftsjournalisten in Berlin. "Reiche Berliner
Zeit!" schrieb sie in ihren Erinnerungen. "Die große Mühsamsche
Verwandtschaft, angesehene Ärzte, Anwälte Presseleute – nur noch wenige
Jahre, und sie würden in alle Länder der Erde vertrieben oder ermordet
sein." Und auch für Else Levi-Mühsam sollte die Zeit in Deutschland bald für
viele Jahre ein Ende finden. Mit anderen jüdischen Angestellten vom
NS-Betriebsrat ihres letzten Arbeitsplatzes, dem Kaufhauskonzern Schocken in
Zwickau entlassen, bereitete sie sich mit anderen Jugendlichen in einem von
der Organisation "Hechaluz" ("Der Pionier") eingerichteten kleinen Kibbuz in
Lothringen auf das Leben in Palästina vor. 1934 "die schmerzhafteste Zäsur
meines Lebens: der grosse Abschied von Deutschland, von meiner Heimat."
In Jerusalem vollzog sich über drei Jahrzehnte die wichtigste
Phase ihres Lebens. Hier stand sie im regen geistigen Austausch mit Martin
Buber, Gerschom Scholem, David Flusser und Else Lasker-Schüler, um nur die
bekanntesten zu nennen. Hier tippte sie die ersten Manuskripte des
Schriftstellers und Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin, um sich etwas
Geld zu verdienen, bevor sie 1937 ihre erste feste Anstellung bei dem
Gründer des "Weltzentrums für jüdische Musik", Dr. Salli Levi, den sie
später heiratete, antrat. Die Begegnungen und Schriftwechsel mit großen
Komponisten und Musikwissenschaftlern, die Vorbereitung von Konzerten, die
Arbeit an der Zeitschrift "Musica Hebraica" und die Mitwirkung im Chor
bezeichnete sie einmal als ihre glücklichste Arbeit. Nachdem der Beginn des
Zweiten Weltkriegs dies alles zunichte machte, arbeitete Else Levi-Mühsam
bis zum Abzug der Engländer und zur Ausrufung des Staates Israel im Jahre
1948 in den obersten Justizbüros der britischen Militärverwaltung. Bis zur
Pensionierung war sie in den folgenden Jahren bei der Jewish Agency in der
Spezialabteilung für die berufliche Integration der akademischen Eliten aus
dem Ausland tätig.
Dass der nun bevorstehende Lebensabschnitt sie für wiederum
drei Jahrzehnte nach Deutschland führen sollte, konnte sie damals noch nicht
ahnen. Nach dem Tode ihres Vaters, dem Schriftsteller Paul Mühsam, im Jahre
1960, sah sie ihre Aufgabe darin, sein 1933 zerstörtes dichterisches Werk
wieder in den deutschen Sprachraum zurückzubringen. So kehrte sie, wenn auch
zögernd, nach Deutschland zurück, in das Land, in dem noch die Generation
der Mörder am Leben war. Zunächst von Kettwig an der Ruhr, dann vom
oberbayerischen Markt Neubeuern am Inn und zuletzt die "reichen
fünfundzwanzig Jahre" bis 1995 von Konstanz aus, reiste sie mit Lesungen aus
den Werken ihres Vaters durch Deutschland und die Schweiz. Sie sorgte für
die Herausgabe von zwölf Büchern, Neuauflagen und Auswahlbänden sowie für
die Aufnahme seines Nachlasses beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
Auch widmete sie Vorträge und Bücher dem Andenken an vergessene Dichter wie
Ernst Lissauer oder den in Auschwitz ermordeten Arthur Silbergleit. Ihr
Wirken führte zur aktiven Mitgliedschaft in der Künstlergilde Esslingen, dem
Wangener Kreis, dem Internationalen Bodensee-Club, der
Erich-Mühsam-Gesellschaft Lübeck und der Gesellschaft für
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Konstanz. Im Jahre 1971 wurde sie mit der
Walter-Meckauer-Medaille ausgezeichnet, die zuvor als erstem Max Tau
zuerkannt worden war, und 1972 ernannte sie ihre Geburtsstadt Görlitz zur
Ehrenbürgerin.
