
Kopftuch in der Schule:
Das falsche Verbot
Ab Herbst dieses Jahres soll in Frankreich das
Kopftuch als religiöses Symbol an allen öffentlichen Schulen verboten sein.
Der französische Erziehungsminister Luc Ferry zog jüngst sogar in Erwägung,
zusätzlich auch "auffällig" getragene, religiös motivierte Bärte zu
verbannen. In Großbritannien dürfen Schülerinnen das Kopftuch tragen -
müssen es aber abnehmen, wenn es gefährlich sein könnte, etwa wenn im
Chemieunterricht mit Bunsenbrennern hantiert wird. Insofern das Kopftuch den
Ausschluss der Frauen aus den gesellschaftlichen Angelegenheiten
symbolisiert, strapaziert sein Auftauchen die Toleranz liberaler und
demokratischer Länder. Zugleich ist der Kopftuchstreit aber auch Ausdruck
der Tatsache, dass es den modernen westlichen Gesellschaften nicht gelingt,
ihre (muslimischen) Minderheiten zu integrieren.
Von PIERRE
TEVANIAN
Philosophielehrer in einem Gymnasium in Drancy, das von 2000 Schülerinnen
besucht wird, darunter zehn, die das Kopftuch tragen. Mitglied des Syndicat
national de lenseignement secondaire (SNES) und von LEmancipation. Autor von
"Ministère de la peur. Réflexions sur le nouvel ordre sécuritaire", Paris
(LEsprit frappeur) 2003.
Die großen
Medien und die meisten Befürworter des Kopftuch-Gesetzes unterstellen zwei
klar umrissene Fraktionen in der Kopftuchfrage: auf der einen Seite die
Vertreter eines prinzipiellen Laizismus, die das Kopftuchverbot befürworten,
und auf der anderen Seite die "Anhänger" oder "Verteidiger des Schleiers".
Die Medien
lassen auf der Seite der Kritiker nämlich immer nur verschleierte Frauen und
religiöse Führer zu Wort kommen und blenden zahlreiche Organisationen aus,
die zwar laizistisch eingestellt sind, es aber ablehnen, den Laizismus durch
Verbote und Relegationen durchzusetzen: Neben der Liga für Menschenrechte
gibt es in Frankreich die Ligue de lenseignement, den Mouvement contre le
racisme et pour lamitié entre les peuples (MRAP), daneben Lehrer- und
Elternorganisationen, die Fédération syndicale unitaire (FSU) und die
Fédération des conseils de parents délèves (FCPE).
Und noch eine
weitere Klarstellung ist erforderlich: Das Gesetz, das "deutlich sichtbare
religiöse Zeichen" verbietet, ist nicht, wie behauptet wird, eine notwendige
"Rückbesinnung" auf die "in Vergessenheit geratenen" großen laizistischen
Prinzipien, sondern stellt in Wirklichkeit einen Bruch dar. In Vergessenheit
geraten ist vielmehr, dass der Laizismus (wie ihn die Gesetzestexte von
1881, 1882 und 1886 definieren), die Schulräume, die Lehrpläne und den
Lehrkörper betrifft, aber nicht die Schüler.
Natürlich gelten
auch für die Schüler gewisse Regeln, zum Beispiel das pünktliche Erscheinen
zum Unterricht und die Achtung des anderen. Doch es ist nicht angebracht,
gerade die Heranwachsenden stärker zu reglementieren, schließlich gehen sie
in die Schule, um etwas zu lernen und sich zu entwickeln. Wenn man das
vergisst, verliert die Pädagogik ihren Sinn. Man mag vom Kopftuch und der
Weigerung, es in der Schule abzulegen, halten, was man will, doch diese
Weigerung rechtfertigt keine so schwer wiegende Maßnahme wie den
Schulverweis. Die staatliche Schule ist bei all ihren Mängeln ein
einzigartiger Raum, in dem Schülerinnen und Schüler sich Wissen und
Fertigkeiten aneignen und Zeugnisse bekommen - sprich: hier haben sie Zugang
zu den wichtigsten Instrumenten ihrer Emanzipation.
