Jerusalem
Die Mauern im Stadtzentrum von Jerusalem sind dieser Tage mit
folgendem Graffito bedeckt: "Keine Araber - kein Terror". Hier und da
prangt in roter Farbe die sarkastische Replik: "Keine Juden - keine
Krankheiten (Deutschland 1934)". Die Stadtverwaltung beeilt sich, die
Anspielung auf die Nazis zu entfernen, aber mit dem antiarabischen
Rassismus lässt sie sich Zeit. Auch die schwarze Farbe, mit der
arabische Schriftzüge auf den Straßenschildern übermalt wurden, wird
nicht sofort entfernt.
Der palästinensische Terrorismus lässt den tiefen, aber bisher
weitgehend latenten Hass vieler Israelis wieder offen zutage treten. Es
ist wieder legitim, sich die Palästinenser fortzuwünschen. Während
weiterhin in allen Städten des Landes Bomben explodieren, erwachen bei
den Israelis lange unterdrückte tribale Instinkte und tief verwurzelte
Ängste; andere suchen Zuflucht im Zynismus. Frustrierter und
fatalistischer als seit langem, scheinen die einen wie die anderen die
Möglichkeit eines neuen Krieges bereits verinnerlicht zu haben.
Es ist, als ginge die Geschichte rückwärts. Man fühlt sich an eine
Bemerkung des britischen Generals Bernard Montgomery vor 60 Jahren
erinnert: "Der Jude bringt den Araber um, und die Araber bringen den
Juden um. So ist heute die Lage in Palästina, und höchstwahrscheinlich
wird sich daran in den kommenden 50 Jahren nichts ändern." In der Tat
bestehen die Elemente des Konflikts, die die Briten veranlassten, ihre
30-jährige Herrschaft in Palästina zu beenden, unverändert - bloß können
die Israelis und Palästinenser, anders als die Briten, nirgendwohin
abziehen.
Bis September vergangenen Jahres, als die jüngste Welle der Gewalt
begann, richteten die Israelis den größten Teil ihrer Energie auf
innenpolitische Fragen. Der Konflikt mit den Palästinensern schien fast
unter Kontrolle zu sein. Die Tatsache, dass sowohl Premierminister
Benjamin Netanjahu als auch sein Nachfolger Ehud Barak die
Friedensverhandlungen ihren privaten Anwälten übertrugen, bestärkte das
Gefühl, dass es nur noch darum ging, die letzten Details der Einigung zu
gestalten. Die Zeit war reif, konnte man meinen, die Grundwerte der
eigenen nationalen Identität zu hinterfragen - bis zur Gültigkeit der
zionistischen Ideologie an sich. Es wirkte tatsächlich so, als sei
Israel im Begriff, eine faszinierende Transformation zu erleben, und
sich stetig auf ein so genanntes "postzionistisches" Stadium seiner
Entwicklung hinzubewegen. Damit hat es wohl nun ein Ende, zumindest
vorerst.
In 100 Jahren hat die zionistische Bewegung einem Teil des jüdischen
Volkes partielle Unabhängigkeit in einem Teil Palästinas verschafft, und
allen tragischen Schattenseiten zum Trotz ist dies noch immer eine
Erfolgsgeschichte; die Entwicklung des Staates Israel ist eine der
dramatischsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Anfangs schien
alles so vorläufig - wer wusste schon, ob Israel in ein paar Jahren
überhaupt noch existieren würde? Dieses weit verbreitete Gefühl erklärt
eine merkwürdige Angewohnheit israelischer Passagiere der staatlichen
Fluggesellschaft El-Al: Sie pflegten in Applaus auszubrechen, wenn ihr
Flugzeug in Tel Aviv landete. Ihre Ausgangshypothese war nämlich, dass
die Maschine abstürzen würde. Eine sichere Landung war Anlass zum
Feiern!
Die Schwierigkeiten waren tatsächlich enorm, doch Israel hat die
meisten davon überwunden. Der Staat hat gelernt, sich und die Seinen zu
verteidigen; die Lebensqualität, die er ihnen nun bietet, ist so gut wie
in vielen europäischen Staaten. Der Mehrzahl der Israelis geht es von
Jahr zu Jahr besser; und trotz der wachsenden Kluft zwischen Armen und
Reichen können die meisten davon ausgehen, dass ihre Kinder ein besseres
Leben haben werden als sie selbst - so wie auch ihr Leben besser ist als
das ihrer Eltern.
