"Den heutigen Tag begann ich mit
reichlichem Holzhacken. ... Es steht da auch noch eine riesige, schwere
Anschlagtafel, genauer: ein Anschlagkasten des 'Stürmers' - 'Die Juden
sind unser Unglück!' Ich möchte ihn gar zu gerne zerhacken (Polyeucte!),
aber ich fürchte, dazu reicht meine Kraft nicht aus."
Victor Klemperer
Tagebucheintrag vom 10. Mai 1945
(aus: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1942-1945, Band
2, Aufbau-Verlag, Berlin 1995)
"Als uns am 9. Mai 1945 in Warschau
die Nachricht erreichte, daß im sowjetischen Hauptquartier in
Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation aller deutschen
Streitkräfte unterzeichnet worden sei und damit der Zweite Weltkrieg
beendet war, forderten uns einige fröhliche und glückliche Kollegen auf,
mit ihnen in den Hof zu gehen. Es sei Zeit, sagten sie, für einen Salut
gen Himmel. Wir entsicherten unsere Pistolen. Dann schossen meine
aufgeräumten und übermütigen Kollegen gleichzeitig in die Luft. Einen
Augenblick später richtete ich meine Pistole auf den blauen und
sonnigen, den unbarmherzigen und grausamen Himmel, und dann drückte ich
ab. Es war mein erster und letzter Schuß im Zweiten Weltkrieg, der erste
und letzte in meinem Leben.
Tosia stand neben mir. Wir schauten uns schweigend an. Wir wußten genau,
daß wir das gleiche empfanden: Nein, nicht Freude empfanden wir, sondern
Trauer, nicht Glück, sondern Wut und Zorn. Ich blickte noch einmal nach
oben und sah, daß eine Wolke aufgezogen war, dunkel und schwer. Ich
spürte: Diese Wolke über uns, sie würde sich nie verziehen, sie würde
bleiben, unser Leben lang."
Marcel Reich-Ranicki
aus: Mein Leben, DVA Stuttgart 1999, S.314)
"Die Sieges- und Friedensglocken
dröhnen, die Gläser klingen, Umarmungen und Glückwünsche ringsum. Der
Deutsche aber, dem von den Allerunberufensten einst sein Deutschtum
abgesprochen wurde, der sein grauenvoll gewordenes Land meiden und sich
unter freundlicheren Zonen ein neues Leben bauen mußte - er senkt das
Haupt in der weltweiten Freude; das Herz krampft sich ihm zusammen bei
dem Gedanken, was sie für Deutschland bedeutet, [...]
Und dennoch, die Stunde ist groß - nicht nur für die Siegerwelt, auch für
Deutschland -, die Stunde, wo der Drache zur Strecke gebracht ist, das
wüste und krankhafte Ungeheuer, Nationalsozialismus genannt, verröchelt
und Deutschland von dem Fluch wenigstens befreit ist, das Land Hitlers
zu heißen. [...]
Möge die Niederholung der Parteifahne, die aller Welt ein Ekel und
Schrecken war, auch die innere Absage bedeuten an den Größenwahn, die
Überheblichkeit über andere Völker, den provinziellen und weltfremden
Dünkel, dessen krassester, unleidlichster Ausdruck der
Nationalsozialismus war. Möge das Streichen der Hakenkreuzflagge die
wirkliche, radikale und unverbrüchliche Trennung alles deutschen Denkens
und Fühlens von der moralischen Barbarei der nazistischen
Hintertreppen-Philosophie bedeuten, ihre Abschwörung auf immer."
Thomas Mann
Rundfunkansprache an die Deutschen am 10. Mai 1945
aus: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940
bis 1945, Fischer Tb-Verlag, Frankfurt/Main 1995)
mm / haGalil
onLine 08-05-2001
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