antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

  

Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus

Aktiv gegen Nazi-Propaganda!
Jüdische Weisheit
 

 

Frankreich:
"Neudefinition des Laizismus"

Chirac kündigt neues Gesetz zum Umgang mit Religionsgruppen an

Von Bernhard Schmid, Paris

Nun ist die Katze aus dem Sack: Es wird in Frankreich in Bälde ein neues Gesetz zum Umgang mit religiösen Symbolen in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen geben. Das Thema genoss aus Sicht der Staatsspitze offenkundig höchste Priorität, denn Staatspräsident Jacques Chirac hielt dazu am 17. Dezember eigens eine feierliche Ansprache vor einem ausgewählten Publikum.

Rund 400 Personen aus Regierungskreisen, aus dem Bildungswesen, aber auch Mitglieder antirassistischer Organisationen und Gewerkschafter aus dem öffentlichen Dienst waren dazu am Mittwoch Nachmittag in den Elysée-Palast geladen worden.

Jetzt steht fest, dass Schülern und Schülerinnen an öffentlichen Schulen künftig das Tragen (Originalton Chirac) "des islamischen Schleiers, egal welchen Namen man ihm gibt", denn bisher war die Unterscheidung zwischen voile (Schleier, Hijab) und foulard (Kopftuch) heftig umstritten, "der Kippa oder eines überdimensionierten Kreuzes" untersagt werden soll. Das Verbot soll der Gesetzgeber festschreiben.

Das Thema beherrschte am folgenden Donnerstag, aber auch bereits in den vorausgehenden acht Tagen die französische Innenpolitik und die Berichterstattung der Presse ; fast alle Tageszeitungen machten ihre Titelseite damit auf. Auch die Regierung scheint es eilig zu haben, denn nur wenige Minuten nach der Präsidentenrede kündigte Premierminister Jean-Pierre Raffarin an, die (konservativ-liberalen) Regierungsfraktionen würden in Bälde ein Gesetz verabschieden, das zu Beginn des nächsten Schuljahres bereits in Kraft sein soll. Damit es Anfang September kommenden Jahres Anwendung finden kann, müsste es spätestens bis zur Sommerpause in dritter und letzter Lesung verabschiedet sein.

Abschlussbericht der "Stasi-Kommission"

Die meisten Beobachter hatten im Vorfeld damit gerechnet, dass ein solches Gesetz in Planung genommen werde. Am 11. Dezember hatte die so genannte "Stasi-Kommission" ihren Abschlussbericht vorgelegt. Ihr Name hat nichts mit dem ehemaligen DDR-Staatssicherheitsdienst zu tun, sondern rührt daher, dass sie unter Vorsitz des früheren Chirac-Beraters und jetzigen médiateur de la République (eine Art Ombudsmann, also eine Beschwerdeinstanz für die Bürger) Bernard Stasi stand.

Die zwanzig Ausschussmitglieder hatten seit Anfang Juli an Vorschlägen zu dem Thema "Neufassung des laizistischen Staatsaufbaus in Frankreich" gearbeitet. Konkreter Auslöser dafür, dass das Gremium durch Präsident Chirac eingesetzt wurde, war das erneute Aufflammen der "Kopftuchdebatte" im April und Mai dieses Jahres. Der allgemeinere Hintergrund bestand darin, dass verschiedene Beobachter in Politik und Medien ein "Anwachsen des Kommunitarismus" beklagten, also eine zunehmende Selbstbezogenheit verschiedener Bevölkerungsgruppen, die zu einem Rückgang universeller Wert- und Rechtsvorstellungen führe. Festgemacht wird das vor allem an Entwicklungen innerhalb der Einwanderungsbevölkerung.

