Der Mann im
Nerz
Er kannte sie alle: Der
Literaturvermittler, Germanist und Schriftstellerfreund Hans Mayer
ist im Alter von 94 Jahren in Tübingen gestorben
Eine Erinnerung zum Schluss:
Er sitzt an einem kleinen Marmortischchen auf der großen, hell
erleuchteten Bühne des Berliner Ensembles, streicht mit den Händen
immer wieder ein imaginäres Manuskript auf der Tischplatte zurecht
und blickt in eine ferne Ferne. Hans Mayer war am Ende seines Lebens
beinahe blind. Seine Vorträge wusste er auswendig. Oder besser: Sie
entstanden beim Sprechen. Wie von selbst reihte sich Anekdote an
Anekdote, Erlebtes an Erlebtes und formte sich wie nebenbei zu einer
großen Erinnerung. Es war im Februar 1995. Er sprach über Brecht und
Beckett. "Ich sehe sie beide vor mir", sagte er und schaute über die
voll besetzten Reihen hinweg: "Sie sind Teil meines Lebens."
Brecht und Beckett. Sie waren
Teil eines Lebens, das selbst nur Literatur gewesen ist. "Gelebte
Literatur" hatte Mayer seine Frankfurter Poetikvorlesungen genannt.
Und wirklich hat niemand Literatur so sehr gelebt wie er. Hans Mayer
hat sie alle noch persönlich kennen gelernt: Georg Lukacs, Ernst
Bloch, Robert Musil, Kurt Tucholsky und Thomas Mann. Andere wie Uwe
Johnson, Christa Wolf und Volker Braun hörten in Leipzig seine
Vorlesungen. Mit Brecht verband ihn seit 1948 ein enges
Arbeitsverhältnis, und von Thomas Mann gab der "geistvolle Leipziger
Literaturhistoriker Hans Mayer" (Thomas Mann) die erste Werkausgabe
in der DDR heraus.
Als Bezahlung wünschte sich
Mann, da der Transfer von Devisen nicht erlaubt war, einen
Nerzmantel. "Ziehen Sie sich warm an", lautete der schriftlich
fixierte Geheimauftrag.
Und Mayer überquerte in einem
Frühsommer Anfang der 50er-Jahre mächtig schwitzend im edlen Nerz
die innerdeutsche Grenze. Der glückliche Thomas Mann hat ihm das
nicht vergessen. Und Hans Mayer schrieb später eines seiner
Hauptwerke über den Nobelpreisträger.
Doch dieses Leben für die
Literatur, das am 19. März 1907 in Köln begann, hätte auch ein ganz
anderes werden können. Eigentlich wollte Mayer Pianist werden. Es
heißt, sein Fähigkeiten hätten dafür durchaus ausgereicht. Aber dann
studierte er Staats- und Rechtswissenschaften sowie Philosophie und
Geschichte in Köln, Berlin und Bonn und promovierte 1930 über ein
staatsrechtliches Thema bei Hans Kelsen in Köln. 1933 wurde der Jude
und Marxist Hans Mayer aus dem Staatsdienst entlassen, emigrierte
zunächst nach Frankreich, dann in die Schweiz. Hier erst entwickelte
er seine entschlossene Liebe zur Literatur, beschäftigte sich mit
Georg Büchner und dem Vormärz und arbeitete bei kulturpolitischen
Zeitschriften in der Schweiz.
Er kehrte als einer der
ersten Emigranten schon 1945 nach Deutschland zurück, war zunächst
auf Vorschlag Golo Manns Chefredakteur von Radio Frankfurt, nahm
aber schon 1948 eine Professur der Nationalliteraturen an der
Universität Leipzig an.
Doch bald schon wurde dem
"Kommunisten ohne Parteibuch", wie er sich selber nannte,
vorgeworfen "keine ausreichende parteiliche Darstellung und
Bewertung der sozialistischen Gegenwartsliteratur" vorzunehmen. 1963
blieb er, anlässlich eines Kurzbesuchs, in der Bundesrepublik und
nahm kurz darauf eine Professur in Hannover an.
Es war seine dritte Flucht.
Und noch 1993 erklärte Mayer, anlässlich der fremdenfeindlichen
Übergriffe in Deutschland: "Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, würde ich
darüber nachdenken, ob ich dieses Land wieder verlassen sollte."
Aber er war alt geworden. "Ein Marxist am Abend des Marxismus." Und
er blieb. Und schrieb. In den letzten Jahren erschien praktisch
alljährlich ein neuer "Mayer". Zuletzt die "Erinnerungen an Willy
Brandt".
Hans Mayer hat die Literatur
geliebt und die Menschen, die sie schufen. Hans Mayer war selbst ein
Literat. Und ein euphorischer Vermittler von Literatur. Er war ein
Besessener im schönsten Sinne, ein Liebhaber, ein Verehrer und
Bekehrer. Er hat das analytisch-anekdotische Schreiben zu einer
Meisterschaft gebracht wie sonst keiner. In einem Interview hat er
gesagt: "Das, was ich aus mir gemacht habe, ist das, was heute kein
anderer in Deutschland kann." Ja. Hans Mayer war der Letzte seiner
Art. Jetzt ist er tot. Er starb in der Nacht zum Samstag in
Tübingen. 94 Jahre alt.
VOLKER WEIDERMANN
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20-05-2001
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