|
|
|
|
|
|
Zum Inhalt des Begriffs "Erinnerung" gibt es viele Auslegungen und Traditionen.
Es gibt diejenigen, für die Erinnerung ein Ritual ist, um nicht wirklich
nachdenken und sich erinnern zu müssen. Es gibt diejenigen, die sich sogar vor
der Erinnerung scheuen, besonders wenn es um unangenehme Erinnerungen geht, sie
als Moralkeule betrachten, und eher wegschauen wollen. Und es gibt Leute, die
schlicht und einfach nichts wissen wollen. Warum sollte man seinen Alltag
ständig mit Bedenken belasten, die mit einem persönlich gar nichts zu tun
haben?
Diese Leute wurden einmal von einem
französischen Dichter als "BMD" bezeichnet, und diese Abkürzung stand in der
französischen Umgangssprache für Arbeit, U-Bahn, Schlafen: sie beschrieb den
Menschen, der jeden Morgen die selbe U-Bahnlinie zur Arbeit nimmt, am Abend mit
der gleichen Linie nach Hause zurückkehrt, der an Essen und Schlafen denkt und
an sonst nichts weiter, etwa ein moderner Papageno. Das ist sehr bequem.
So leben die Lämmer, die ihr Leben an der
Schlachtbank beenden. So lebte ein Teil, allzu großer Teil der deutschen
Bevölkerung zur Zeit der Weimarer Republik. In den 20er Jahren hatte die
Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht für die Nazipartei gestimmt, die Ideen
der Nazipartei nicht unbedingt unterstützt. Und dennoch hat sich die Nazipartei
schrittweise entwickelt. Und dennoch konnten die Nazis, nachdem sie an die Macht
gekommen waren, die anderen Parteien verbieten, die Menschenrechte aufheben -
abgesehen von den der Menschheit bis dahin unbekannten furchtbarsten Verbrechen,
die sie nach und nach verübten. All dies geschah mit allmählich wachsender
Begeisterung der Mehrheit der Bevölkerung. Nicht lange, nachdem die Nazis an die
Macht gekommen waren, erzählte man in England den folgenden Witz über Hitler:
Jemand fragte, und zwar wurde man gefragt, wer der größte Bauer der Welt sei.
Die Antwort war - Hitler. Er hat 80 Millionen Rindviecher und einen riesigen
Saustall. Auf dieses Bild Deutschlands bezieht sich wahrscheinlich auch
Goldhagen, wenn er das deutsche Volk als "Hitlers willige Vollstrecker"
bezeichnet.
Waren also die Werte und Kriterien der
Weimarer Republik, deren Verfassung und Gremien die einer echten westlichen
parlamentarischen Demokratie gewesen sind, so schnell vergessen? Wo waren die
Leute, die Anfang der 20er und 30er Jahre in der Mehrheit für demokratische
Parteien gestimmt hatten?
In den siebziger Jahren arbeitete ich als Gesandter und Sprecher der
israelischen Botschaft in Paris. In der Zeit nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973
geriet Israel zunehmend unter Druck. Das waren die Zeiten des Ölembargos, Zeiten
in denen unsere arabischen Gegner die Macht hatten – zumindest sah es damals so
aus –, die Welt einzuschüchtern. Die Propaganda gegen Israel lief auf Hochtouren
und erreichte ihren Höhepunkt 1975 mit dem Beschluss der Vollversammlung der
Vereinten Nationen, die Zionistische Bewegung als rassistische Bewegung zu
verurteilen. In diesen Jahren bestand der Schwerpunkt der palästinensischen
Propaganda gegen Israel in der Beschuldigung, Israel verübe in seinem Krieg
gegen die Palästinenser systematische Folter.
Für mich bestand nicht der geringste
Zweifel, dass dies reine Propaganda war. Darum hatte ich keine Hemmungen, die
Beschuldigungen zurückzuweisen. Ich wiederholte mit Überzeugung die offizielle
israelische Version der Sachlage, die behauptete, dass die Palästinenser die
Opfer eines jeden Unglücks wie etwa eines Autounfalls als gefolterte
Freiheitskämpfer darstellten. Eines Tages erhielt ich einen Brief von dem
Chefredakteur der einflussreichen, linken französischen Wochenzeitung Le Nouvel
Observateur, dem namhaften Jean Daniel. Seine scharfe Kritik gegenüber der
israelischen Politik war bekannt und für uns sehr schmerzhaft. Dennoch
überraschte mich sein Brief außergewöhnlich.