Einer
Klarstellung bedarf es auch hinsichtlich der Frage der Frauenrechte. Im
Streit um das Kopftuch an der Schule stehen nicht, wie manche behaupten, auf
der einen Seite Feministinnen, die sich entschieden für ein Verbot
einsetzen, und auf der anderen Seite Antirassisten, die unter
"postkolonialen Schuldgefühlen"(1) leiden und somit (aus Verständnis für den
Islamismus) dem Schicksal von Vorstadtmädchen angeblich mit Gleichgültigkeit
begegnen. Auch wenn die Medien dem keine große Aufmerksamkeit geschenkt
haben, sind doch zahlreiche feministische Organisationen und Einzelpersonen
gegen das Verbot.(2)
So distanziert
sich beispielsweise die Organisation Femmes publiques von einem "Feminismus,
der nur Prinzipien vor sich herträgt (nach dem Motto: Nein zum Kopftuch, dem
Symbol der Unterdrückung!)", ohne sich um die konkreten Auswirkungen solch
einer Haltung zu kümmern: "So klar und prinzipiell die Position auch
erscheint, sie bedeutet in Wirklichkeit, dass einige junge Frauen keine
Ausbildung mehr erhalten, immer isolierter leben und möglicherweise den
Glaubensanhängern und den Befehlen der männlichen Familienmitglieder völlig
ausgeliefert sind."(3)
Einem solchen
"Feminismus der Prinzipien" setzen sie einen "Feminismus der Verantwortung"
entgegen, der die Zukunft der relegierten Schülerinnen mitbedenkt: "Der
Anblick eines Kopftuchs in der Schule mag uns wie anderen befremdlich
erscheinen, doch wenn eine junge Frau der Schule verwiesen wird, macht uns
das noch mehr Sorgen." Solch eine Relegation ist schon schlimm genug, wenn
sie eine Heranwachsende trifft, die aus religiöser Überzeugung oder
jugendlicher Revolte - jedenfalls aus freien Stücken - ein Kopftuch trägt,
aber schlimmer noch ist es, wenn ein Mädchen der Schule verwiesen wird, das
trotz des Verbots mit Kopftuch in den Unterricht kommt, weil sie (von ihrer
Familie) dazu gezwungen wird. In diesem Fall lässt die relegierende Schule
das Mädchen in der sie unterdrückenden Umgebung im Stich. In den letzten
Monaten ist nun ein weiteres Argument aufgetaucht. Danach soll die
Relegation der Mädchen, die sich weigern, das Kopftuch abzulegen, ein
"notwendiges Übel" sein, denn nur so könne man die anderen Mädchen schützen,
vor allem jene, die ohnehin unter dem ständigen Druck einer "rückständigen"
oder "fanatisierten" Umgebung stehen. Doch dieses Argument hält einer
näheren Prüfung nicht stand.
Zunächst einmal
gibt es zwar solche Fälle, doch man darf sie nicht verallgemeinern und etwa
den Eindruck erwecken, alle muslimischen Eltern wollten ihren Töchtern das
Kopftuch aufzwingen. Wenn das zuträfe, hätten wir viele verschleierte
Mädchen an den Schulen. Doch nach offiziellen Angaben tragen von den mehr
als zwei Millionen französischen Schülerinnen nur 1 000 bis 2 000
gezwungenermaßen ein Kopftuch.
Zweitens: Wenn
der Druck aus der Umgebung so groß ist, dann steht mit Verbot und
Schulverweis sehr viel auf dem Spiel. Denn wenn die Menschen in der Umgebung
einer Schülerin die Mittel haben, ihr das Kopftuch aufzuzwingen, dürften sie
vor der Drohung eines Schulausschlusses kaum zurückweichen. Wahrscheinlich
wäre es ihnen sogar recht, weil sie die relegierte Schülerin dann leichter
"zurückgewinnen" könnten, um sie zu verheiraten oder in einer religiösen
schulischen Einrichtung (einer Koranschule oder dem muslimischen Netzwerk
für schulische Hilfe) unterzubringen.
Anders gesagt,
für einen vergleichsweise geringen Vorteil (die Möglichkeit, dass Mädchen in
der Schule das ungeliebte Kopftuch ablegen können, es aber beim Verlassen
der Schule wieder anziehen müssen) nimmt man ein erhebliches "Opfer" in
Kauf, nämlich die Relegation anderer Mädchen, die das Kopftuch trotz Verbots
nicht ablegen - entweder weil sie sich aus freien Stücken für das Kopftuch
entschieden haben oder weil sie einem so starken Druck ausgesetzt sind, dass
sie nicht wagen, es in der Schule abzulegen.
Wäre es nicht
sinnvoller, in staatlichen Schulen alle Kopftuch tragenden Mädchen zu
tolerieren, jene, die sich selbst dazu entschlossen haben, wie auch jene,
die dazu gezwungen werden, und die Letztgenannten zu unterstützen, damit sie
irgendwann in der Lage sind, ihrer Umgebung die Stirn zu bieten. Denn
letztlich geht es ja darum, dass die Mädchen das Kopftuch nicht nur
innerhalb, sondern auch außerhalb der Schule ablegen können. Für solch eine
Arbeit braucht man sicher Zeit und Geld, aber zumindest kann man so all
denen, die Hilfe brauchen, wirklich helfen, ohne dabei Gefahr zu laufen,
einen Teil der Mädchen auszuschließen und jene, die sich aus freien Stücken
für den Schleier entschieden haben, zu bestrafen.
