"Israeli und
Palästinenser scheinen die Sorgen des andern nicht richtig zu würdigen"
Auszüge aus dem
Bericht der Mitchell-Kommission
Die vom früheren
amerikanischen Senator George Mitchell geleitete Kommission zur
Untersuchung über die Gründe für die im vergangenen Herbst
ausgebrochenen Gewalttätigkeiten zwischen Palästinensern und Israeli hat
unlängst den beiden Konfliktparteien ihren - noch nicht offiziell
veröffentlichten - Bericht vorgelegt. Die Bildung einer solchen
unabhängigen Kommission war im Oktober auf Vorschlag des damaligen
amerikanischen Präsidenten Clinton beschlossen worden.
«. . . Ungeachtet ihrer langen
Geschichte und ihrer grossen Nähe zueinander scheinen manche Israeli und
Palästinenser die Sorgen des anderen nicht richtig zu würdigen. Manche
Israeli scheinen nicht zu verstehen, welche Entwürdigung undFrustration
die Palästinenser wegen der israelischen Besatzung, der Präsenz des
Militärs und der Siedlungen täglich ertragen müssen, noch scheinen sie
die Entschlossenheit der Palästinenser zu begreifen, ihre Unabhängigkeit
und Selbstbestimmung zu erlangen. Manche Palästinenser scheinen nicht zu
verstehen, in welchem Ausmass der Terrorismus die Angst im israelischen
Volk schürt und damit den Glauben an die Möglichkeit der Koexistenz
untergräbt. Auch scheinen sie nicht die Entschlossenheit der
israelischen Regierung zu verstehen, alles Notwendige zum Schutz der
Bevölkerung zu tun . . .
Zwei stolze Völker teilen ein
Land und ein Schicksal. Ihre widersprüchlichen Ansprüche und religiösen
Differenzen haben zu einem quälenden, demoralisierenden und inhumanen
Konflikt geführt. Sie können diesen Konflikt fortsetzen, oder sie können
verhandeln, um einen Weg zu finden, der zu einem Nebeneinander in
Frieden führt.
Was ist geschehen?
Ende September 2000 erhielten
israelische, palästinensische und andere Vertreter die Nachricht, dass
der jetzige Ministerpräsident Sharon(damals war er Knesset-Abgeordneter)
einen Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg plane. Am28. September
machte er den Besuch in Begleitung von tausend israelischen Polizisten.
Obwohl die Israeli den Besuch in einem innenpolitischen Zusammenhang
sahen, empfanden ihn die Palästinenser als höchst provokativ. Tags
darauf standen sich am selben Ort eine grosse Zahl unbewaffneter
Palästinenser und ein grosses israelischen Polizeiaufgebot gegenüber.
Nach Auskunft des amerikanischen Aussenministeriums hielten die
Palästinenser Grossdemonstrationen ab und bewarfen die Polizisten mit
Steinen . . . Die Polizei setzte Gummimantelgeschosse und scharfe
Munition ein . . . Vier Personen wurden getötet und etwa zweihundert
verletzt. Nach Angaben der israelischen Regierung wurden vierzehn
Polizisten verletzt. Ähnliche Demonstrationen fanden an den darauf
folgenden Tagen statt. So begann die sogenannte Al-Aksa-Intifada . . .
Keine überzeugenden Beweise
Die israelische Regierung
behauptet, der unmittelbare Auslöser für die Gewalt sei das Scheitern
der Verhandlungen in Camp David am 25. Juli 2000 gewesen . . . Aus
diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint die palästinensische Gewalt
durch die Autonomiebehörde geplant mit der Absicht, ‹gezielt
palästinensische Opfer herbeizuführen, um auf diese Weise die
diplomatische Initiative zurückzugewinnen›. Die Palästinensische
Befreiungsorganisation (PLO) bestreitet den Vorwurf, die Intifada sei
geplant gewesen. Sie behauptet aber, dass ‹Camp David nichts weniger
darstellte als den Versuch Israels, seine Macht am Boden auf die
Verhandlungen auszudehnen›. Aus Sicht der PLO reagierte Israel auf die
Unruhen mit dem exzessiven und illegalen Einsatz von tödlicher Gewalt
gegen die Demonstranten, ein Verhalten, das Israels Verachtung für das
Leben und die Sicherheit der Palästinenser gezeigt habe . . .
In ihren Eingaben haben beide
Seiten Behauptungen über Motivation und Kontrolle des anderen
aufgestellt. Uns wurden keine überzeugenden Beweise dafür vorgelegt,
dass der Besuch Sharons mehr war als ein innenpolitischer Akt; auch
haben wir keine überzeugenden Beweise dafür erhalten, dass die
Autonomiebehörde den Aufstand geplant hat . . .
Es gibt aber auch keine Beweise,
auf deren Grundlage man schliessen könnte, dass die Autonomiebehörde
konsequent Anstrengungen unternommen hätte, um die Demonstrationen
einzudämmen und die Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Auch gibt es
keine Beweise, dass die israelische Regierung konsequente Anstrengungen
unternommen hätte, nichttödliche Mittel zur Kontrolle der
Demonstrationen unbewaffneter Palästinenser einzusetzen . . .
Der Besuch Sharons hat nicht zur
Al-Aksa-Intifada geführt . . . Bedeutsamer waren die folgenden
Ereignisse: die Entscheidung der israelischen Polizei am 29. September,
tödliche Mittelgegen palästinensische Demonstranten einzusetzen, und das
Versäumnis beider Seiten, Zurückhaltung zu üben.
