Nach Ansicht seiner Familie ist der 1945 verschwundene schwedische Diplomat
Raoul Wallenberg, der während des Zweiten Weltkriegs Zehntausenden Juden das
Leben rettete, möglicherweise noch am Leben. Der Anwalt der Familie, Morris
Wolff, forderte
letzte Woche US-Präsident Bill Clinton in einem Brief auf, sich bei
dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nach dem Schicksal des Diplomaten
zu erkundigen.
Der Fall Wallenberg ist lösbar...
...nur der Wille dazu fehlt!
Von
Tekla Szymanski
Die Autorin
lebt als Journalistin in New York und ist Associate Editor des
World Press Review Magazine sowie USA-Korrespondentin der
Frankfurter Zeitschrift Tribüne. Dieser Artikel erschien
ursprünglich am 10. September 1999 in der Wochenzeitung
Freitag.
Raoul
Wallenberg wurde 1912 in eine prominente schwedische Familie geboren. Nach
dem Abschluß seines Architekturstudiums in Michigan, USA, im Jahre 1935,
arbeitete er einige Zeit als Auslandsvertreter einer europäischen
Handelsfirma.
1944 nahm er
das Angebot des "United States War Refugee Boards" an, die Situation
der ungarischen Juden in Budapest zu beobachten, und er reiste als
Gesandter des schwedischen Außenministeriums nach Ungarn.
In Budapest
konnte Wallenberg durch seine diplomatische Immunität und mit viel
Erfindungsgeist und Mut, 100.000 ungarische Juden vor der
Deportation in die Konzentrationslager retten. Im von den Nazis
besetzten Ungarn stellte Wallenberg innerhalb von sechs Monaten
tausende von schwedischen "Schutzpässen" aus, versteckte Juden in
sogenannten "sicheren Häusern" und konnte in einigen Fällen Juden,
die schon in die Deportationszügen gepfercht waren, durch
diplomatische Anordnung in letzter Minute retten.
1945, nach
der Befreiung Ungarns durch die sowjetischen Truppen, wurde
Wallenberg sowie Mitarbeiter der schwedischen Botschaft, in Budapest
gefangengenommen. Außer Wallenberg wurden sämtliche
Botschaftsangehörige bald wieder freigelassen.
Wallenberg
ist seit dem 17. Januar 1945 verschollen und es wird angenommen, daß
er als "amerikanischer Spion" von den Sowjets hingerichtet wurde -
obwohl Augenzeugen berichten, ihn noch bis in die frühen achtziger
Jahre in diversen Gefängnissen gesichtet zu haben.
Der Unterschied zwischen dem treffenden Wort und dem beinahe
treffenden Wort, nach Mark Twain, sei derselbe wie der Unterschied zwischen
einem Blitz und einem Glühwürmchen. Genauso gab es Menschen, die sich mit
Waffen verteidigten und andere, die mit Worten zu überzeugen versuchten.
Menschen, die in unserer Auffassung wie ein Blitz einschlugen, die wir als
Helden preisen und deren Erinnerung wir verlangen, und solche, die wie ein
Glühwürmchen verglühten - vergessen, schutzlos, unwiederrufbar verloren.
Ganz so, als wären sie nie dagewesen.
Zu den letzteren gehört Raoul Wallenberg. Der schwedische Diplomat, der 1944 in
Budapest stationiert, im Auftrag des amerikanischen "Jewish Refugee Board"
100.000 ungarischen Juden durch die Ausgabe von diplomatischen "Schutzpässen"
das Leben rettete, der 1945 von den Sowjets gefangengenommen wurde und seither
verschollen ist, wurde vergessen. Das Schweigen breitete sich aus: Wenige
wollten das Geheimnis um ihn lüften.
Am 4. August wäre Raoul Wallenberg 88. Jahre alt geworden - und immer noch
glauben einige fest daran, daß er am Leben ist. Irgendwo in einem Gulag sei er
verborgen, hinter einer Häftlingsnummer, versteckt in einem russischen
Gefängnis, oder aber er ist, wie seine ehemalige Mitarbeiterin Agnes Adachi
glaubt, "ganz sicher verheiratet mit einer Russin und lebt in einem Sanatorium.
Warum sollte er in seine alte Welt zurückkehren, die ihn vergessen hat?"
Worte statt Waffen
Die 81jährige Adachi lebt heute in Queens bei Manhattan und versucht
verzweifelt, die Erinnerung an Wallenberg für die jüngere Generation
aufrechtzuerhalten. Sie ist ungarische Jüdin, erhielt von Wallenberg den
lebensrettenden "Schutzpaß", konnte damit sich und ihre Familie vor der
Deportation retten und arbeitete in der schwedischen Botschaft in Budapest mit
Raoul Wallenberg zusammen. Von sechs Monaten, in denen Wallenberg das Unmögliche
versuchte, war sie fünf Monate lang an seiner Seite. Sein Motto - Versöhnung
statt Rache, Widerstand durch treffende Worte statt Waffen - ist bis heute ihre
Lebensphilosophie geblieben.
Raoul Wallenberg wurde Opfer des "Kalten Krieges". Das "nicht-wissen-wollen",
das krampfhafte Geheimhalten seines Schicksales, war und ist von offizieller
Seite - der schwedischen, der russischen sowie der amerikanischen - bis heute
die einfachste Lösung geblieben. Die Erklärung der russischen Behörden,
Wallenberg sei schon 1947 im Gefängnis an einem Herzinfakt gestorben, ist
mehrfach widerlegt worden. Augenzeugen wollen ihn noch bis ins Jahr 1989 gesehen
haben. Sein Mitarbeiter, Per Anger, glaubt fest, daß er noch heute am Leben ist.