Der Zionismus ist fast am Ziel
Inzwischen gibt es Israelis der dritten und vierten Generation; mit
ihren Eltern sprechen sie Hebräisch und besuchen die Schulen, auf die
schon ihre Eltern gingen. Sie haben den gleichen Lebensstil, den
gleichen Sinn für Humor und die gleichen Hoffnungen. Israelische Kinder
haben heutzutage etwas, das ihre Eltern und deren Eltern oft nicht
hatten: Großeltern, die noch leben und nicht weit weg sind. Eine schon
banale Tatsache - und eine der größten Errungenschaften des Landes.
Heute applaudiert kaum noch einer, wenn seine El-Al-Maschine sicher
gelandet ist: Die Passagiere wissen, dass ihr Flugzeug, bei allen
Macken, nicht abstürzen wird. Die zionistische Bewegung, das begreifen
immer mehr Israelis, hat ihre Ziele fast alle erreicht - und damit
bleibt ihr eigentlich nicht mehr viel zu tun.
Gut möglich, dass Israel in den nächsten anderthalb Jahrzehnten der
größten jüdischen Gemeinde der Welt eine Heimat bieten wird und dass mit
dem Ende der jüdischen Einwanderung der größte Traum der Zionisten in
Erfüllung gegangen sein wird. Allein im vergangenen Jahrzehnt haben sich
etwa eine Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Israel
angesiedelt. Allerdings kamen sie zumeist aus wirtschaftlichen und nicht
etwa aus ideologischen Gründen, womit sie den postzionistischen Trend
bestärkten. Bis zu ein Drittel dieser russischen Neuankömmlinge sind
vermutlich nicht einmal Juden. Hinzu kommen Hunderttausende
ausländischer Arbeiter, viele davon aus Afrika; sie werden wohl für
immer bleiben und der ohnehin schon bunt gemischten israelischen
Gesellschaft einen weiteren Farbton hinzufügen. Auch die Zahl der
ultraorthodoxen Juden, von denen viele sich nicht als Zionisten
betrachten, wächst; das gilt auch für die arabische Bevölkerung. Jedes
dritte israelische Kind, so besagt eine Schätzung, besucht heutzutage
keine zionistische Schule.
So ist eine neue Generation von Israelis herangewachsen - ihr Zentrum
ist in Tel Aviv zu finden -, die nicht mehr für gemeinsame nationale
Ideale einsteht oder überhaupt für eine Ideologie. Sie leben das Leben
um seiner selbst willen, als Individuen, im Geiste der amerikanischen
Jetzt-Kultur. Mit ihren zugegebenermaßen ein wenig verschwommenen
multikulturellen Überzeugungen üben sie einen prägenden Einfluss auf
Kunst und Literatur, auf die Medien und andere Bereiche der öffentlichen
Meinung aus. Eine neue Generation israelischer Historiker hat die Mythen
der Nation überprüft und dabei unter anderem Israels Anteil an der
palästinensischen Tragödie offen gelegt. Natürlich sind nicht alle
Israelis Anhänger dieser neuen Entwicklungen, und womöglich nicht einmal
die meisten: Vielmehr ist seit den Friedensverträgen von Oslo ein
heftiger und mitunter sogar gewalttätiger Kulturkampf unter den Israelis
ausgebrochen. Trotzdem waren es diese neuen postzionistischen Tendenzen,
welche die Mehrheit der Israelis dazu bewegten, den Friedensprozess von
Oslo zu unterstützen - den Rückzug auf palästinensischen Siedlungen
einbegriffen.
Der Osloer Friedensprozess ist Teil eines langsamen und oft
schmerzhaften Prozesses der Annäherung an die Realität. Es ist nicht
viele Jahre her, dass Israel sich weigerte, die Palästinensische
Befreiungsbewegung PLO überhaupt anzuerkennen. Das Gesetz verbot sogar
private Kontakte zu der Organisation, und einige israelische
Friedensaktivisten wurden vor Gericht gestellt und inhaftiert. Israel
beteuerte damals auch, dass es ohne endgültiges Friedensabkommen nie
irgendeines der 1967 besetzten Gebiete aufgeben werde - doch auch das
geschah. Der Staat Israel war strikt gegen die palästinensische
Unabhängigkeit; vor der jüngsten Welle der Gewalt zumindest hatten die
meisten Israelis den Widerstand dagegen aufgegeben. Israel widersetzte
sich beharrlich und leidenschaftlich jeder Veränderung des Status von
Jerusalem, doch dann bot Premier Barak den Palästinensern an, die Stadt
zu teilen, und brach damit ein fast heiliges Tabu. Weit mehr Israelis,
als zu erwarten war, unterstützten diese Entscheidungen, wie auch die
meisten enthusiastisch den Rückzug der Armee aus dem Libanon begrüßt
hatten.