Ein ausgesprochen heikles Thema also, zu dem der Ausschuss tätig werden sollte. Denn hierbei kreuzen sich zwei unterschiedliche Themenstränge: Auf der einen Seite steht die Frage der Rechte der Person oder des Individuums gegenüber seiner Herkunftsgruppe und seiner Familien (denn sie wird unmittelbar durch die Stellung von Frauen in muslimischen Gesellschaften berührt). Andererseits aber stößt das Thema aber auch an die Frage, wie ein Land wie Frankreich mit seinen Minderheiten umgeht. Besonders im Hinblick auf die nordafrikanischen (und noch spezieller: algerischen) Immigranten ist das Problem ganz besonders delikat. Findet man doch hier einen besonders massiven und besonders tief verwurzelten, spezifischen Rassismus vor - der nicht nur in der französischen Kolonialgeschichte wurzelt, sondern auch in den Traumata, die in einem der Teil der französischen Gesellschaft durch einen verlorenen Krieg "in der Nachbarschaft" hinterlassen wurden. Algerien konnte das koloniale Joch in den Jahren zwischen 1954 und 1962 aus eigener Kraft, aber unter einem hohen Blutzoll abschütteln. Zugleich blieb damit eine ehemalige europäische Siedlerbevölkerung in Algerien (die "pieds-noirs") zurück, die in ihrer Mehrheit 1962 in die "Metropole" abwanderte ­ knapp eine Million Menschen -, auch wenn eine Minderheit in Algerien verblieb und sich in die neue Gesellschaft integrierte. Das "heiße Eisen" des Umgangs gerade mit dieser Einwanderungsbevölkerung führt also in Frankreich zu hitzigen Reaktionen, aber auch identitätspolitischen Verkrampfungen. In der magrebinischen Einwandererschaft nehmen sie mitunter, obgleich nur bei einer (kleinen doch lautstarken) Minderheit, die Form islamistisch-fundamentalistischer Reaktionen an.

Die Vorschläge, und was davon übrig blieb

Die "Stasi-Kommission" hatte in ihrem Abschlussdokument eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, unter denen vor allem zwei hervorstachen. Die erste vorgeschlagene Maßnahme bestand aus einem doppelten Vorbot: Sowohl religiöse Symbole, die auf als ostensible (ungefähr: plakativ) bezeichnete Weise getragen oder zur Schau gestellt werden, als auch entsprechend deutlich zur Schau gestellte politische Symbole sollten an öffentlichen Schulen verboten werden.

Die erste Hälfte des Doppelverbots bot keine Überraschung, denn die Diskussion um die Behandlung von Kopftuchträgerinnen (sowie von Kippaträgern, die aber ohnehin meist konfessionelle Schulen besuchen und daher von einem eventuellen Verbot nicht berührt würden) stand ohnehin im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Allerdings war zwischendurch heftig umstritten, wieweit dieses Verbot nun reichen sollte ­ denn ab wann ist ein Symbol "plakativ"? Darüber herrscht permanente Uneinigkeit. Chirac versuchte, durch Beispiele zu verdeutlichen, was gemeint ist: Nicht untersagt seien etwa Halsketten mit einem kleinen Kreuz, einem Davidstern oder einer "Hand der Fatima" (ein Symbol mit fünf Fingern, das als islamisch gilt, tatsächlich aber eher auf die Tradition zurückgeht, derzufolge es "den bösen Blick abwehren" soll). An Schulen verboten dagegen wären "Zeichen, deren Tragen dazu führt, sofort als Mitglied einer Religionsgruppe aufzufallen und erkannt zu werden". Im Vorfeld hatten manche Politiker, etwa der konservative Parlamentspräsident Jean-Louis Debré oder auch der sozialdemokratische Nachwuchspolitiker Malek Boutih, die Schwierigkeiten mit der Abgrenzung dadurch zum umgehen versucht, dass sie vorschlugen, doch gleich alle "sichtbaren" religiösen Symbole aus öffentlichen Schulen herauszuhalten. Doch eine solche, relativ weit gehende Regelung wollten wiederum die christlichen Kirchen nicht hinnehmen, die fürchteten, ihre Ideen würden nunmehr weitgehend aus der Gesellschaft verbannt. Auch in einem laizistichen Staat wie Frankreich aber behalten die christlichen Kirchen einen gewissen Einfluss vor allem auf die bürgerlich-konservativen Parteien. Daher blieb es bei der Kompromissformulierung, die auf "plakative" Symbole, wie immer sie definiert seien, abstellt.

Hingegen kam der Vorschlag einer Untersagung "plakativer" Manifestationen einer politischen Gesinnung überraschender. Vor allem in linken oder antifaschistischen Gruppen Engagierte warnten bereits vor einem Gesetz in obrigkeitlichem Geiste, das den Ideenkampf unter Jugendlichen einschränken und für verordnete Ruhe sorgen solle. Doch Chirac hat diese zweite Hälfte des Vorschlags anscheinend nicht berücksichtigt, jedenfalls war in seiner Ansprache in keiner Stelle von politischen Symbolen die Rede. Möglicherweise befürchteten Präsident oder Regierung auch eine Mobilisierung an den Schulen gegen eine solche Maßnahme, die dann erst recht Staub aufgewirbelt hätte.

