Gehört Rassismus zu jeder
Gesellschaft?
Tiefer loten
Von Rosa Lewin
Michel Friedman ist
nicht zuletzt deshalb ein Meister der Polemik, weil er auch bei
Sätzen, die oft beiläufig dahingeredet und von den meisten
gelangweilt zur Kenntnis genommen werden, aufmerksam hinhört und
sie, wenn nötig, beißend scharf »zerpflückt«. Das bewies er
wieder bei einer Konferenz des SPD-Ostforums »Steh auf gegen
Rechts« in Stendal. »Rassismus gibt es in jeder Gesellschaft«,
»Der Einzelne kann ja doch nichts tun«, waren zwei solcher
Sätze.
»Wo steht geschrieben,
dass Rassismus zu jeder Gesellschaft gehört?« fragte der
stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates die 800
Teilnehmer. »Nirgendwo. Nein, kein einziger Rassist muss sein.
Niemand kommt als Antisemit zur Welt. «Dass der Einzelne nichts
vermag, sei keine Entschuldigung für feige Gleichgültigkeit. Er
habe die meisten seiner Angehörigen im Holocaust verloren, nur
drei - darunter die Mutter - wurden gerettet. Sie standen auf
Schindlers Liste. Wenn unter den damaligen Bedingungen ein
Mensch wie Schindler unter Einsatz des eigenen Lebens so viele
Juden dem Tod zu entreißen vermochte, wie viel mehr müsse dann
der Einzelne in einer demokratischen, freien Gesellschaft
erreichen.
Friedman und Gregor Gysi
nahmen auch zum Streit über die Wirksamkeit eines NPD-Verbotes
Stellung. Es müsse eine Atmosphäre der gesellschaftlichen
Ächtung von Intoleranz und Gewalttätigkeit,
Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus geschaffen werden,
sagte Gysi. In diesem Kontext mache ein NPD-Verbot durchaus
Sinn. An Beispielen kritisierte er, dass nach dem in Deutschland
geltenden Recht Eigentumsdelikte härter geahndet würden als
Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit und die
Menschenwürde.
Der Gesellschaft sei die
Orientierung verloren gegangen, beklagte Friedman. Was die Würde
des Menschen bedroht und zerstört, dürfe nicht noch gefördert,
es müsse bekämpft werden. Ein NPD-Verbot würde da ein Zeichen
setzen. Neben dem Aufstand der Anständigen sei auch ein Aufstand
der Zuständigen vonnöten, der Polizei, der Justiz, der
Staatsmacht. Aufdecken statt zudecken, hinsehen statt weggucken
werde gebraucht, formulierte Ministerpräsident Reinhold Höppner.
Manfred Stolpe, Vorsitzender des Ostforums, hatte bei der
Eröffnung aufgerufen, Ursachen anzugehen und Wurzeln zu
beseitigen. Darum ging es auch in den Arbeitsgruppen, die zum
Beispiel auf Defizite bei der politischen Wissensvermittlung an
manchen Schulen verwiesen. Da gab es in Sachsen eine 8. Klassse,
die nicht wusste, was das Hakenkreuz mit dem 3. Reich zu tun
hat, und eine 9. Klasse, der das Wort Auschwitz nichts sagte.
Der stellvertretende
Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Prof.
Reinhard Schramm, informierte über positive Erfahrungen bei der
Vermittlung des Leidenswegs und der Situation der deutschen
Juden an die junge Generation. Ralf Bachmann vom JKV kritisierte
einseitige und oberflächliche Formulierungen in den
Nahostberichten
der Medien, die geeignet sind, antisemitische Ressentiments zu
beleben.
Erstersch. in "Jüdische
Korrespondenz"
Monatsblatt des
Jüdischen Kulturvereins Berlin e.V.
Shevat 5761
haGalil onLine
06-2001
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