Unvereinbare Perspektiven
Wir sind frappiert über die
widersprüchlichen Erwartungen beider Seiten in Bezug auf die
Verwirklichung des Oslo-Prozesses. Einige Resultatedieses Prozesses
wären vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Während der letzten
Verhandlungsrunden waren die Parteien einer definitiven Regelung näher
als je zuvor.
Beide Seiten sehen die
Nichteinhaltung von erreichten Übereinkommen seit Beginn des
Friedensprozesses als Beweis für einen Mangel anAufrichtigkeit. Dieser
Schluss hat zu einem Vertrauensverlust noch vor den
Endstatusverhandlungen geführt . . .
Aus palästinensischer Sicht
kündigten ‹Madrid› und ‹Oslo› die Aussicht auf einen eigenen Staat
an . . . Die Palästinenser sind wütend über das Wachsen der
Siedlungen . . . Die PLO behauptet auch, dass die israelische Regierung
Verpflichtungen wie den weiteren Rückzug aus dem Westjordanland und die
Freilassung palästinensischerGefangener nicht eingehalten hat . . . Aus
israelischer Sicht beeinträchtigt der Ausbau der Siedlungen . . . nicht
das Ergebnis der Endstatusverhandlungen . . . Die israelische Regierung
hält ihrenVorwurf aufrecht, die PLO habe ihre . . . Versprechen
gebrochen, indem sie weiter auf den Einsatz von Gewalt für politische
Zwecke setzt . . .
. . . Trotz der gegenwärtigen
Gewalt und dem gegenseitigen Vertrauensverlust haben beide Seiten
wiederholt ihren Wunsch nach Frieden ausgedrückt . . . Wir glauben, dass
die Autonomiebehörde eine Verantwortung für den Wiederaufbau des
Vertrauens hat. Sie muss klar machen . . ., dass Terrorismus verwerflich
und unannehmbar ist . . . Auch die israelische Regierung hat eine
Verantwortung für den Wiederaufbau von Vertrauen. Ein Ende der
palästinensisch-israelischenGewalt wird sehr schwierig sein, wenn die
israelische Regierung nicht alle Siedlungsaktivität einstellt . . . Wir
anerkennen Israels Sicherheitssorgen. Wir glauben aber, dass die
israelische Regierung die Abriegelung der besetzten Gebiete aufheben
sollte, der palästinensischen Behörde alle ihr zustehenden aufgelaufenen
Einkünfte übergeben sollte . . . Die Abriegelungspolitik spielt in die
Hände der Extremisten, die neuen Anhang gewinnen wollten, was wiederum
zu einer weiteren Verschärfung der Gewalt führt.
Empfehlungen
Die israelische Regierung und die
palästinensische Autonomiebehörde sollten ihre Verpflichtung auf
getroffene Übereinkünfte bestätigen . . .,ein bedingungsloses Ende der
Gewalt herbeiführen . . . und sofort die Sicherheitszusammenarbeitwieder
aufnehmen. Wirkungsvolle Zusammenarbeit zur Verhinderung der Gewalt wird
zur Wiederaufnahme von Verhandlungen ermutigen . . .
Die palästinensische
Autonomiebehörde und die israelische Regierung sollten . . .
Aufwiegelungen aller Art verdammen. Die palästinensische
Autonomiebehörde sollte . . . deutlich machen, dass Terrorismus
verwerflich und unannehmbar ist . . . Die israelische Regierung sollte
sämtliche Siedlungsaktivität einfrieren. Die von der israelischen
Regierung gewünschte Sicherheitszusammenarbeit kann nicht auf Dauer
gleichzeitig mit Siedlungsaktivität bestehen . . . Die israelischen
Verteidigungskräfte sollten einen Rückzug in ihre Stellungen vor dem
28. September 2000 erwägen . . . Die israelische Regierung sollte
sicherstellen, dass die Verteidigungskräfte . . . Massnahmen ergreifen,
die zu nichttödlichen Antworten auf unbewaffnete Demonstranten
ermuntern . . . Die palästinensische Autonomiebehörde sollte ihre
Zusammenarbeit mit den israelischen Sicherheitsbehörden erneuern . . .
Die israelische Regierung könnte gegenüber der
palästinensischenAutonomiebehörde klarstellen, dass ein zukünftiger
Friede einen territorial zusammenhängenden palästinensischen Staat im
Westjordanland und im Gazastreifen nicht verhindern würde.
Wir wiederholen unsere
Überzeugung, dass eine hundertprozentige Anstrengung zur Unterbindung
der Gewalt, eine sofortige Wiederaufnahme der Sicherheitszusammenarbeit
und ein Austausch von vertrauensbildenden Massnahmen sehr wichtig sind
für die Wiederaufnahme von Verhandlungen. Aber keine dieser Massnahmen
wird nachhaltig sein können, wenn es keine Rückkehr zu ernsthaften
Verhandlungen gibt.»
Die Mitglieder der
Mitchell-Kommission
R. M. Der unabhängigen Kommission
zur Untersuchung von Ursachen und Motiven des neuen Kreislaufes von
Gewalt und Gegengewalt zwischen Palästinensern und Israeli gehören neben
dem Vorsitzenden, dem früheren amerikanischen Senator George Mitchell,
folgende Persönlichkeiten an: der frühere türkische Staatspräsident
Suleyman Demirel, der norwegische Aussenminister Thorbjörn Jagland, der
frühere amerikanische Senator Warren Rudman und der Repräsentant für die
gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU, Xavier Solana.
19. Mai 2001
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20-05-2001 |