Als in der Synagoge die Orgel erklang:
Reinheit des Glaubens oder Einheit der Gemeinden?
Zur Geschichte des Streits zwischen
orthodoxen und liberalen Juden
Von Michael Brenner
Es ist nicht das erste Mal, dass in Deutschland ein Streit
zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen im Judentum die staatlichen
Behörden bemüht. Allerdings sind heute die Fronten vertauscht. Im Jahre 1876
entschied der Preußische Landtag, dass die damals in die Minderheit gerückte
Orthodoxie das Recht habe, ihre eigenen so genannten "Austrittsgemeinden" zu
gründen. Die Orthodoxen argumentierten damals, sie wollten mit ihrer
Kirchensteuer keine Synagogen unterstützen, die ihrer Meinung nach gegen
jüdisches Religionsgesetz verstießen. Zwar konnten sie nun in Preußen eigene
Gemeinden etablieren, die Mehrzahl der Orthodoxen blieb jedoch weiterhin
Mitglied in den mehrheitlich liberal geführten "Einheitsgemeinden" und
stellte damit das Prinzip der Einheit der Gemeinde über das der Reinheit des
Glaubens.
Heute sind es die Liberalen, die in der Minderheit sind und
die Anerkennung ihrer eigenen Gemeinden auf rechtlichem Weg durchsetzen
wollen. Ihre Ursprünge haben die Reformer oder liberalen Juden im
Emanzipationskampf des 19. Jahrhunderts. Sie betrachteten die rabbinische
Tradition des Talmud und seine Auslegungen nicht als göttlichen Ursprungs
und passten zentrale Gebote wie die Speisegesetze oder strenge Schabbatruhe
den Zeitumständen an. Die Synagogen nannten sie nun Tempel, um damit zum
Ausdruck zu bringen, dass der Tempel für sie nicht mehr in Jerusalem,
sondern in Hamburg oder Frankfurt stand. Gebete wurden zunehmend in
deutscher Sprache gesprochen, diejenigen mit Bezug zur Rückkehr nach Zion
sollten ganz verschwinden und die Rabbiner kleideten sich wie
protestantische Geistliche. Vor allem aber unterschieden sich als äußeres
Zeichen die Reformer von den Orthodoxen durch die Einführung der Orgel. In
einem traditionellen Gottesdienst war diese unvorstellbar. Erstens sollte
die Trauer über den zerstörten Tempel durch das Fehlen von Musikinstrumenten
in der Synagoge zum Ausdruck kommen, zweitens wurde die Orgel als Kopie des
christlichen Gottesdienstes angesehen und drittens durfte sie am Schabbat
ohnehin nicht gespielt werden, da dies als Arbeitsverrichtung gilt.
Im Grunde genommen war die Orthodoxie ebenso eine Erfindung
des 19. Jahrhunderts. Sie reagierte auf die Neuerungen der Reformer. Auch
sie mussten mit der Zeit gehen und hatten wenig mit den Traditionalisten in
Osteuropa gemeinsam. Sie verschlossen sich nicht mehr gegenüber weltlicher
Bildung, sondern propagierten einen neuen Weg als "Tora im derech eretz",
was übersetzt so viel bedeutet wie: nach dem jüdischen Religionsgesetz leben
und trotzdem an der Kultur der Umwelt teilhaben. So passten sich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch orthodoxe Rabbiner mit ihrer
Kleidung, der Einführung regelmäßiger Predigten und der Streichung
bestimmter Gebete ihrer Umwelt an. Nur in einem Punkt ließen diese
"Neo-Orthodoxen" nicht mit sich reden: all das, was für sie Teil des
jüdischen Religionsgesetzes war, galt als göttliches Wort und durfte nicht
verändert werden.
Bei allen Differenzen verstanden sich sowohl Liberale wie
auch Orthodoxe und die zwischen beiden angesiedelte Richtung der
Konservativen (damals: Positiv-Historisches Judentum) als "Deutsche
Staatsbürger jüdischen Glaubens", die sich von einem traditionellen Judentum
der voremanzipatorischen Zeit oder dem osteuropäischen Judentum bis ins 20.
Jahrhundert hinein deutlich absetzten. Nach 1945 konnte man diese
deutsch-jüdischen Traditionen nur noch in der Emigration finden, von London
über New York bis Montevideo. In Deutschland selbst jedoch setzte sich die
jüdische Bevölkerung größtenteils aus osteuropäischen Juden zusammen, die
ganz andere Traditionen mit sich brachten. Das dabei heute herrschende
Missverständnis macht ihre Nachkommen oftmals zu "Orthodoxen", die streng an
den jüdischen Religionsgesetzen festhalten. Dies trifft jedoch nur auf eine
verschwindend kleine Minderheit zu. Wenn trotzdem die meisten
"Drei-Tage-Juden" an den Hohen Feiertagen eine orthodoxe Synagoge besuchen,
so hat dies vor allem mit einer gefühlsmäßigen Bindung an familiäre
Traditionen zu tun. Selbstverständlich klingt in unserer Gesellschaft
liberal und progressiv sympathischer als orthodox, doch sollten wir uns in
dieser Diskussion nicht nur vom Klang dieser Worte des 19. Jahrhunderts
verleiten lassen. Bereits vor 1933 haben sich solch unorthodoxe Juden wie
Franz Rosenzweig, Franz Kafka und Gershom Scholem ebenso von der
Spiritualität des orthodoxen Judentums osteuropäischer Prägung wie von den
liberalen Traditionen des deutschen Judentums leiten lassen.
