Zur Erinnerung an Emil Fackenheim:
Das 614. Gebot - Das jüdische Volk muß überleben
Von Iris Noah
Der am 18. September 2003 in Jerusalem verstorbene Emil
Fackenheim, wurde 1916 in Halle / Saale (Sachsen-Anhalt) geboren und
studierte ab 1935 an der liberalen
Hochschule
für die Wissenschaft des Judentums in der Berliner Artilleriestraße
(heute Tucholskystraße), deren Rektor bis zur Schließung 1942
Leo Baeck
war.
Zu den ihn prägenden Lehrern gehörten Martin Buber und
Franz Rosenzweig. 1939 wurde er zum Rabbiner ordiniert. Einige Wochen war
Emil Fackenheim nach der Reichspogromnacht im KZ Oranienburg interniert. Er
emigrierte 1940 nach Kanada und arbeitete als Rabbiner in Toronto und wurde
1960 Professor für Philosophie an der dortigen Universität, an der er
deutsche Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts lehrte und zahlreiche
Bücher publizierte: Fichte, Hegel, Kant und Schelling das goldene
Zeitalter der deutschen Philosophie
Da er Israel als Antwort auf den Holocaust sah, machte er
1983 Alijah und lebte seitdem in Jerusalem. In Deutschland hatte er
zahlreiche Gastprofessuren und bekam von mehreren Universitäten die
Ehrendoktorwürde verliehen. Bis 2001 unterrichtete er auch regelmäßig im
Rahmen der christlich-jüdischen Sommeruniversität am Institut für Kirche und
Judentum der Humboldt-Universität in Berlin. 2002 wurde ihm der
Abraham-Geiger-Preis in Berlin verliehen.
Während seiner KZ-Haft fragte ihn ein jüdischer Häftling,
der wußte, daß er Rabbinatsstudent war, nach dem, "was das Judentum jetzt zu
sagen hat". Emil Fackenheim schwieg. Sein philosophisches Denken war ein
Versuch, dafür Worte zu finden. Immer wieder wies er darauf hin, daß es nach
Auschwitz 614 Gebote, statt der traditionellen 613 Gebote gäbe: "Das
jüdische Volk muß überleben". Er gibt Offenbarung neu zu denken auf, indem
er sie als Anruf des jenseitigen Gottes in nicht verrechenbaren Situationen
der real und sogar als sinnlos erfahrenen Geschichte versteht. So lehrt er
die Existenz der Judenheit vor Gott und den Menschen als unabdingbares Gebot
zu sehen, sie wird zum 614. Gebot als Widerspruch gegen das Programm von
Auschwitz.
"Es ist uns Juden verboten, Hitler nachträglich siegen zu
lassen" - so hat er es manchmal formuliert. Vier Punkte umfasst dieses Gebot
und nennt damit die Grundpfeiler des jüdischen Lebens nach Auschwitz: Es sei
geboten, als Juden zu überleben, der Opfer zu gedenken, nicht Zuflucht in
Zynismus und Jenseitigkeit zu suchen und schließlich sei es verboten, am
Gott Israels zu verzweifeln, damit das Judentum nicht untergehe.
Im jüdisch-christlichen Dialog war er als genuiner Kenner
der Hegelschen Religionsphilosophie ein hoch geschätzter Gesprächspartner.
Auch in Jerusalem hat er oft mit Theologiestudenten aus Deutschland
diskutiert. Er machte immer wieder deutlich, daß die grundsätzlichen Fragen,
die in der christlichen Theologie nach dem Holocaust gestellt werden müßten,
nur wenig thematisiert würden. Wenn schon die Mißstände der Kirche im
Mittelalter zur Reformation geführt hätten, wieviel mehr müßte dann
Auschwitz zu einem Paradigmenwechsel im theologischen Denken des
Christentums führen.
Emil Fackenheims philosophische Beschäftigung mit dem
Holocaust setzte ein, als Israel durch den Sechstage-Krieg "ein zweiter
Holocaust" - wie er es nannte - drohte. In den letzten Jahren wurde er
während seiner Vorträge in Deutschland immer wieder gefragt, ob es in
Deutschland wieder ein liberales Judentum geben könne. Er hat darauf weder
mit ja noch mit nein geantwortet, und auch war er sich nicht sicher, ob es
wirklich ein neues Deutschland gäbe.
Von seinen zahlreichen Büchern liegt auf deutsch "Was ist
Judentum - eine Deutung für die Gegenwart" vor.
Mit dem Philosophen und Rabbiner Emil Fackenheim verstarb einer der letzten
Vertreter des liberalen deutschen Vorkriegsjudentums.
Eine Klage gegen G'tt:
A Din-Tojre mit G't
...haKadosch
barukh hu!
Photographien und Interviews:
Emil
Fackenheim
Heimat, das gibt es nicht mehr. Ich kann das Wort nicht mehr
benutzen. Die Nazis haben das Wort zerstört. Sie haben soviel
zerstört...
Religion und Schoa:
Wie erklären Ultraorthodoxe die Schoah?
Die Schoa beweist den Ultraorthodoxen einerseits,
dass die jüdischen Richtungen, die nach der Emanzipation auf den
Humanismus bauten, Trug waren; andererseits bezeugt die Schoa, dass
Gott auf sein Volk achtet und sich in dessen Schicksal einmischt...
Zum Weiterlesen:
Rabbiner Leo
Baeck
Hochschule für die Wissenschaft des Judentums
hagalil.com
24-09-2003 |