Erzwungene Emanzipation
Ein letztes
feministisches Argument gegen das Kopftuchverbot wäre die Ablehnung jeder
Form von Zwang oder Druck, ganz gleich ob er darauf abzielt, dass Frauen
ihren Körper bedecken oder ihn entblößen. "Das ist dieselbe Gewalt", erklärt
zum Beispiel die Zeichnerin Marjane Satrapi, die in ihrer Kindheit im Iran
gezwungen wurde, einen Schleier zu tragen. Sie ist "absolut gegen den
Schleier", aber auch gegen dessen Verbot, weil das "genau dieselbe
Unterdrückung" sei wie die Pflicht, ihn zu tragen.(4)
Mit anderen
Worten, Emanzipation lässt sich nicht durch Demütigung, Zwangsmaßnahmen und
Repression erreichen, sondern nur durch den Kampf für mehr Rechte. Deshalb
stünde ein gesetzliches Kopftuchverbot in den Schulen keineswegs in der
Tradition der großen feministischen Kämpfe, sondern wäre ein tief greifender
Bruch. Denn noch nie in der Geschichte des Feminismus haben Feministinnen
einer gegen Frauen gerichteten Repression das Wort geredet.
Im Gegenteil,
die Frauen haben sich immer Rechte erkämpft (das Wahlrecht, das Recht auf
Arbeit, das Recht, über ihren Körper zu bestimmen). Und wenn sie Sanktionen
forderten, so stets gegen die sexistische Gewalt von Männern: Vergewaltigung
oder sexuelle Belästigung. Welch ein seltsamer Feminismus also, der Frauen
und ausschließlich Frauen bestraft sehen wollte - denn gegen bärtige
Fundamentalisten richtet sich dieses Gesetz nicht. Womit wir bei den
Fundamentalisten wären. Die Verbotsbefürworter fordern uns auf, nicht
blauäugig zu sein und statt dessen zur Kenntnis zu nehmen, was für
Gruppierungen sich eigentlich hinter den verschleierten Mädchen verbergen.
Auch wenn solche Erwägungen nicht von der Hand zu weisen sind, bleiben doch
zwei Probleme.
Erstens geraten
hier nur zu leicht verschiedene Dinge durcheinander. Nicht alle bärtigen
Muslime sind gefährliche Fundamentalisten. Und nicht alle verschleierten
Schülerinnen sind militante Fundamentalistinnen oder Opfer der
Fundamentalisten. Alle Soziologen, die verschleierte Mädchen befragt haben,
betonen, auf wie verschiedenartige Situationen sie gestoßen sind. Nicht nur
der Einfluss der Umgebung war völlig unterschiedlich, sondern auch die
Bedeutung, die die Mädchen dem Schleier jeweils beimaßen.(5)
Zweitens, wenn
ein Teil der Schleier tragenden Mädchen zu solchen Gruppen gehören, dann
verstecken sich die Gruppen also letztlich hinter diesen Mädchen, die dann
allein in vorderster Linie stünden und als Einzige von der ganzen Härte des
Gesetzes getroffen würden. Und schlimmer noch, die Fundamentalisten wären
letztlich die Nutznießer des Gesetzes, weil sie nach der erfolgten
Relegation die Mädchen noch besser kontrollieren und indoktrinieren könnten.
Zudem würde ihnen der Schulverweis als Beweis für ihre These dienen, dass
man letztlich doch nur eine einzige "wahre Gemeinschaft" habe - nämlich den
Islam -, da "die französische Republik die Muslime abweist".
Genau das hat
die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi, die durch ihren Kampf gegen
das Verschleierungsgebot im Iran bekannt geworden ist, den französischen
Politikern sagen wollen: "Wenn man die Mädchen, die den Schleier tragen, der
Schule verweist, wird man nur erreichen, dass sie noch leichtere Beute für
die Fundamentalisten werden. […] Wenn die demokratischen Länder beim Kampf
gegen den Terrorismus die Menschenrechte vergessen, wird das nur Wasser auf
die Mühlen der Menschenrechtsgegner leiten. […] Das einzige Mittel gegen den
Fundamentalismus ist Wissen, Bildung und Ausbildung."(6)
Ob wir das
Problem nun aus der Sicht des Laizismus, des Feminismus oder des Kampfes
gegen den Fundamentalismus betrachten, stets stoßen wir auf die allzu oft
ausgeblendete Frage: Was wird aus einer verschleierten Schülerin, wenn sie
von der Schule gewiesen worden ist?