Er schrieb, er füge einen Artikel von
seinem Korrespondenten in Israel bei, in dem eine regelrechte Attacke gegen
Israel in Bezug auf Folter geführt werde. Er schrieb, der Artikel sei derartig
gravierend, dass er meine Reaktion hören wollte, bevor er ihn drucken lasse.
Warum sollte der Chefredakteur einer großen Zeitschrift, die auf ihre
Unabhängigkeit besonders stolz ist, einen Ausländer, gar einen offiziellen
Vertreter einer ausländischen "Propagandaabteilung" um seine Meinung bitten,
bevor er einen Artikel seines höchst vertrauten Korrespondenten drucken lässt?
Mir schien das überraschend freundlich, war ich doch davon überzeugt, die
"Verleumdungen" des Artikels problemlos dementieren zu können. Da ich die
palästinensische Propaganda kannte, erwartete ich eine Wiederholung der
bekannten Argumente.
Als ich aber den Artikel las, war ich
verblüfft. Der Artikel enthielt keine Beschimpfungen und keine Propaganda. Es
war ein trockener Beitrag, der Form und Inhalt nach nüchterne Tatsachen
darstellte. Er begann mit einem Namen: Herr X, an einem bestimmten Datum in
einem bestimmten Ort geboren, wohnhaft in Y, wurde an einem genannten Tag von
den israelischen Sicherheitsbehörden verhaftet, saß in diesem und jenem
Gefängnis, wurde auf diese Weise gefoltert, an einem bestimmten Datum
freigelassen, leidet unter diesen und jenen Folgen seiner Folter. Die
medizinischen Folgen wurden ausführlich von einem jüdischen, israelischen Arzt
namens Z mit Angabe seiner Adresse schriftlich attestiert. Punkt. Und dann kam
die nächste Geschichte, ähnlich der ersten, und so fort. Was sollte ich damit
anfangen?
Sind Sie naiv?
Natürlich wusste ich genau, dass diese
Tatsachen "falsch" waren. Ich bat das Auswärtige Amt in Jerusalem um genaue
Dementis. Statt dessen bekam ich ein Telegramm mit den längst bekannten
Argumenten der israelischen Informationsbehörden, Argumente, die die Ursache und
Wurzel des Nahost-Konflikts darstellten, das Leiden der Israelis, den Terror und
dergleichen. Ich bat dringlich um genaue Information. Ich wollte hören, dass die
in dem Artikel erwähnten angeblich Gefolterten nicht existieren, dass die Namen
gefälscht sind, die Fakten nicht stimmen. All dies bekam ich nie. Nervöse
Telefonate mit Kollegen und Freunden in Israel sind ebenfalls ergebnislos
geblieben. Über die Frage hinaus, wie ich Jean Daniel antworten sollte, quälte
mich der Zweifel an unserer Version in Bezug auf Folter zunehmend.
Ich flog nach Israel und begann, selbst
zu recherchieren. Ich benutzte alle meine Kontakte und Freunde in den
verschiedenen israelischen Behörden, kam aber zu keinem Ergebnis. Wenn ich auch
keinen Beweis dafür gefunden habe, dass in Israel systematisch gefoltert wird,
so konnte ich doch auch keine überzeugende Widerlegung finden. Ich kehrte zurück
nach Paris, schrieb Jean Daniel, er könne mit dem Artikel tun, was er wolle,
dass er von mir aber keine Reaktion erhalten werde. Jean Daniel war von dieser
Erwiderung beeindruckt und beschloss, ein Begleitwort für den Artikel zu
schreiben, das die besondere Lage Israels darstellt, das unter ganz besonders
harten Umständen lebt, sich gegen Terror verteidigen und um sein Überleben
ringen muss und dadurch manchmal zur Anwendung extremer Mittel gedrängt wird,
die anderen Nationen erspart bleiben. Das Begleitwort fügte hinzu, die Redaktion
der Zeitschrift sei fest davon überzeugt, dass, wenn in Israel vielleicht auch
gefoltert wird, Folter nicht zu einer Institution geworden ist, aber um zu
verhindern, dass sie zur Routine wird, sollte man den Artikel lesen, als Mahnung
gegen Methoden, die den Staat Israel bedrohen. Ich war dem Chefredakteur
dankbar, habe mich aber zu dem Thema nicht mehr geäußert.