Der Osloer Vertrag, eine Illusion
Das Abkommen von Oslo setzte auf Zeit - in der Annahme, dass viele
Jahre des gewaltfreien Miteinanders nach und nach den Weg für einen
echten Frieden ebnen würden. Und so richteten die Israelis sich ohne
besondere Ungeduld darauf ein, dass das, was wir heute als die Illusion
von Oslo erkannt haben, irgendwann einmal Realität würde. Dabei fiel
ihnen nicht auf, dass gar nicht so viele Palästinenser etwas von der
neuen Lage hatten, ja, dass für viele das Leben sogar schwieriger
geworden war. Die palästinensische Selbstverwaltung erwies sich nämlich
als mindestens so erdrückend wie die israelische Besatzung und zudem als
korrupter; gleichzeitig siedelten die Israelis sich weiterhin in den
besetzten Gebieten an, als ob es nie ein Abkommen gegeben hätte. So
waren die Chancen des Abkommens von Oslo von Anfang an gering. Und dann
kam Ehud Barak.
Anstatt das schrittweise Vorgehen von Oslo beizubehalten und den
Palästinensern pragmatische Lösungen für konkrete Probleme anzubieten,
versuchte Barak, den Palästinensern ein endgültiges Friedensabkommen
aufzuzwingen. Zwar schien er den Palästinensern größere Konzessionen
anzubieten als je zuvor, nur wurden die meisten nie offiziell in
Schriftform vorgelegt. Doch kein Entgegenkommen konnte die Palästinenser
befriedigen: Die Kluft zwischen beiden Seiten ist einfach zu tief.
Jassir Arafat kann nicht drei Millionen Flüchtlingen in die Augen sehen
und sagen, der Konflikt sei nun vorbei. Israel kann nämlich bestenfalls
einer Hand voll von ihnen gestatten, nach Hause zurückzukehren. Und es
kann auch nicht alle Siedlungen in den besetzten Gebieten auflösen, aber
nichts Geringeres als das darf Arafat akzeptieren.
Jerusalem ist seit 3000 Jahren ein Problem ohne Lösung, und es mag
sein, das sich daran auch in den kommenden 3000 Jahren nichts ändert.
Barak wollte sich all dies nicht eingestehen. Er war ein Gefangener
seiner eigenen napoleonischen Fantasien, und sein Ehrgeiz, als
Friedensstifter in die Geschichte einzugehen, verleitete ihn zu einem
Nullsummenspiel; das Ergebnis war weniger als null. Der Zusammenbruch
des Friedensprozesses von Oslo ließ den Palästinensern keine Alternative
als die Rückkehr zur Gewalt, samt bestialischen Terrorakten gegen die
israelische Zivilbevölkerung.
Die meisten Israelis betrachten den palästinensischen Terror weniger
als politisches Problem sondern vielmehr als eine Bedrohung der eigenen
Sicherheit. So überlegen sie zwei Mal, bevor sie einen Ausflug machen
oder einkaufen gehen, einen Bus besteigen oder ihre Töchter zum
Ballettkurs schicken. Noch vor einigen Jahren hätten sie zähen Heroismus
demonstriert, heute bleiben viele einfach zu Hause. Da auch der
Tourismus fast zum Erliegen gekommen ist, hat sich die Stimmung ziemlich
verdüstert. Viele Israelis fallen in die längst vergessene
Belagerungsmentalität zurück und rufen nach mehr nationaler Einheit,
ganz im Geist des ursprünglichen zionistischen Kampfes. Premierminister
Ariel Scharon hat die gegenwärtige Lage als die neueste Runde im
Unabhängigkeitskrieg von 1948 beschrieben, die Bildungsministerin
sortiert neuere Geschichtsbücher aus und ersetzt sie durch ältere,
"patriotischere". Der schwarze Humor meldet sich auch zurück: Um den
israelisch-palästinensischen Dialog wiederzubeleben, so geht ein Witz,
sei ein Team aus schwer verwundeten Israelis und Palästinensern
aufgestellt worden, um die Region bei den nächsten Paralympischen
Spielen zu repräsentieren. Zunehmend verstehen Kommentatoren Kritik aus
dem Ausland, vor allem aus Europa, wieder als Zeichen eines
unterschwelligen Antisemitismus. Gegen die palästinensische
Zivilbevölkerung sind harte Maßnahmen ergriffen worden, darunter schwere
Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter; weniger Israelis als
früher erheben dagegen ihre Stimme.
