
Die
Mutter entscheidet
Jüdische Gemeinden streiten, welche Juden nach
Deutschland einwandern dürfen
Wer ist Jude? Eine komplizierte Frage, die die jüdischen
Gemeinden in Deutschland zurzeit umtreibt und deren Beantwortung mit
darüber entscheidet, wer in Zukunft als jüdischer Kontingentflüchtling
nach Deutschland einwandern darf. Aber ist so eine Definition überhaupt
möglich? Der liberale Rabbiner Walter Rothschild verneint dies. „In 2000
Jahren konnte man nicht bestimmen, wer Jude ist, weil es sich meist um
eine Mischung religiöser und nationaler Merkmale handelt.“ Rothschild,
Repräsentant der Jüdischen Gemeinde Berlin, mahnt, es müsse allen vom
Antisemitismus Verfolgten geholfen werden. Wem seine jüdische Abstammung
geglaubt werden kann, sei oft Vertrauenssache: „Nicht jeder Verfolgte
kann mit einer Mappe von Papieren um Schutz bitten.“ Was den
Vorsitzenden des Zentralrats der Juden betrifft, sagt Rothschild
nachdenklich: „Vielleicht hat Herr Spiegel dieses Vertrauen verloren.“
In der Tat. Paul Spiegel empört sich über einen
Zuwanderer aus Russland, der als Beweis seiner jüdischen Identität ein
Foto seiner Großmutter Rachel Goldstein vorgelegt hat, sozusagen in
memoriam, als Inschrift auf dem Grabstein. „Und dann stellte sich
heraus, dass der Mann den Grabstein erst wenige Tage zuvor gekauft hat“,
sagt Spiegel erzürnt. Die kriminelle Energie mancher Einwanderer sei
alarmierend. „Es darf kein Erwachen geben, dass plötzlich ein großer
Teil von uns gar keine Juden sind.“ Alexander Brenner,
Gemeindevorsitzender in Berlin, unterstützt Spiegel: Es kämen zu viele
mit dem „jüdischen Ticket“, die keine Juden seien. Die Botschaften seien
überfordert und glaubten alles, was die Antragsteller sagten. „Wir
suchen nach Kriterien, um dem Missbrauch vorzubeugen, und haben nur die
religiösen.“
130000 Kontingentflüchtlinge
Nach der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, ist die
Frage, wer Jude ist, eindeutig: Wer eine jüdische Mutter hat oder wem
ein Rabbinatsgericht eine Konversion zum Judentum gestattet hat. Das
schließt diejenigen aus, die väterlicherseits jüdischer Abstammung sind.
In den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gilt aber auch der als Jude,
der einen jüdischen Vater hat. Auch diese Juden konnten bisher nach
Deutschland einwandern. Spiegel sagt dazu, Osteuropäer mit jüdischen
Vätern seien keine Juden, und Nicht-Juden hätten nichts in jüdischen
Gemeinden zu suchen. Sie würden im übrigen auch nicht von ihnen
integriert. Von den seit 1991 eingewanderten 130000
Kontingentflüchlingen hätten die jüdischen Gemeinden in Deutschland nur
die Hälfte aufgenommen. Dies ist jedoch nach Ansicht Spiegels nicht im
Sinne des Zentralrats der Juden: „Wenn man Juden nach Deutschland
reinlässt, soll dies die jüdischen Gemeinden stärken“, sagt Spiegel.
Damit fordert er indirekt eine Einwanderung nur der Juden, die es im
Sinne der Halacha sind. Und auch im Bericht der Zuwanderungskommission
von Rita Süssmuth, an dem Spiegel mitwirkte, wird empfohlen, künftig nur
noch die nach dem jüdischen Religionsgesetz definierten Juden
aufzunehmen.
Die liberalen jüdischen Gemeinden stellen sich gegen
diese Argumentation. „Der Grundsatz, dass Zuwanderung nur die Gemeinden
stärken soll, ist falsch“, sagt John March, Begründer der Liberalen
jüdischen Gemeinde Köln. Das gesamte jüdische Leben müsse gestärkt
werden – auch mit den Juden, die es nicht im Sinne der Halacha sind.
„Wenn man Juden nach der Halacha sortiert, löst dies nicht die
Integrationsprobleme in den Gemeinden.“ Denn die atheistisch geprägten
Osteuropäer wüssten fast alle nicht viel von Religion – egal, ob nun
Mutter oder Vater jüdisch sind.
Susanne Spahn / SZ
haGalil onLine 13-08-2001 |