Ebenfalls keine Berücksichtigung fand der zweite Vorschlag des aus Juristen, PhilosophInnen, Soziologen und PolitikerInnen bestehenden Ausschusses. Demnach sollte neben den gesetzlichen Feiertagen christlichen Ursprungs (bzw., wie im Falle des Weihnachtsfests, vorchristlicher germanischer oder gallischer Herkunft, die später mit einer christlichen Legitimation überdeckt wurde) nunmehr im Kalender der staatlichen Schulen auch ein jüdischer und ein muslimischer Feiertag anerkannt werden. Konkret sollten das islamische Fest Aïd-el-Kebir (das auf das Opfer Abrahams zurückgeführt wird) sowie der jüdische "Tag der Großen Vergebung", Yom Kippur, in den Ferienkalender der Schülerinnen und Schulen aufgenommen werden. Das bedeutete nicht, dass auch die lohnabhängig Arbeitenden in den Genuss zusätzlicher freier Tage gekommen wären. Sie sollten allerdings künftig die Wahl haben, sich an Yom Kippur bzw. Aïd el-Kabir statt an einem anderen Moment einen Ferientag zu nehmen, was allerdings ohnehin in der Praxis längst gemacht wird.

Die Vorab-Diskussion um muslimische und jüdische Feiertage

Dieser letzte Vorstoß der Kommission, der anscheinend als eine Art "Kompensation" an die religiösen Minderheiten (als "Ausgleich" für das Kopftuch- und Kippa-Verbot an öffentlichen Schulen) gedacht war, rief allerdings einen Aufschrei der Empörung hervor. "Voll im Kommunitarismus" lande man mit dieser Idee, beklagte der christdemokratische Politiker François Bayrou. Von "versteckter Förderung des islamischen Kommunitarismus" sprach der rechtskatholische EU-Gegner Philippe de Villiers, während der Chef des rechtsextremen Front National ­ Jean-Marie Le Pen ­ erwartungsgemäß gegen eine angebliche Bevorzugung des Islam auf Kosten der christlichen Tradition wetterte.

Aber auch sehr viele Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP äußerten sich argwöhnisch über die Neuerung. Teilweise mit ähnlichen Argumenten wie den zitierten, teilweise aber auch einfach mit dem wahlpolitischen Motiv, dass die extreme Rechte unter Le Pen bei den Regionalparlamentswahlen in drei Monaten neue Erfolge verzeichnen werde, wenn "das durchkommt". Ein häufig bemühtes Argument bestand darin, die ­ im November 03 durch die Raffarin-Regierung beschlossene ­ Abschaffung des Pfingstmontags als arbeitsfreier Tag in direkten Bezug zur "nunmehr erfolgter Anerkennung muslimischer und islamischer Feiertage" zu setzen. Ein Zusammenhang, der freilich nur schwerlich herzustellen ist, denn die abhängig Beschäftigten wären ja (anders als Schüler und Lehrer) in der Regel nicht direkt von den neuen Feiertagen betroffen gewesen. Das Hauptmotiv der Regierung bei der Streichung des Pfingstmontags war aber eine Verlängerung der Arbeitszeiten gewesen, die angeblich nötig sei, um den Pflegebedarf für ältere Mitbürger finanzieren zu können. Insofern kann man von der Mobilisierung eines blanken Neideffets, ohne reale Grundlage, sprechen.

Laut jüngsten Umfragen waren je rund die Hälfte der sozialdemokratischen und konservativen Wähler, doch 87 Prozent der Wähler der extremen Rechten unter Jean-Marie Le Pen gegen die Anerkennung von Aïd el-Kebir und Yom Kippour eingestellt.

In seiner Rede äußerte Chirac sich zu dieser Frage mit den Worten: "Ich glaube nicht, dass man dem schulischen Kalender neue Feiertage hinzu fügen sollte, denn er zählt ihrer bereits viele." Dagegen solle die individuelle Abwesenheit von SchülerInnen an den fraglichen Tagen seitens der Lehrkräfte als entschuldigt gelten, und es sollten keine Prüfungen auf diese Tage gelegt werden. Das wird in der Praxis von Schulen und Universitäten ohnehin seit längerem so gehandhabt, in der Regel jedenfalls. Was ausbleibt, ist das Symbol, das in der Veränderung des Feiertags-Rhythmus gelegen hätte. Nun kann man sicherlich darüber diskutieren, ob sie nicht tatsächlich zum Anwachsen der Bedeutung von Religionsgruppe geführt hätte (was man bezweifeln mag) und ob das wünschenswert, hinnehmbar usw. ist oder nicht. Doch der konkrete Verlauf der Debatte hinterlässt wohl doch bei Vielen einen bitteren Beigeschmack.