Else Levi-Mühsam und Dr. Erich Bloch (ca.1982) in der
Bibliothek
Ihr "besonderes Baby", wie sie es nannte, ihre große Liebe in
Konstanz war die Dr.-Erich-Bloch-und-Lebenheim-Bibliothek der Israelitischen
Kultusgemeinde, die sie zusammen mit Dr. Erich Bloch aufbaute und bis zu
ihrem Umzug nach Jerusalem 1995 mit Hingabe und Sachverstand betreute. Und
so gab es viele Nutzer, die nicht allein wegen der Bücher die
Judaica-Bibliothek in der Sigismundstrasse aufsuchten, sondern einfach, um
Gespräche mit dieser außergewöhnlichen, klugen und warmherzigen
Persönlichkeit zu führen. Noch von Jerusalem aus war sie ständig in Kontakt
mit dem Verfasser dieser Zeilen, ihrem "Meschores" (Helfer) wie sie ihn
herzlich, aber manchmal auch energisch auf gut jiddisch nannte, um
Neuigkeiten über die Bibliotheksarbeit zu erfahren. Die für sie
erfreulichste Nachricht war die Aufnahme der Bücherei in den
Südwestdeutschen Bibliotheksverbund beim Bibliotheksservice-Zentrum
Baden-Württemberg (BSZ) mit der Aufnahme des Bibliotheksbestandes als ersten
einer jüdischen Gemeinde in Deutschland in den elektronischen Katalog -
letztlich auch eine Frucht und eine Würdigung ihrer langjährigen Arbeit.
85. Geburtstag von Else Levi-Mühsam
(8. Mai 1995): Übergabe der Bibliotheksleitung
an Thomas Uhrmann
Vor ihrem Umzug in ein Elternheim in Jerusalem feierte die
Israelitische Kultusgemeinde im Mai 1995 ihren 85. Geburtstag im
Gemeindezentrum. Zurück in Israel, ließ das Heimweh nach Konstanz erst nach
sehr langer Zeit nach, doch wer sie in Jerusalem wiedersehen durfte, erlebte
sie fröhlich, strahlend und mit gewohnter Energie, durch die sie die Kraft
hatte, sich in ihrer zweiten Heimat schließlich erneut zurechzufinden.
Zu den beiden letzten Stationen ihres Lebens lassen wir Else
Levi-Mühsam noch einmal selbst zu Wort kommen. Konstanz: "Wenn ich in den
Strassen dieser kleinen Mittelstadt umhergehe, Bekannten und guten Freunden
begegne und wir miteinander stehen bleiben und Gemeinsames bereden; oder
wenn ich, von einer meiner Reisen kommend, den See erblicke, dann überkommt
mich ein frohes Gefühl, wie auch durch die Nähe herzlich guter Freunde, die
das Schicksal mir hier schenkte. Ja, ein frohes Gefühl." Und Jerusalem: "Das
mir vertraute S. Moses-Elterheim in Baqa wird nun wohl meine allerletzte
Station sein. Ich blicke dankbar auf mein reiches Leben zurück."
Dankbar blicken wir Konstanzer, die Israelitische
Kultusgemeinde und viele Freunde und Bekannte in Deutschland, in Israel und
anderswo auf die reichen Begegnungen mit Else Levi-Mühsam zurück. Schalom,
Elischewa , Schalom Else!
Der Verfasser leitet als Nachfolger von Else Levi-Mühsam
die Dr.-Erich-Bloch-und-Lebenheim-Bibliothek der Israelitischen
Kultusgemeinde Konstanz.
(www.bsz-bw.de/eu/blochbib
mit Fotos von E. L.-Mühsam ).
hagalil.com 10-06-2004 |