Der Holocaust in Ungarn:
60 Jahre danach in europäischer Perspektive
Von Magdalena Marsovszky
Tagungsbericht, zuerst erschienen bei
H-Soz-u-Kult
Jedes zehnte Opfer des Holocaust und jedes dritte Opfer in
Auschwitz war ein Ungar. Dennoch wissen nur zwei Prozent der Erwachsenen in
Ungarn über den Holocaust Bescheid, während ein Fünftel überhaupt keine
Ahnung hat. Viele wissen nicht, dass er in Europa stattfand, manche glauben
gar, er habe sich im Mittelalter ereignet.[1]
Bei fast einem Drittel der künftigen Geschichtslehrer sind antisemitische
und ausgrenzende Einstellungen dominant. Ein Drittel der befragten Studenten
ist der Meinung, es werde viel mehr den Opfern des Holocaust gedacht als
denen des Kommunismus und führen dies auf einen jüdischen Einfluss zurück.[2]
Angesichts dieser Untersuchungsergebnisse zielte die
Themenstellung der Budapester Konferenz [3]
nicht nur auf eine Analyse der Historiographie des ungarischen Holocaust ab,
sondern hatte einen eindeutigen Bezug zur Gegenwart. Unüberhörbar durchzog
die Veranstaltung auch der Appell, sich endlich der eigenen Vergangenheit zu
stellen.
Dieses großzügig und perfekt organisierte erste Projekt des
am 15. April 2004 eröffneten Budapester 'Holocaust Dokumentationszentrums
und Gedenksammlung - Stiftung des öffentlichen Rechts'[4],
fand im Prachtbau der Ungarischen Akademie der Wissenschaften statt und war
in eine ganze Reihe anderer Konferenzen und Veranstaltungen zum 60sten
Jahrestag des ungarischen Holocaust eingebettet.[5]
60 Jahre zuvor, am 16. April 1944 begann das letzte Kapitel des ungarischen
Holocaust, als mehrere Hunderttausend ungarische Staatsbürger in Ghettos
gesperrt, in Lager versammelt und kurz darauf deportiert wurden.
"Was die Deutschen taten, ist erforscht, was die
Kollaborateure taten, dagegen nicht!, sagte David Bankier in den Begrüßungen
der eröffnenden Plenarsitzung nach der Historikerin und Mitglied der
Akademie der Wissenschaften, Mária Ormos, dem Minister für Kultur, István
Hiller, dem Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften,
Szilveszter Vizi E., der Vorsitzenden der französischen Stiftung zur
Erinnerung an die Shoa, Simone Veil und dem Direktor des Center for Advanced
Holocaust Studies USHMM Paul A. Shapiro. Sie alle plädierten dafür, die
abstrakt erscheinende Vergangenheitsbetrachtung des Holocaust zum
persönlichen Gut werden zu lassen, da die Ideologie, die dem Völkermord
zugrunde lag, von Menschen erarbeitet wurde und an seiner Durchführung
Menschen beteiligt waren.
Die Warnungen des Festredners, des aus Ungarn stammenden und
mit der ungarischen Gegenwartssituation bestens vertrauten
Politikwissenschaftlers und Direktors des Rosenthal Institutes für
Holocaustforschung, Randolph L. Braham [6]
waren denn auch nicht zu überhören: "I am not really concerned with the
skinheads and the other charlatans who deny the Holocaust. /.../ I am more
concerned about the respectable political, governmental, and military
figures who /.../ are in the forefront of the history-cleansing campaign
today. They are the ones eager to bring about the posthumous rehabilitation
of men like Gömbös and Bárdossy, to erect statues to Teleki, organize
exhibits on Szálasi, and resurrect the national-Christian principles of the
Horthy era – to cite just a few of recent disturbing developments."