Historische Analogien liegen auf der Hand und werden häufig
herangezogen. Dennoch sollte man damit äußerst vorsichtig hantieren. Die
Situation des früheren deutschen Judentums auf heute übertragen zu wollen
führt leicht in die Irre. Auf den liberalen Berliner
Rabbiner Leo
Baeck, der aus einem orthodoxen Milieu stammte und dies
respektierte, können sich heute alle Glaubensrichtungen ebenso berufen wie
auf seinen orthodoxen Frankfurter Kollegen Nehemias Anton Nobel, der nicht
nur als Talmudexperte, sondern auch als Goethekenner geschätzt wurde. Ihre
Gemeinden sind nicht mit den heutigen vergleichbar, ihre Probleme ganz
andere. Vor allem stellte sich damals das Hauptproblem von heute noch nicht:
die Unklarheit darüber, wer als Jude anerkannt wird. Das Kind einer
jüdischen Mutter oder wer zum Judentum konvertiert, hieß zwei Jahrtausende
lang die Standardantwort. Liberale Juden in den USA lassen nun aber auch
Kinder jüdischer Väter gelten, Orthodoxe wiederum akzeptieren keine
Konversionen durch nichtorthodoxe Rabbiner. Da jüdische Gemeinden keine
Sportvereine sind, bei denen sich jeder, der möchte, eintragen kann und
keine der beiden Seiten in dieser Frage nachgeben kann, ist hier kein
Kompromiss zu erwarten.
Symbolisch tritt heute die Frage, was liberal oder orthodox
ist, nicht mehr am Beispiel der Orgel ins Blickfeld, sondern anhand der
Rolle der Frau, die im 19. Jahrhundert noch nicht akut war. Erst 1930
existierte die erste Gemeindesynagoge mit gemeinsamer Sitzordnung und wenige
Jahre später wurde mit
Regine Jonas
das erste "Fräulein Rabbiner", wie sie sich nannte, ordiniert. Sie erhielt
allerdings keine eigene Gemeinde und wurde ein Opfer der Schoa. Seit den
1970er Jahren hat sich die Situation in den USA geändert. Ähnlich der
evangelischen Kirche akzeptieren die Liberalen und Konservativen
Rabbinerinnen und erkennen der Frau im Gottesdienst volle Gleichberechtigung
zu, ähnlich den Katholiken ist dies bei der Orthodoxie undenkbar. Beide
Positionen haben ihre Gründe, die in einer offenen Gesellschaft akzeptiert
werden sollten.
Man sollte sich darum bemühen, die politische und religiöse
Ebene der heutigen Diskussion auseinander zu halten. Der Zentralrat der
Juden agiert als politische Vertretung der gesamten jüdischen Gemeinschaft,
während andere Verbände partikuläre liberale oder orthodoxe religiöse
Interessen vertreten. Im Zentralrat sind heute neben orthodoxen auch
nicht-orthodoxe Gemeinden, die Rabbinerinnen anstellen und den Frauen volle
Gleichberechtigung einräumen, vertreten. Die Konflikte um den religiösen
Ritus müssen im lokalen Bereich gemäß den jeweiligen Gegebenheiten und
vielleicht auch mit etwas Fantasie ausgetragen werden. Hier sollten sich in
der Tat beide Seiten stärker darum bemühen, nicht nur die äußere Form der
historisch bewährten Einheitsgemeinde zu praktizieren, sondern auch die Idee
der Einheit zu verinnerlichen.
Professor Michael Brenner lehrt Jüdische Geschichte und
Kultur an der Universität München. Erschienen in:
Die Welt, 18. Mai 2004
Einheitlich, vielfältig, zentral oder liberal:
Der Streit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft
Diskussionen zum Streit...
Missbrauch des Namens Leo Baeck:
Baeck-Enkelin greift den Zentralrat an
In einem offenen Brief zeigt sich die Enkelin von
Rabbiner Dr. Leo Baeck " tief bestürzt und betroffen von der verzerrenden
Weise, in der der Zentralrat der Juden sich des Erbes unseres Großvaters Leo
Baeck bemächtigt"...
Pressemitteilung des Direktoriums des Zentralrats:
Uneingeschränkte Unterstützung für Präsident Spiegel
Das Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland hat
auf seiner Sitzung in Düsseldorf dem Präsidenten des Zentralrats, Dr. Paul
Spiegel, einstimmig seine volle Unterstützung zugesichert...
Das Direktorium des Zentralrats hat für den 18.04. eine wichtige Sitzung
anberaumt. Der Präsident des Zentralrats möchte laut
Netzeitung,
die ein Direktoriumsmitglied zitierte, die jüdische Gemeinschaft "auf Linie"
bringen, damit seine Politik der Ausgrenzung liberaler Tendenzen geschlossen
mitgetragen werde. Das Krisengespräch diene der Vorbereitung eines Treffens
zwischen Spiegel, Bundeskanzler Schröder und Innenminister Schily am
Mittwoch, bei welchem der Zentralrat seinen Anspruch als einziger Empfänger
der im Staatsvertrag auf ursprünglich 6.000.000 DM vereinbarten Zuwendungen
klarstellen will. Im Zentralorgan des Zentralrats der Juden in Deutschland
hatte der Präsident Zentralrats der Union progressiver Juden vorgeworfen
eine Verleumdungskampagne zu betreiben, wenn sie in einem Schreiben an die
Bundesregierung eine Diskriminierung der Liberalen beklage.
hagalil.com
18-05-2004 |