In der Klosterbibliothek Knechtsteden nördlich von Köln wurde ein
frühes jüdisches Gebetbuch in deutscher Sprache gefunden. Der unbekannte
Übersetzer des 1818 in Aurich (Ostfriesland) erschienenen Siddurs
übersetzt das Tetragramm bereits nach Moses Mendelssohns Vorschlag mit
"Der Ewige".
In den Jahren 1934 und 35 kamen verschiedene Judaica in die Bibliothek,
die die bisherigen Eigentümer anscheinend angesichts der neuen
Verhältnisse "entsorgen" wollten, dazu gehörte auch die soeben erst
erschienene 12-bändige Talmudübersetzung von Lazarus Goldschmidt, die
dann auch als Inbegriff jüdischen Geistes 1941 von der Gestapo
mitgenommen wurde. Die unauffälligeren kleineren Werke überstanden alle
Wirren. Die Katalogisierung besorgte der in Knechtsteden wirkende
jüdische Bibliothekar Fritz Schlesinger, der bis dahin als Buchhändler
in Köln gearbeitet hatte. Schlesinger wurde bei der Aufhebung und
Enteignung des Klosters im Mai 1941 verhaftet und deportiert - 1943
wurde er in Majdanek ermordet.
1934 kam als Bestandteil einer kleinen privaten Judaica-Sammlung auch das
unter Vd 42 katalogisierte, 1818 in Aurich von Beer und Ballin
herausgegebene Buch "Gebete der Israeliten auf das ganze Jahr" in die
Klosterbibliothek. Das Buch hat das Format 15,5 x 9 cm, ist also etwas
größer als das damals beliebte Kleinoktav-Format, in dem etwa die
(ebenfalls in der Bibliothek) vorhandenen ersten Kleinausgaben von
Goethe und Herder erschienen. Das Buch hat noch den ursprünglichen
Einband in Pappdeckeln, die mit marmoriertem Papier kaschiert sind. Der
Einband ist stark berieben und an den Ecken abgestoßen. Es fehlen die
Seiten 1-2 mit den Punkten 1 bis 7 des Jigdal (der liedhaften
Verdichtung der 13 Glaubenssätze des Maimonides) sowie die Seiten 15 bis
32, die das Morgengebet enthalten. Diese letztgenannten Seiten wurden
unter Zurücklassen der Ecken mehrerer Blätter anscheinend in Eile
herausgerissen; vielleicht war dieses Schachrith (Morgengebet) das
Einzige, was ein früherer Besitzer mitnehmen konnte. Ein unkundiger
Vandale hätte ja mit Leichtigkeit das ganze Büchlein zerstört und sich
nicht die Mühe gemacht, gezielt diesen Text herauszutrennen.
Eine erste Umfrage ergab, daß das Buch weder in Aurich und Umgebung noch
sonst in einer Bibliothek bekannt ist.
Erstaunlicherweise gibt es in diesem Buch keinen hebräischen Buchstaben,
während Frauengebetbücher wie auch die ersten Reform-Siddurim entweder
zweisprachig gedruckt wurden, wenn man nicht sogar wie in der ersten
Mendelssohn-Bibel oder einer in Neuwied erscheinenden Frauenzeitschrift
jener Zeit der Leserschaft den deutschen Text in hebräischen Buchstaben
transskribiert näherbrachte. Hier ist allerdings die Frage, ob dieses
Buch denn tatsächlich in Gottesdiensten gebraucht wurde, denn erst 1801
hatte man in Seesen am Harz erstmals den jüdischen Gottesdienst in der
Landessprache gehalten. Denkbar ist auch, dass solch ein Siddur für
unzulänglich hebräischkundige Gemeindemitglieder zum Mitlesen gedacht
war.
Die Titel der Gebete sind in Umschrift in Klammern vorgestellt, wie z.B.