Die interdisziplinäre Konferenz, an der 52 bedeutende
Forscher und Nachwuchswissenschaftler aus neun Ländern teilnahmen, bestand
aus neun Sektionen mit je vier bis sieben Vorträgen, so dass manche
thematische Überlappungen die Auswahl erschwerten. Unmittelbarer
Ausgangspunkt in der Vorgeschichte des Holocaust (Sektionen 1 und 2) ist –
wie in Deutschland - der Friedensvertrag von Trianon (1920). Die
Terminologie "Schandfrieden von Versailles" ist in Ungarn ebenfalls bekannt,
als Ungarn – in der Monarchie nach dem ersten Weltkrieg auf der
Verliererseite - zwei Drittel seiner Gebiete an die Nachbarländer abtreten
musste und somit nahezu ein Drittel der ungarischen Bevölkerung Staatsbürger
der Nachbarländer wurde. In der aggressiven Illusion des Irredentismus
potenzierte sich der Nationalismus zum Wahn von der Reinrassigkeit des
'Magyarentums', was auf der anderen Seite den Antisemitismus fast zwanghaft
vorantrieb. Nach 1920 verbreitete sich die Ansicht, dass eine Ursache für
die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes die Abwanderung des
'reinrassigen Magyarentums' nach Amerika und die Einwanderung der Juden aus
Galizien sei. Krisztián Ungváry untersuchte in seinem Vortrag die politische
Genese der Idee, diesen Vorgang umzukehren. Wichtig in diesem Gesamtprozess
waren für Mária M. Kovács alle diskriminativen Gesetze, die zum Schutz des
'Magyarentums' vor den Juden verabschiedet wurden. Für sie ist der 1920
eingeführte und so harmlos klingende sogenannte 'Numerus Clausus' an den
Universitäten das erste Judengesetz Europas schlechthin. Ihr Vortrag war
eine eindeutige Stellungnahme im gegenwärtigen Historikerstreit, in dem 60
Jahre nach dem Holocaust noch immer gefragt wird "ob denn die Reihe der
Judengesetze, unter anderem der Numerus Clausus, überhaupt eine Rolle auf
dem Weg zur Ausrottung der Juden spielte oder nicht". László Karsai, der
sich ebenfalls für die Umbenennung des 'Numerus Clausus' aussprach, zählte
somit 22 (statt wie bisher 21) der zwischen 1920 und 1942 von der
Nationalversammlung bzw. vom Abgeordnetenhaus verabschiedeten Judengesetze.
Wie seine Vorrednerin betonte auch er, dass diese bis 1940 ganz und gar ohne
den Druck des nationalsozialistischen Deutschlands entstanden. Er wies mit
Hilfe von statistischen Daten das allmähliche Verschwinden der Juden aus der
Verwaltung nach. Wie sich dies konkret im Bereich der Landwirtschaft
vollzog, darüber berichtete László Csösz.
Nach Máté Gárdonyi und Tamás Majsai, die die Verantwortung
der christlichen Kirchen und der christlich-nationalen Schichten Ungarns für
den Antisemitismus betonten und nach Miklós Hernádi, der die Vorbilder
rhetorischer Mittel des Judenhasses vor allem in biblischen Gegensatzpaaren
sieht, wurde Zoltán Endreffy konkret: "Zwar haben die Kirchen die Ausrottung
der Juden nie angeordnet, doch in einem nicht geringen Maße haben sie zum
Holocaust beigetragen, denn Hitler versuchte in der Praxis genau das zu
verwirklichen, was das Ziel der Kirchen über Jahrhunderte war, nämlich die
Juden /.../ zum Verschwinden zu bringen".
Im Endeffekt war die Rettungsbereitschaft, die es unter
Diplomaten, beim Roten Kreuz oder bei den jüdischen Organisationen selbst
gab (Attila Novák, Sári Reuveni, Szabolcs Szita, Sektion 3: Juden und ihre
Retter), als geringfügig im Verhältnis zu den antisemitischen Denkstrukturen
der ungarischen Gesellschaft anzusehen. Dies führte zu einem derart rasanten
Tempo der 'Entjudung' Ungarns, dass es andere europäische Länder darin bei
weitem übertraf. Christian Gerlach (Sektion 6, Ungarn – 1944)[7]
verdeutlichte, dass die Effektivität, mit der im Frühjahr und im Sommer 1944
– eigentlich im 'Holocaust nach dem Holocaust' – binnen acht Wochen fast
eine halbe Million ungarischer Juden nach Auschwitz deportiert werden
konnten, auf eine enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und ungarischen
Behörden und auf eine allein mit dem deutschen Vorgehen vergleichbare
bürokratische Konsequenz auf ungarischer Seite zurückzuführen war. Großes
Aufsehen erregte László Varga mit seiner Behauptung, die Rettung der Juden
wäre selbst nach der deutschen Belagerung noch möglich gewesen.
Als Verbündeter des Deutschen Reiches war Ungarn im Zweiten
Weltkrieg bestrebt, die von den Juden enteigneten Güter für sich selbst zu
behalten. Sie wurden nach dem Krieg nicht vollständig zurückgegeben, und
auch seit 1990 unternahm keine Regierung den Versuch, die Rolle Ungarns in
Bezug auf die wirtschaftliche Enteignung der ungarischen Juden zu klären.
Vielen Opfern fällt es schwer, die Entschädigung von den Nachfolgern der
Täter anzunehmen, besonders, wenn keine Versöhnung in Sicht ist. Diese kann
es jedoch nur dann geben, wenn die Täter zur Verantwortung gezogen werden.
Doch dazu ist der Informationsstand nicht ausreichend. So wurde z.B. der
Rolle von Eichmanns 'willigsten Helfern' im Holocaust, der Gendarmerie, bis
heute kaum nachgegangen (Ágnes Peresztegi, Judit Molnár, Sektion 8:
Verantwortung und Wiedergutmachung).