Erst kurze Zeit danach, als meine
Amtszeit in Paris zu Ende kam und ich nach Israel zurückkehrte, traf ich den
Israel-Korrespondenten des Nouvel Observateur. "Sie sind ein sehr ehrlicher und
glaubwürdiger Journalist", sagte ich ihm. "Warum haben Sie den Artikel über
Folter in Ihrer Pariser Zeitung veröffentlicht?" "Zunächst", erwiderte er, "muss
ich meinen Hut vor Ihnen ziehen, für den Mut, den sie hatten, meinem
Chefredakteur das zu schreiben, was Sie geschrieben haben. Und dennoch bin ich
verwundert. Wer weiß besser als Sie, dass alles was ich geschrieben habe,
gestimmt hat und nachgeprüft war?" "Ja", sagte ich, "das bestreite ich nicht,
nur verstehe ich nicht, warum Sie diesen Artikel in der Pariser Zeitung
veröffentlicht haben. Ihr Ziel war doch ganz bestimmt, Foltermethoden in Israel
zu bekämpfen. Was gewinnen Sie dadurch, dass Sie so etwas in Paris
veröffentlichen? Das schafft dem Staat Israel einen schlechten Ruf im Ausland,
macht aber die israelische Öffentlichkeit, die den Nouvel Observateur nicht
liest, keineswegs betroffen. In Israel hätten Sie so einen Artikel
veröffentlichen müssen".
"Sind Sie naiv?" erwiderte er. "Ich habe
es bei allen israelischen Zeitungen versucht, alle haben ihn abgelehnt."
"Warum", fragte ich, "haben Sie nicht die Wochenzeitung HaOlam Haze von Uri
Avneri versucht?" Avneri ist ja ein bekannter, mutiger Kämpfer für
Menschenrechte, für die Rechte der Palästinenser, und er leitet eine Zeitung,
die allen israelischen Regierungen gegenüber äußerst kritisch ist. "Den",
entgegnete mein Gesprächspartner, "habe ich auch angesprochen. Der hat es aber
leider auch abgelehnt." Da ich argwöhnisch war, habe ich mich nicht gescheut,
selber Avneri zu befragen. "Was Sie gehört haben", sagte Avneri, "stimmt. Ich
habe den Artikel tatsächlich abgelehnt." "Warum?" fragte ich. "Halten Sie die in
dem Artikel beschriebenen Begebenheiten für fraglich?" "Nein", erklärte Avneri,
"mir sind die Daten des Artikels bekannt, und ich halte sie für glaubwürdig. Sie
müssen aber verstehen, dass nicht einmal meine Leser, die daran gewöhnt sind,
jede Woche viele schlimme Dinge über die israelischen Behörden in meiner
Zeitschrift zu lesen, alles verdauen können. Ich kann mir nicht leisten, ihnen
alles zuzumuten, nur weil ich daran glaube."
Wir sehen in der Geschichte aller Zeiten,
aber besonders im 20. Jahrhundert, wiederholte Versuche von Völkern und
Behörden, ihre Vergangenheit zu verdrängen, oder sie gar zu leugnen, von ihren
Erfahrungen nichts zu lernen - und dabei beziehe ich mich lediglich auf
westliche Demokratien. Die Franzosen zum Beispiel führen erst heute eine
schmerzliche Diskussion über die Gräueltaten ihrer Kolonialarmee im algerischen
Krieg der 50er Jahre. Erst in den letzten Jahren haben sie damit begonnen, die
Verbrechen des berüchtigten Vichy-Kollaborateurregimes öffentlich zu erörtern.