Die vorangegangene Intifada hatte die meisten Israelis zu der
Einsicht gebracht, dass ein Großteil der besetzten Gebiete Kosten und
Mühe nicht wert sind, die notwendig wären, um sie zu behalten. Ähnlich
wie die Briten hatten es die Israelis einfach satt; lieber frönten sie
dem ach so belebenden postzionistischen Kulturkampf. Die gegenwärtige
Krise aber scheint in die entgegengesetzte Richtung zu führen: Die
Palästinenser scheinen die Israelis zurück in die zionistische
Gebärmutter zu treiben; das mag der palästinensischen Vorstellung von
Rache entsprechen.
Die meisten Israelis sind sich mit Premierminister Scharon darin
einig, dass dieser Konflikt zum jetzigen Zeitpunkt nicht gelöst werden
kann. Zur großen Überraschung fast aller übt der ehemals schießfreudige
General beträchtliche Zurückhaltung. Scharon wird allerdings von den
extremistischen Ministern seines Kabinetts der nationalen Einheit unter
Druck gesetzt, sehr viel härter gegen die Palästinenser vorzugehen - bis
hin zur Entfernung Arafats. Mag sein, dass er dem nicht mehr lange
widerstehen kann. Die Lage ist sehr explosiv, sehr unsicher, sehr
emotionsgeladen - drei Zutaten des Krieges.
Selbst wenn man anerkennt, dass der Konflikt gegenwärtig nicht zu
lösen ist, könnte Israel dennoch einiges tun, um - wenn schon keinen
echten Frieden - immerhin ein Leben ohne Gewalt zu ermöglichen. Dazu
könnte die einseitige Auflösung kleinerer, isolierter Siedlungen
gehören, einschließlich Hebron. Diese Siedlungen sind die Ursache für
viel Spannung und Feindschaft, und ihre Auflösung würde israelischen
Interessen nicht schaden. Außerdem könnte Israel im Lauf der kommenden
Jahre langsam die Bevölkerung einiger größerer Siedlungen reduzieren.
Beide Völker müssten einen Teil ihrer nationalen Hoffnungen aufgeben.
Nach einem halben Jahrhundert gesicherter staatlicher Existenz
akzeptieren viele Israelis diese Notwendigkeit. Die Palästinenser
hingegen sind dem Stadium eines eher urtümlichen Nationalismus noch
nicht entwachsen. Um politische Reife und ein Bewusstsein von Sicherheit
zu entwickeln, wie sie die Israelis haben, müssen auch sie mindestens
eine Generation der Unabhängigkeit erleben. Israel könnte also von der
Errichtung eines unabhängigen Palästinenserstaates profitieren - nicht
als Ergebnis eines "Friedensprozesses", sondern als einer der ersten
Schritte Richtung Frieden.
Bis dahin liegt es im Interesse Israels, das Leben so vieler
Palästinenser wie möglich so erträglich wie möglich zu machen: etwa
indem Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufgehoben werden und mehr
Palästinensern die Erlaubnis erteilt wird, in Israel Arbeit zu suchen.
Die Entsendung internationaler Beobachter, wie sie von den
Palästinensern gegenwärtig verlangt wird, wäre für die Palästinenser ein
dringend benötigter Erfolg und könnte sie vielleicht dazu veranlassen,
weniger Terror einzusetzen. An all das ist leider nicht zu denken,
solange es beim jetzigen Ausmaß der Gewalt bleibt. Deshalb ist es im
Interesse beider Seiten, sie zu mindern.
Aus dem Englischen von Andrea Exler