Denn nunmehr wird zwar das Verbot "plakativer religiöser Symbole" im Namen des Universalismus, der dem französischen Laizismus zugrunde liegt (das gesellschaftliche Leben des Individuums soll nicht durch seine Herkunft vorab determiniert werden) gerechtfertigt. Dieser Universalismus wurzelt in den Ideen der Revolution von 1789, aber bezüglich der konkreten Frage der Trennung von Schule und Religion vor allem im Gesetz von 1905, das zu den Folgewirkungen der Dreyfus-Affäre um die Jahrhundertwende gehört. Gleichzeitig aber wird eifrig unter den Tisch gekehrt, dass auch seitens der Mehrheitsgesellschaft eine Form von kulturellem Partikularismus vorherrscht, der sich in der impliziten Anerkennung allein von Festtagen christlicher Herkunft (die allerdings für viele Bürger ihre frühere Bedeutung verloren haben mögen) ausdrückt. Vor 200 Jahren hatten das die französischen Revolutionäre bereits problematisiert. Deswegen hatte ein Gesetz vom 24. November 1793 sogar den Wochenrhythmus verändern wollen: Statt des Sonntags, der auf die Erfordernisse der christlichen Sonntagsmesse zurückgeht, sollte ein anderer wöchentlicher Ruhetag eingeführt werden: der décadi. Dieser Versuch blieb allerdings in nachhaltig schlechter Erinnerung. Denn für die aufstrebende Bourgeoisie hatte die neue Einteilung in décades (statt Wochen) nebenbei einen unerhörten praktischen Vorteil: Statt alle sieben Tage sollte der arbeitenden Bevölkerung nur noch alle zehn Tage ein Ruhetag gegönnt werden.

Reaktionen und Einschätzungen

Bezüglich des neuen Gesetzes warnen einige Beobachter davor, dass die Einwanderungsbevölkerung muslimischer Herkunft sich in besonderer Weise stigmatisiert fühlen könne. Tatsächlich dürfte dieser Bevölkerungsteil mit Abstand am stärksten betroffen sein. Denn jüdische Jugendliche, die eine Kippa tragen, besuchen ohnehin meist konfessionelle Privatschulen, deren Netz vor allem im Einzugsraum Paris mittlerweile ziemlich dicht gewoben ist. (Allerdings zeigen manche von ihnen sich aufgrund der Übergriffe und Gewalttaten, die sich seit dem Jahr 2000 häufen, auf der Straße eher mit Baseballkappe als mit einer Kippa.)

Und für die Sprösslinge aus streng katholischen Familien gibt es die nach wie vor katholisch geprägten Privatschulen, die nach dem Gesetz von 1905 erhalten blieben. Sie sind in den letzten Jahrzehnten zugleich zu einem Art Elitezweig des gesamten Schulsystems mutiert, während sie sogleich immer noch öffentliche Subventionen erhalten ; 1984 wollte eine sozialdemokratische Regierung diese Subventionen einschränken, sah sich jedoch mit einer massenhaften Mobilisierung der konservativen Rechten und der extremen Rechten konfrontiert. Ungefähr 20 Prozent eines Jahrgangs besuchen diese, als privilegiert geltenden Privatschulen. In ihnen wird auch künftig das (neue) Gesetz zum Laizismus nicht gelten. Deswegen schicken auch manche, besser begüterten, muslimische Eltern ihre Zöglinge auf solche Schulen, wo in der Regel das Ablegen des Kopftuchs nicht gefordert wird. Seitens der Linken gilt vor allem die Aufrechterhaltung der Privilegien dieses Schulzweigs als Widerspruch dazu, dass gleichzeitig neue Bestimmungen zur Verstärkung des laizistischen Staatscharakters erlassen werden.