1970, als neuer, junger Diplomat in unserer Botschaft in Paris, bemühte ich mich
sehr, Frankreich kennenzulernen und habe das Land sorgfältig besichtigt. Unter
anderem hat mich mein Weg nach Vichy geführt. Eine wunderschöne Stadt, ein
friedlicher Badeort mit Gärten, schönen Hotels und alten Leuten, die auf dem Weg
zu den Brunnen mit Wasserkännchen durch die mit Blumen gesäumten Straßen
flanierten. Im örtlichen Verkehrsbüro erfuhr ich, was in der Stadt besuchenswert
war, nämlich Gärten, Bäder, Theater, Restaurants. Als ich fragte, was man heute
noch in Erinnerung an die Vichy-Regierung besichtigen könne, sah mich die Dame
hinter dem Schalter, die etwa in meinem Alter war, also noch vor dem 2.
Weltkrieg geboren, bösartig an und erklärte: "Monsieur, wir hier betreiben keine
Politik." Das war 26 Jahre nach der Befreiung Frankreichs. Als ich fragte, ob
sie mir zumindest erklären könne, wo ich das Parkhotel (der ehemalige Sitz der
Pétain-Regierung) finden könne, antwortete sie in höchst kühlem Ton: "So ein
Hotel haben wir gar nicht." Ich habe dann erfahren, dass das Hotel tatsächlich
seinen Namen geändert hat.
Sie riskierten ihre Würde
Wie viel Leid und Schmerz hätte
Frankreich sich ersparen können, Leid und Schmerz, die die Franzosen heute noch
erleben, weil sie jahrzehntelang die Vergangenheit verdrängt haben. Wenn man
heute von den Schwierigkeiten zwischen Chirac und Schröder anlässlich des
letzten europäischen Gipfels im Dezember in Nizza spricht, wenn man erzählt,
dass der Bundeskanzler in inneren Kreisen hin und wieder erbittert behauptet,
dass er manchmal seine wichtigsten Partner, die Franzosen, nicht verstehen
könne, kann ich ihm das gut nachfühlen. Oft verhalten sich die Franzosen den
Deutschen gegenüber in einer Weise, die ein objektiver Beobachter nicht
verstehen kann. Das hat nicht mit der Tradition des Erzfeindes zu tun, sondern
mit den Schwierigkeiten der Franzosen, ihre eigene schmerzhafte Vergangenheit
zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihr ehrlich auseinanderzusetzen.
Für uns war das Verdrängen der
Vergangenheit in den Nachkriegsjahren in Deutschland das größte Hindernis auf
dem Weg zur Verständigung mit der Bundesrepublik. Natürlich wussten wir in der
Zeit, in der die Bundesrepublik entstand, dass es kein Nazideutschland mehr gab,
dass die Bundesrepublik eine echte, westliche parlamentarische Demokratie war,
und dass diese, wenn auch von den Alliierten erzwungen, dennoch von den
Deutschen vorbehaltlos in die Tat umgesetzt worden war. Trotzdem wollten wir mit
den Deutschen keinerlei Kontakt haben. Es ging nicht darum, dass wir alle
Deutschen für ehemalige Nazis hielten. Es ging darum, dass wir immer hörten,
dass die meisten Deutschen ihre Vergangenheit verdrängen, wenn nicht schlicht
und einfach leugnen. Wir sagten, Leute, die ihre Vergangenheit verdrängen,
können sich von ihr nicht lösen, können sich infolge dessen auch nicht ehrlich
und von Grund auf ändern. Vor allem aber, dachten wir, könne man mit Menschen,
die mit ihrer eigenen Identität nicht aufrichtig umgehen, keinen echten Dialog
führen. Dies hat sich mit den Jahren in der Bundesrepublik grundlegender
geändert als in anderen westeuropäischen Ländern. Vieles hat zu diesem Wandel
geführt, hauptsächlich auch die Studentenbewegung von 1968, und heute erzähle
ich in Israel, dass, je mehr die Zeit vergeht, das Interesse der neuen
Generationen in Deutschland an der Nazivergangenheit zunimmt. Sie wollen sich
mit ihr so weit wie möglich auseinandersetzen. Es gibt Dinge in Deutschland, die
ohne Präzedenzfall sind.
"Erinnerung ist das Geheimnis der
Erlösung", lautet die Lehre eines jüdischen Geistlichen aus dem 17. Jahrhundert.