(Adon olam), (Aschre) usw. Dabei fällt auf, daß diese Transskription
durchweg die (heute ja fast allgemein übliche) sefardische Aussprache
voraussetzt, während deutsche Transskriptionen des 19. und 20. Jhdts bis
hin zum Siddur S'fath Emeth (letzte Auflage 1938) immer die
aschkenasische Sprechweise darstellen. Das dürfte damit zuammenhängen,
daß das ostfriesische Judentum von den über Holland kommenden
sefardischen und marranischen Flüchtlingen geprägt wurde. Dieser Einfluß
reicht mindestens bis Altona.
Die Orthographie (bey, seyn, Brod oder Brodt, Rath usw.) ist zeitbedingt.
Der deutsche Sprachgebrauch überhaupt und in dieser konkreten Ausprägung
dürfte durch Moses Mendelssohn beeinflußt sein, dessen Gedanken ja auch
der (allerdings schon 1776 verstorbene) Rabbi Emden förderte, in dessen
weiterem Umkreis die Herausgeber dieses Buches wohl anzusiedeln sind.
Übersetzt werden auch die Namen der Feste z.B. Sukkot mit
"Lauberhütten", Pessach mit "Überschreitungsfest", teils sogar mit
"Ostern", alsdann Wochenfest (Schawuot), Neujahrsfest, Beschlußfest
(Sch'mini Azeret), Maccabäerfest. In der Grundformel der Brachot heißt
es "Gelobt seyst Du Ewiger unser Gott, Herr der Welt" - also nicht
'König'. Im Simun (Einleitung zum Tischgebt) heißt es "Der Name des
Herrn sey gebenedeyet ...".
Die beiden Herausgeber Beer und Ballin waren Auricher Geschäftsleute. Dem
Gebetbuch vorgebunden ist eine Liste der Subskribenten (Ss. I bis XXI),
und die ist ein Querschnitt durch die 'gebildeten Stände' Ostfrieslands
bis zu den Spitzen von Verwaltung und Kirche. Anhand der örtlichen
Zeitungsarchive wäre zu klären, welche Bedeutung und Resonanz diese
erstaunliche Initiative hatte, einer zu mindestens drei Vierteln
christlichen Leserschaft ein vollständiges jüdisches Gebetbuch zu
präsentieren. Für den interreligiösen Dialog hätten auch einige
Beispieltexte gereicht, sodaß der Aufwand einer vollständigen
deutschsprachigen Ausgabe m.E. nur durch die Intention gerechtfertigt
wurde, das Buch tatsächlich im Gottesdienst zu verwenden. Das Buch
enthält übrigens auch die im Sommer gelesenen "Sprüche der Väter".
Leider gibt es keinerlei Hinweis auf den Übersetzer. Eine stilkritische
Untersuchung müßte klären, ob überhaupt eine einheitliche Übersetzung
vorliegt. Während nämlich die eigentlich jüdischen Gebetstexte nach
meinem Eindruck einen durchgehenden Duktus aufweisen, könnten die in das
Gebet eingebauten Psalmen aus einer anderen Übersetzung stammen, die als
sog. Stehsatz in der Druckerei vorlag. Dort heißt es nämlich "Gott"
statt "Ewiger". Hier wäre der Vergleich mit in Ostfriesland
gebräuchlichen christlichen Bibelübersetzungen der Zeit hilfreich.
Ebenso wie es in Lüneburg die Stern-Bibeln gab, sollten sich ja auch die
dort vorzugsweise benutzten Übersetzungen eingrenzen lassen.
Die Klosterbibliothek Knechtsteden hat folgende Fragen: Gibt es irgendwo
ein vollständiges Exemplar, aus dem wir die fehlenden Seiten wenigstens
durch Farb-Kopien ergänzen könnten? Kann jemand mit anderen
Informationen zu weiteren Aufklärung beitragen? Wie sollte dieses Buch
am besten interessierten Menschen zugänglich gemacht werden?
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