Manche KritikerInnen des neuen Gesetzes hatten im Vorfeld moniert, es werde ohnehin nur dazu führen, dass nunmehr auch die muslimischen Familien verstärkt die Privatschulen in Anspruch nehmen oder auch eigene, islamische Privatschulen gründen würden. Dagegen spricht allerdings ein materieller Grund: Aufgrund ihrer Position in der Gesellschaft haben die meisten Einwandererfamilien aus muslimischen Ländern schlicht und einfach nicht die finanziellen Mittel dazu. Denn die Einschreibung in Privatschulen kostet Geld. Insofern zieht das (Gegen-)Argument, das kommende Gesetz führe als Nebeneffekt zur Vermehrung islamischer Schulen, an de Punkt nicht so richtig.

Als Hauptargument der KritikerInnen bleibt eine befürchtete Stigmatisierung der Einwandererbevölkerung, auch wenn sie vorwiegend subjektiv so erlebt werde. Auch sehr "unislamische" Frauenorganisationen von Migrantinnen, wie die in Saint-Denis (bei Paris) ansässige feministische Gruppe "Voix d¹elles ­ rebelles" (ungefähr: Stimme von Ihnen ­ weiblich ­, den Rebellinnen), befürchten daher eher negative Rückwirkungen. Sie fordern stattdessen, die öffentliche Hand solle sich viel lieber um eine bessere Vorbeugung etwa gegen Zwangsverheiratungen von Migrantentöchtern und ähnliche praktische Schutzmaßnahmen gegen familiäre Unterdrückung kümmern. Tatsächlich hat sie hier einen Widerspruch benannt: Denn bisher war es das Schulsystem (in Frankreich besteht die Ganztagesschule mit relativ umfassender Betreuung, so weisen die meisten Schulen Krankenschwestern und soziale BetreuerInnen auf), das es erlaubte, Anzeichen solchen familiären Drucks und eventueller Gewalt frühzeitig zu erkennen. Doch bereits bisher hat die Sparpolitik im öffentlichen Schulwesen, mit dem begonnen Abbau der BetreuerInnen-Stellen, zum Rückgang dieser Schutzfunktion geführt. Würde morgen eine wachsende Zahl von Migrantentöchtern aus dem Schulsystem ausgeschlossen, so wird befürchtet, die Handhabe gegenüber solchen Praktiken und Risiken werde immer geringer.

Derzeit ist die Zahl der wirklich im Konflikt ausgetragenen "Fälle" von Schülerinnen aus Einwandererfamilien relativ gering. Das französische Innenministerium gibt an, dass im vorigen Jahr 1.250 Fälle signalisiert worden seien, wobei in 20 Fällen der Ausschluss diskutiert, und in 4 Fällen beschlossen worden sei. Seitens der Mitarbeiter des Bildungssystems wird allerdings geschätzt, dass die Zahl der Kopftuch tragenden Immigrantentöchter in öffentlichen Schulen real fünf- bis sechsfach so hoch sei.

Dabei bestehen allerdings sehr unterschiedliche Konstellationen. Einerseits gibt es Fälle von offenkundigem familiärem Zwang oder Druck auf die Mädchen. Andererseits gibt es seit einigen Jahren zunehmend Fälle, in denen die Entscheidung zu solchen Praktiken offenkundig von den Schülerinnen selbst ausging, wobei oftmals die Eltern sogar (um die schulische Zukunft ihrer Kinder bedacht) gegen das Kopftuchtragen eintreten. In solchen Fällen handelt es sich um den Ausdruck einer, wie ideologisch verzerrt auch immer vorgetragenen, Revolte gegen die (etwa als rassistisch erlebten) Mehrheitsgesellschaft; oder in mitunter auch um ideologisch (islamistisch) motivierten Aktivismus, der freilich nur eine Minderheit betrifft. Oder aber diese Form von Kleidung wird als Schutz gegen die, in den Trabantenstädten und sozialen Krisenzonen tatsächlich sehr verbreitete, (männliche) Gewalt erlebt. Anscheinend überwiegt in Immigrantenfamilien marokkanischer und türkischer Herkunft eher die erstgenannte Konstellation, da sie oftmals aus einem eher ländlichen und traditionalistischen Milieu kommen. Dagegen ist die zweitere Konstellation eher in Familien algerischer oder tunesischer Herkunft anzutreffen. Bei den AlgerierInnen ist eine anti-islamistische Haltung verbreite, die sich aus der jüngeren Geschichte erklärt; und Tunesien wurde zu einem frühen Zeitpunkt durch das Bourgiba-Regime von oben modernisiert, was zwar auf autoritärem Wege geschah, aber schon bald zu einer recht fortschrittlichen Stellung der tunesischen Frau geführt hat. So hatten die tunesischen Frauen mehr als 15 Jahren vor den französischen das gesetzliche Recht auf Schwangerschaftsabbruch.