Man könnte das auch negativ darstellen. Der spanische Dichter Jorge Santayana
sagte: "Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch
einmal zu erleben." Erinnerung hat oft geholfen. Es gibt eine ungeheuere Anzahl
von Menschen, von Staaten, die aus ihrer Vergangenheit Konsequenzen gezogen
haben. Ben-Gurion sagte einmal: "Der Unterschied zwischen einem Politiker und
einem Staatsmann liegt darin, dass der Politiker an die nächsten Wahlen denkt,
während der Staatsmann an die nächste Generation denkt." Insofern ist der
Staatsmann ein äußerst seltenes Phänomen. Um die Zukunft zu gewährleisten,
müssen die Bürger sich auf sich selber verlassen. Für Bildung und Erinnerung,
für aus der Vergangenheit zu ziehende Lehren, müssen die Bürger selber sorgen
und den Staat dazu drängen.
In Israel haben Bürger sich allmählich
Fehler in der Politik gegenüber den Palästinensern, in der Politik in den
besetzten Gebieten bewusst gemacht. Das Oslo-Verfahren wäre nicht möglich
gewesen, hätte man sich auf die Spitzenpolitiker verlassen. Auch Tauben wie
Peres und Rabin, klarsichtige Politiker wie Sadat in Ägypten, Hussein in
Jordanien, haben den Friedensprozess eher als Ergebnis einer langjährigen
Weiterentwicklung der öffentlichen Meinung zur Kenntnis genommen, als dass sie
ihn erfunden haben. Wenn das Oberste Gericht in Israel endgültig jegliche Folter
verboten hat, war das ein Ergebnis des wachsenden öffentlichen Interesses an
diesem Problem, über das noch in den 70er Jahren keine israelische Zeitung
berichten wollte.
In Deutschland können sich die
Jugendlichen, die an den Verbrechen der Nazis keinerlei Schuld tragen, von dem
Erinnern nicht freimachen. Man kann sich seine Vergangenheit nicht wählen, und
die Meilensteine der deutschen Vergangenheit bestehen nicht nur aus Luther,
Kant, Goethe, Heine, Friedrich dem Großen und so fort. Der Bundestagsabgeordnete
türkischer Abstammung Cem Özdemir sagte einmal: "Deutschland ist mein
Adoptivland. Ich will Deutscher sein. Ich bin Deutscher. Und das bedeutet, dass
die Verantwortung für die gesamtdeutsche Geschichte meine wird, auch die der
Nazizeit." Verantwortung bedeutet nicht Schuld. Verantwortung bedeutet
Erinnerung, um die Zukunft gewährleisten zu können.
"Widerstand in Nazideutschland war sehr
mutig", erklärt heute jedermann. Widerstand ist überall mutig. Widerstand gegen
die Nazis in den besetzten Ländern war besonders mutig, denn die Grausamkeit der
Nazireaktion auf Widerstand war überall bekannt. Aber der Widerstand der
Deutschen gegen die Nazis in Deutschland war die größte Besonderheit der
Tapferkeit und der Tugend, für die man in der menschlichen Geschichte nur wenige
Beispiele findet. Die idealistischen Jugendlichen, so wie die einfachen Bürger,
die, besonders in Berlin, ihr Leben einsetzten, um Juden zu retten, wussten,
dass sie nicht nur ihr Leben oder Folter riskieren. Sie riskierten viel mehr.
Sie riskierten ihre Würde, denn bei der allgemeinen Begeisterung für Hitler, die
in Deutschland herrschte, wussten die Widerstandskämpfer in Deutschland, dass
sie auch von ihrem Umfeld, gelegentlich von ihren Nächsten und Liebsten, als
abscheuliche Verräter betrachtet wurden. Weil es dennoch Menschen gab, die
bereit waren, so viel zu riskieren, konnte man in der Nachkriegszeit ein anderes
Deutschland aufbauen. Heute sollte die Lehre der Widerstandskämpfer der Weißen
Rose lauten: "Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung".
Avi Primor, der Vizepräsident der Universität von Tel Aviv, war 1993 bis 1999
Israels Botschafter in Deutschland.
Der Text ist die gekürzte Fassung der
Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung, die Avi Primor am 6. Februar an der Universität
München gehalten hat.
haGalil onLine
07-02-2001
|