Unter diesen Umständen sind einerseits viele Juden mit der
Frage konfrontiert, warum sie im Land der Täter blieben. Andererseits
liefern die Untersuchungen der psychischen und physischen Mechanismen, die
Holocaust-Opfer und ihre Kinder bei der Verarbeitung und Kompensierung ihrer
Traumata entwickeln, wichtige Informationen für die Gesellschaft, wie mit
diesem Erbe umzugehen sei (Viktor Karády, Julia Vajda Sektion 7: Die
Holocaust-Narrative und ihre Interpretierung). So muss besonders bei
Spannungen und Kommunikationsstörungen zwischen Juden und Nicht-Juden auch
der Tatsache Rechnung getragen werden, dass der heutzutage so oft erwähnte
Vergleich zwischen den Verbrechen des Kommunismus und denen des Holocaust
bei den in Ungarn lebenden Juden Ängste auslöst und als Antisemitismus
aufgefasst wird (András Kovács/ Sektion 3, Éva Kovács, Sektion 7). Die
Langzeitfolgen des Holocaust wurden in Ungarn bis heute nicht wirklich
untersucht. Das Schweigen der zutiefst traumatisierten Überlebenden ist ein
bekanntes Phänomen. Doch wenn auch die Gesellschaft schweigt und nicht den
mindesten Versuch einer Aufarbeitung unternimmt, wird daraus ein gemeinsames
Ver-Schweigen (Ferenc Erös, Sektion 7). Die Einführung eines
Holocaust-Gedenktages, wie dies im Jahre 2000 für den 16. April geschehen
ist, reicht allein nicht. Wenn das Bewusstsein, Verantwortung zu übernehmen,
nicht in der Schule und im Studium entwickelt wird (Mónika Kovács, Sektion
8: Holocaust in der ungarischen Literatur und im Unterricht), wenn die
Gedanken der 'Banalität des Bösen' nicht immer wieder aufs Neue aktualisiert
werden (György Bence), wenn gesellschaftliche Traumata, wie im Falle Ungarns
z.B. der 'Friedenvertrag von Trianon' nicht durch reflexive Kommunikation
aufgearbeitet werden, führt dies dazu, dass immer wieder aufs Neue Schuldige
gesucht werden und sich die gesellschaftliche Aggression im Antisemitismus
entlädt (Attila Pók, Sektion 7).
Die Holocaust Konferenz in Budapest war ein wichtiger Schritt
in die richtige Richtung, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Die
demnächst erscheinende englisch-ungarische Dokumentation bietet hoffentlich
die Grundlage für weitere Stationen dieses Ost-West-Dialoges.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Untersuchung der Soziologin, Mária Vásárhelyi: ‚Taní-tani – de
hogyan? Kirekesztö és demokratikus attidüdök a leendö történelemtanárok
körében’ (Unterrichten – aber wie? Ausgrenzende und demokratische Attitüden
bei den künftigen Geschichtslehrern), in: Élet és Irodalom, 13. Februar
2004.
[2] Vgl. ‚Bericht über die Holocaust-Forschung’, im Auftrag der Budapester
Stiftung ‚Holocaust Dokumentationszentrums und Gedenkstätte’ Ende 2003
durchgeführte Untersuchung des Soziologen, András Kovács, vorgestellt in der
Pressekonferenz des Ministerialbeauftragten der Stiftung, László Harsányi am
05. Februar 2004.
[3] Das Programm der Konferenz siehe unter:
hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=2532
[4] www.bphm.org/ (die Website ist leider noch immer nicht geschaltet).
[5] Die Budapester Konferenz begriff sich als die Fortsetzung der im United
States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C. in Zusammenarbeit mit dem
Rosenthal Institute for Holocaust Studies at the Graduate Center of the City
University of New York zwischen dem 16. und 18. März stattgefundenen
Konferenz ‚The Holocaust in Hungary: Sixty Years later’. Am 15. April wurde
auf dem Gelände des Lagers Auschwitz I. eine ständige Ausstellung mit dem
Titel ‚Der verratene Staatsbürger’ eröffnet, Mitte April fand im Collegium
Hungaricum in Berlin die Veranstaltungsreihe ‚60 Jahre nach dem ungarischen
Holocaust’ statt und am 27. April in Paris die Konferenz‚ 60 Jahre
Ausrottung der ungarischen Juden’
(hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=2663).
[6] Vgl. The Politics of Genocide: The Holocaust in Hungary, Wayne State
University Press, 2000, das die gekürzte Version seines klassischen Werks
‚The Politics of Genocide’ (Columbia U. Press, 1981) ist.
[7] Vgl. auch: GERLACH, Christian/ ALY, Götz (2002), Das letzte Kapitel. Der
Mord an den ungarischen Juden, Stuttgart, München.
hagalil.com
22-06-2004 |