Im Übrigen muss
man fragen, welchen Schaden die nun seit sechs Monaten anhaltende Diskussion
über das Kopftuch angerichtet hat und ob die Verabschiedung des Gesetzes ihn
nicht noch vergrößern würde. Neben dem Unrecht, das der relegierten
Schülerin zugefügt wird, droht eine Vergiftung des sozialen Klimas, da die
verbleibenden Schülerinnen das an sie gerichtete Signal vielleicht
unerträglich finden, aber keine Möglichkeit haben, ihre Missbilligung zum
Ausdruck zu bringen, ohne selbst als Fundamentalistinnen eingestuft zu
werden.
Beunruhigend ist
auch das antiarabische und antimuslimische Ressentiment, das anlässlich
dieses Streits sichtbar wird.(7) Aus der Debatte über den Laizismus und alle
religiösen Symbole ist unter der Hand längst eine Debatte über den
islamischen Schleier und den Islam geworden. Das ist keine Behauptung,
sondern eine Tatsache: Der Islam füllt seit sechs Monaten die Titelseiten
der Zeitungen, und in den Argumentationen für das Gesetz ist immer nur vom
Kopftuch die Rede.
Unter diesen
Umständen lässt sich kaum nachvollziehen, wieso der Gesetzestext "alle
religiösen Zeichen" bannen will. Warum sollte man eigentlich Kreuz oder
Kippa verbieten, wenn niemand in den letzten sechs Monaten je behauptet hat,
dass sie ein Problem darstellen? Weil man, wie es heißt, nicht den Eindruck
erwecken wolle, dass nur eine Religion stigmatisiert werden soll. Aber warum
fürchtet man sich davor, diesen Eindruck zu erwecken, wo es den
Verbotsbefürwortern doch gerade darum geht, das Kopftuch zu verbieten, weil
es ein Unterdrückungsinstrument ist?
Halten wir uns
an die Tatsachen. Seit langem kämpfen die Laizisten für ein Verbot aller
religiösen Zeichen, doch - ob sie es zugeben oder nicht - erst durch die
Auseinandersetzung um das islamische Kopftuch haben sie in der jüngsten Zeit
Zulauf erhalten. Und faktisch wäre vor allem das Tuch von dem Gesetz
betroffen, da ein Kreuz sich leicht unter einem Pullover verbergen lässt.(8)
Die
kopftuchtragenden Schülerinnen dienen ganz offensichtlich als Sündenböcke,
über die man herfällt, um die Logik der Herrschaft und des Ausschließens,
die unsere Gesellschaft durchzieht, besser vergessen zu können: die
Liberalisierung der Wirtschaft, die allgemeine Verunsicherung, die
Ausweitung der sozialen Kontrolle und der polizeilichen Überwachung, die
ständige Diskriminierung und Ungleichheit, unter der Männer und Frauen zu
leiden haben. Die Schule hat selbst mit tief greifenden Problemen zu kämpfen
(unzureichende Personalausstattung, Verunsicherung der Lehrer, Schüler, die
man dem Versagen überlässt und der Gefahr der Relegation aussetzt). Statt
über die Jugendlichen herzufallen, sollten wir lieber diese Probleme
angehen.
Deutsch von
Michael Bischoff
Fußnoten:
(1) Siehe "Une loi pour interdire les signes religieux à lécole",
Libération, 6. Mai 2003.
(2) Von diesen Feministinnen seien hier nur genannt Françoise Gaspard,
Christine Delphy, Monique Crinon, Catherine Albertini und Vereinigungen wie
Femmes publiques, Femmes plurielles oder Citoyennes des deux rives. Vgl.
Charlotte Nordmann (Hg.), "Le Foulard islamique en questions", erscheint im
März. Vgl. auch die Liste der ersten 1 000 Unterzeichnerinnen und
Unterzeichner des Aufrufs "Oui à la laïcité, non aux lois dexception",
http://lmsi.net/article.php3?id_article=162.
(3) "Etre féministe, ce nest pas exclure",
http://sisyphe.org/article.php3?id_article=677.
(4) Marjane Satrapi, "Veiled threat", The Guardian, 12. Dezember 2003.
(5) Vgl. Françoise Gaspard und Farhad Khosrokhavar, "Le Foulard et la
république", Paris (La Découverte) 1995, und Charlotte Nordmann (Hg.), a. a.
O.
(6) Agence France Press, 19. Dezember 2003.
(7 )Vgl. Vincent Geisser, "La nouvelle islamophobie", Paris (La Découverte)
2003, sowie das vom MRAP im September 2003 veranstaltete Kolloquium.
(8) Die Kippa könnte gleichfalls und ebenso unberechtigt betroffen sein;
allerdings tragen in staatlichen Schulen nur sehr wenige Schüler die
jüdische Kopfbedeckung.
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13-02-2004 |