Einen Widerspruch sehen viele KritikerInnen darin, dass zwar das Kopftuch als Symbol einer spezifischen Unterdrückung der Frauen dargestellt werde (das ist der Grund, warum viele, aber nicht alle französische Feministinnen ein solches Gesetz jedenfalls in seinem Grundsatz begrüßen), dass aber gerade die jungen Frauen potenziell von den Ausschlussmaßnahmen betroffen seien. Die Väter, aber auch die schulpflichtigen Brüder trifft es ja nicht. Aber auch wegen anderer Symbole, die einen religiösen oder politisch-religiösen (d.h. islamistischen) Sinngehalt haben können, freilich nicht müssen, wie etwa des Barttragens seien keine Schulausschlüsse geplant. Bisher jedenfalls war noch nie von einem Ausschluss aus solchen Motiven die Rede. Damit sei die Wirkung eines solchen Gesetzes "doppelt diskriminierend", monieren manche auf der Linken: Gegen Angehörige der muslimischen Minderheit, und einseitig gegen die Frauen gerichtet. Die Kommunisten und die Mehrheit der französischen Trotzkisten kritisiert deswegen das Gesetzesvorhaben (eine trotzkistische Partei, Lutte Ouvrière / LO, tritt dagegen grundsätzlich für ein Kopfuchverbot ein).

Ferner stellt sich mitunter die Frage der Praktikabilität: Wann könnte etwa gegen die soziale Praxis des Ramadan-Machens vorgegangen werden, an der problematisch ist, dass sie seit wenigen Jahren immer jüngere Kinder trifft ? (Theoretisch wird der Fastenmonat erst ab 13 oder 14 praktiziert, doch aufgrund des Anwachsens kommunitaristischer Verhaltensregeln wetteifern mancherorts schon Kinder im Grundschulalter um die Einhaltung des Ramadan.) Wenn man von einer Schülerin verlangen kann, dass sie ihr Kopftuch ablegt, kann man sie auch dazu zwingen, zu essen? Oder was soll man tun, wenn religiöse Symbole auf die Hand tätowiert wurden, wie ein Kommentator von Libération ein wenig spitzfindig fragt? Jedenfalls bleibt der Eindruck einer nur selektiv wirksamen Verbotsregel.

Dagegen sehen andere sehen eine Errungenschaft darin, dass nunmehr das Individuum stärkere Emanzipationsmöglichkeit gegenüber seiner Herkunft und Familie erhalte, da nicht mehr zu befürchten sei, dass Mädchen und junge Frauen zum Tragen einer Kopfbedeckung gezwungen werden könnten. Das gilt für eine Mehrheit der französischen feministischen Gruppen (etwa die Revue ProChoix, die für das Recht auf Abtreibung und Verhütung kämpft; die Gegenposition wird von der ebenfalls feministischen Gruppe "Femmes publiques" bezogen).

Auch die Mehrheit der Lehrergewerkschaften und bildungspolitischen Organisationen bezieht ähnliche Positionen, wobei viele Lehrergewerkschaften in ihrem Inneren von heftigen Diskussionen zum Thema erschüttert werden. Die französische Sozialdemokratie teilt ebenfalls mehrheitlich diese Position, wobei eine Minderheit (etwa der frühere Kulturminister Jack Lang) gern das Symbol aller sichtbaren religiösen Symbole an öffentlichen Schulen gesehen hätte. Auf konservativer Seite dagegen, wo man natürlich mehrheitlich das Gesetzesvorhaben unterstützt, überwiegt wohl eher der Wunsch nach Konformität (der Minderheiten) über jenen nach Beförderung von Emanzipation.

Für manche ein wenig überraschend kommt, dass die extreme Rechte hörbar gegen das kommende Gesetz eintritt. Dabei bleibt diese sich allerdings nur selbst treu. Denn sie erklärt, ein solches Verbot sei von geringem Interesse, weil es bedeute, nur an einem Symptom herumzudoktern. Statt der kleinen Trennung (in Form des schulischen Ausschlusses) will die extreme Rechte nämlich gewissermaßen lieber die große Trennung vorbereiten. Anders ausgedrückt: Die "ethnische Reinheit" der Nation. Zugleich beharrt sie so auf ihrer Oppositionsrolle, als vermeintliche "Alternative zum abgewirtschafteten System".

hagalil.com 18-12-2003

Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!

 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved