
Die christliche Synagoge
In
Berlin-Lichterfelde feiern "messianische Juden"
ihren "Schabbat-Gottesdienst". Sie glauben an Jesus als ihren Messias - ein
Paradox. Freikirchen helfen ihnen, jüdische Gemeinden protestieren
Von Philipp Gessler
Seltsames passiert hier,
nicht leicht zu verstehen. Dabei sieht zunächst alles ganz normal
aus: Es ist Schabbat, man trifft sich zum Gottesdienst. Die Türen
eines Sechziger-Jahre-Baus am Marienplatz in Berlin-Lichterfelde
öffnen sich. Viele russische Laute erklingen, "Schalom" ist aus
allen Mündern zu hören. Die Frauen sind deutlich geschminkt, die
Männer tragen eine Kippa auf dem Hinterkopf - jüdische Zuwanderer
aus den früheren Staaten der Sowjetunion gehen ihren religiösen
Pflichten nach. Klar.
Doch dann wird deutlich: Dies ist eine Kirche. Ein Kruzifix an der Stirnwand des
von der Sonne gewärmten Saales wird mit einem Wandteppich verdeckt - auf ihm ist
ein Jude mit einem Gebetsschal zu erkennen, der in ein Widderhorn (Schofar)
bläst. Zwei israelische Flaggen werden aufgehängt, ein weiteres Kreuz am
Predigerpult durch die blauweiße Flagge Jerusalems verhüllt. Eine kleine Band
mit Blockflöten und drei Sängern probt Lieder, die nach Kirchentagshits klingen.
Und in einer Ecke üben junge Frauen in blauen Röcken Tänze, die an Folklore
erinnern.
Was ist das? Ein Treffen philosemitischer Christen? Ein Gottesdienst
durchgeknallter Juden? Feiern hier gleich neben dem Bethel-Krankenhaus des
Diakonischen Werkes Christen oder Juden? Genau das ist das Problem. Die hier
versammelten Mitglieder des "Beit Schomer Israel" (Haus des Behüters Israels)
verstehen sich als beides. Es sind "messianische Juden". Sie begreifen sich in
der Regel als Juden, als Nachkommen des auserwählten Volkes Abrahams und Jakobs,
die jedoch Jesus von Nazareth als den Messias anerkennen.
Das ist ein Widerspruch in sich. Denn etwas verkürzt gilt: Entweder man ist
Jude, dann glaubt man, dass der Messias noch nicht gekommen ist - alles andere
ist Häresie. Oder man ist Christ, weil man daran glaubt, dass Jesus Christus der
Messias ist. Das ist, obwohl beide Weltreligionen den gleichen Gott anbeten, der
Graben zwischen Judentum und Christentum. Die "messianischen Juden" leben in
diesem Graben, auch wenn dies theologisch mehr als fragwürdig ist. Und in Berlin
kommen zu ihren "Schabbat-Gottesdiensten" jeden Samstag immerhin etwa hundert
Gläubige. In Deutschland wird die Zahl "messianischer Juden" auf ein paar
hundert, vielleicht ein paar tausend geschätzt.
Das scheint nicht viel. Aber bei bundesweit nur etwa 80.000 Juden fällt diese
Gruppe doch ins Gewicht. Zumal sie relativ aktiv ist und ihre Zahl etwa im
Vergleich zu den 80er-Jahren klar zugenommen hat, wie Peter von der Osten-Sacken
meint. Der Neutestamentler ist Leiter des Instituts Kirche und Judentum an der
Humboldt-Uni von Berlin, ein Kenner der Materie.
Mit dem Zustrom russischsprachiger Juden aus Osteuropa nach 1989 hätten sich die
Missionsversuche von christlichen, oft evangelikalen Gruppen unter den Migranten
verstärkt, berichtet der Religionsexperte - manche Gruppierungen hätten sich
"auf diese Klientel gestürzt". Vor allem in Süddeutschland grasten Christen für
ihre Mission schon die Aufnahmelager ab.
Am profiliertesten ist das etwa 100 Jahre alte US-Missionswerk "Chosen People
Ministries". Es gründet schon seit Jahren in Russland Gemeinden, deren
Mitglieder bei ihrer Ausreise nach Deutschland hier Gemeinschaften stifteten.
Der Wahlspruch auf ihrer Homepage sagt, übersetzt, alles: "Wir sind Juden und
Nichtjuden, die glauben, dass Jesus der jüdische Messias ist."
In enger Verbindung zu "Chosen People Ministries" steht auch der "Beit Sar
Shalom Evangeliumsdienst e.V.", der die Veranstaltung in der Bethelgemeinde
organisiert. Ihr Leiter ist Wladimir Pikman, ein gebürtiger Ukrainer. Der
31-Jährige lebt seit sechs Jahren in Deutschland. "Zum Glauben gekommen", so
erzählt er, sei er 1992 in Kiew bei einer jüdisch-messianischen Gemeinde: Er
habe einem Freund, wie er Jude, durch das Studium der Schrift beweisen wollen,
dass man als Jude nicht an Jesus glauben könne - und sei dann vom Gegenteil
überzeugt worden.
Nun steht Pikman mit einem jüdischen Gebetsschal um die Schultern auf der Bühne
vor seinen Gläubigen in der Bethelgemeinde. Er spricht jüdische Gebetsformeln
wie "adonai echad" (Gott ist einzig), aber den Schwerpunkt bilden christliche
Gebete: Dabei wird "Jesus" fast nur "Jeschuah" genannt. Er sei der Messias und
"die Rettung". Gott habe ihn als einzigen Sohn "für uns hingegeben", in ihm sei
ewiges Leben. Dazu werden viele Lieder gesungen, deren Texte - mal hebräisch,
mal russisch - in lateinischen oder kyrillischen Buchstaben per
Overhead-Projektor auf eine Leinwand geworfen werden.
Die Predigt hält Pikman fast völlig frei und auf Russisch. Ein roter Faden ist
nur schwer zu erkennen, aber zumindest die Sprache ist kein Problem: Die
wenigen, die hier kein Russisch verstehen, können der Predigt über eine
Übersetzung folgen, die wie bei einer internationalen Konferenz auf Kopfhörer
übertragen wird. Die Gläubigen singen mit, manche tanzen ein wenig, schwenken
ihre Arme über dem Kopf. Die jungen Damen in der Ecke zeigen mit wehenden Röcken
ihre Tanzformationen. Besonders gut scheint der "Aarons Segen" anzukommen: Dabei
spricht Pikman einen Segensspruch über eine Handvoll Kinder, über die ein
jüdischer Gebetsschal gehalten wird.
Nach dem Gottesdienst steht Pikman zu einem Gespräch zur Verfügung, während
seine Schäfchen bei Kaffee und Kuchen noch etwas plaudern. Er wolle zwar sein
Judesein weiter pflegen, glaube aber an Jesus. Pikman definiert seine
Zugehörigkeit zum Judentum biologisch - seine Eltern und deren Vorfahren seien
Juden. "Häresie" sei sein Glaube nicht, denn wer definiere schon genau im
Judentum, was rechter Glaube sei.
In seiner "messianischen Synagoge" würden auch die akzeptiert, die in der
jüdischen Gemeinde bleiben wollten, berichtet der "messianische Rabbiner", wie
er sich nennt. Man begehe die jüdischen Feiertage. Es gebe Beschneidungen,
Bar-Mizwas - auch "Taufen": "Warum nicht?", fragt er und weist auf eine
gekachelte Vertiefung hinter der Bühne - ein Art Mini-Pool, ihre "mikwe", ein
jüdisches Ritualbad.
Unterstützung erhalte seine Gemeinde von den Baptisten, der christlichen
Freikirche, zu der auch die Bethelgemeinde gehört. Der Kontakt zur Landeskirche
beschränke sich lediglich auf einzelne Personen, so Pikman. Tatsächlich waren es
in den vergangenen Jahren vor allem kleine freikirchliche Gruppen, die unter den
Zuwanderern missionierten, während die großen Kirchen reserviert blieben.
Dennoch wurde die "Judenmission" zu einem der am heftigsten umstrittenen Themen
im deutschen Protestantismus - "ein brennendes Problem", wie der Ratsvorsitzende
der Evangelischen Kirche (EKD), Manfred Kock, schrieb.
Auf Kirchentagen wie etwa 1999 in Stuttgart wurde die Judenmission heftig
diskutiert, auf Gemeindeversammlungen und Synoden der Landeskirchen immer wieder
debattiert. Der Zentralrat der Juden in Deutschland reagierte immer wieder mit
Empörung auf die Missionsversuche evangelikaler Gruppen.
Die EKD versuchte vergangenes Jahr durch eine große Studie zum Verhältnis von
Juden und Christen das Thema "Judenmission" zu beenden - doch heraus kam nur ein
Kompromiss. Demnach ist eine Weitergabe des christlichen Glaubens an Juden nicht
prinzipiell abzulehnen, aber eine gezielte, "organisierte" Mission unter Juden
sei zu unterlassen. Die meisten EKD-Gliedkirchen lehnen jede "Judenmission"
strikt ab - aber im pietistisch geprägten Süden war diese Ablehnung sehr
umstritten: Bei der württembergischen Landessynode votierten 39 Synodale gegen
diese Mission - aber immerhin 32 dafür, und 5 enthielten sich: Knapper gehts
kaum.
Der pensionierte Pfarrer Paul Toaspern etwa beruft sich auf den "Missionsbefehl"
Jesu: "Macht alle Menschen zu meinen Jüngern" (Matthäus 28,19). Dies lasse keine
Ausnahme zu, sagt der ehemalige Leiter der missionarischen Dienste in der DDR.
Toaspern hatte die Gemeinde Pikmans im Juni mit einem Grußwort zum fünfjährigen
Jubiläum bedacht. Er sagt, Paulus habe bei seinen Missionsreisen stets zuerst in
Synagogen predigen wollen, teils mit Erfolg. Zudem gebe es selbst in Israel an
die siebzig messianisch-jüdische Gruppen. Die Judenmission sei doch "zum
Allerbesten der Juden".
Sein Landesbischof Wolfgang Huber hatte sich dagegen auf der Herbstsynode im
vergangenen Jahr trotz Widerstands aus den Reihen der Synodalen klar gegen eine
"Judenmission" ausgesprochen: Die Juden, so Huber, blieben trotz Jesus Christus
Gottes auserwähltes Volk. Deshalb gebe es keine Notwendigkeit, diese Mission zu
betreiben. Auch wegen der Geschichte der Schoah dürfe es keine "zielgerichtete
Judenmission" geben. Beim christlich-jüdischen Dialog sollten die Christen in
erster Linie "Hörende und Lernende" sein, so seine Mahnung.
Und Hubers Weisung ist klar: Keine Räume der Landeskirche für Bestrebungen der
Judenmission. Kein Kirchenmitarbeiter solle sie unterstützen. Als "messianische
Juden" im Oktober in Berlin ein "Laubhüttenfest" (Sukkot) feiern wollten,
mussten sie einen Saal anmieten. Eingeladen wurde dazu in einem teils englisch
verfassten Plakat. Immerhin kamen ein paar hundert Menschen in die Kongresshalle
am Alexanderplatz.
Dennoch reagiert Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin,
auf die "messianischen Juden" ziemlich unaufgeregt: Zwar seien vor einigen
Monaten ein paar Flugblätter in einer Synagoge verteilt worden und irgendjemand
habe auch mal während eines Gottesdienstes auf Hebräisch das Neue Testament
interpretieren wollen. Insgesamt aber hätten auch die russischsprachigen
Zuwanderer in der Gemeinde ein "Gespür" dafür, wer wirklich zu ihnen gehöre. Und
wenn irgendjemand glaube, woanders seine Glückseligkeit finden zu können, möge
er sie suchen, so Nachama gelassen.
Zwei Bethel-Schwestern mit weißen Hauben jedenfalls hat die Feier des "Rabbi"
Pikman gefallen. Das seien ja "Baptisten", sagen sie. Diese Art von Gottesdienst
sei ihnen zwar etwas fremd, "aber von der Bibel kennen wir alles". Und richtig
beeindruckt zeigt sich eine von ihnen von den "Volkstänzen" der jungen Damen -
das sei alles "fröhlich" gewesen, meint sie. "So richtig hebräisch". Leicht zu
verstehen ist das eben nicht.
taz 24.2.2001 PHILIPP
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26-02-2001
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