"Er muß noch am Leben sein", meint auch Raoul Wallenbergs Schwester, Nina
Lagergren: "Solange es keine Gegenbeweise gibt, glauben wir daran."
Mit dem Fall des "Eisernen Vorhanges", 1989, schien alles wieder möglich. 1991
wurde eine russisch-schwedische Arbeitsgruppe einberufen, die auf Ebene des
Außenministeriums Forschungen nach Wallenberg anstellte. Der Abschlußbericht
dieser Kommission wird Anfang 2000 erwartet - bevor sich die Gruppe wegen
Geldmangels auflösen wird. "Es herrscht vorsichtiger Optimismus," so Susanne
Berger, eine unabhängige Expertin in der Arbeitsgruppe. "Der Fall ist lösbar -
nur der absolute Wille hat bis jetzt dazu gefehlt. Es geht darum, zu ergründen,
was mit Wallenberg passiert ist, nicht allein um die Frage, ob er noch lebt. Man
darf nicht aufhören, Fragen zu stellen. Denn für die offiziellen Seiten ist der
Fall Wallenberg ungelöst letztendlich bequemer."
Aber was war so zwingend, daß das Schicksal eines Mannes wie Wallenberg
vertuscht werden musste? Daß selbst die Überlebenden heute lieber schweigen. Daß
die Erinnerung an Wallenberg nur von Seiten uneigennütziger, privater
Organisationen gefördert wird. Es werden Straßen nach ihm benannt. Schulen.
Dagegen sind die involvierten Regierungen darauf aus, Gesicht zu bewahren.
Dokumente, die seine Arbeit bezeugen könnten, sind verschwunden. Auf
schwedischer Seite - gerne als die Neutrale bezeichnet - hat man versäumt,
energisch auf seine Rückkehr zu bestehen; die Sowjets interpretierten seine
Mission als einen cleveren Schachzug des CIA. Und die amerikanische
Öffentlichkeit fand bald in Oskar Schindler ihren Helden. Jetzt, 54 Jahre
danach, "ist das öffentliche Interesse komplett eingeschlafen", so Susanne
Berger. "Man hat diesen Mann sitzengelassen."
Man muß die Menschen aufrütteln!
"Ich beschuldige keine Seite", meint Nina Lagegren. "Es hat keinen Sinn. Aber
wir sind sehr enttäuscht worden und furchtbar traurig. Wir hatten große
Hoffnungen, aber es ist nichts geschehen." Und: "Bald ist es zu spät", so Guy
von Dardel, Wallenbergs Halbbruder. "Auch wenn Raoul tot ist, müssen wir die
Wahrheit finden." Von Dardel war 20 Jahre alt, als Wallenberg nach Budapest
ging. "Ich erinnere mich an seine Güte, er war ein wunderbarer, guter Mensch,
sehr intelligent". Und Nina Lagergren, die sehr eng mit Wallenberg war, spricht
von seiner "enormen Energie, seiner Neugierde, seinem Humor. Er war eine sehr
menschliche Person."
"Man muß die Menschen aufrütteln, die Medien involvieren, man muß den Fall
Wallenberg wie eine Aktion des Geheimdienstes angehen!" Peter Z. Malkin schlägt
mit der Faust auf den Tisch. Malkin war 1960 als Mitglied des israelischen
MOSSAD für die Entführung Adolf Eichmanns in Buenos Aires verantwortlich, und
war mit ihm tagelang in einem Zimmer eingeschlossen. Peter Malkin ist Maler und
für ihn ist Raoul Wallenberg ein Symbol: Ein Mensch, der "sein Leben gegeben hat
für die Menschlichkeit". Ihm widmete Malkin jetzt ein Portrait. Das zweite, das
er jemals geschaffen hat - das erste war von Eichmann. Die Idee kam von einem
Freund, Baruch Tenembaum, dem Gründer des "Internationalen Raoul Wallenberg
Komitees" in New York: ‘Die Hände, die Eichmann gefangennahmen, zeichnen ein
Bild von Wallenberg'. Zwei Männer, die sich kannten: Wallenberg und Eichmann
hatten sich mindestens einmal in Budapest getroffen und über das Schicksal der
jüdischen Bevölkerung gestritten..
"Eichmann ist wieder in aller Munde", meint Malkin spöttisch - er glaubt nicht
an die Authentizität der jetzt veröffentlichten Tagebücher Eichmanns, "aber
Wallenberg sollte es sein!" Malkin zeichnete Wallenberg auf einem Stadtplan von
Budapest - die Straßen scheinen durch Wallenbergs Gesicht, erinnern an Venen, an
Blutbahnen, und geben dem Portrait eine beklemmende, verwundbare Menschlichkeit.
Die großen, menschlichen Taten werden vergessen
Peter Malkin wurde in den späten 60er Jahren von privater Stelle viel Geld
geboten, den schwedischen Gefangenen in Rußland ausfindig zu machen und zu
entführen. "Ich mußte ablehnen. Ich kenne Rußland nicht genug. Es brauchte
jemand, der Kontakte zur Regierung, zur Polizei hat, Schmiergelder zahlen kann,
das System kennt. Ich konnte das nicht machen." Malkin ehrt Wallenberg mit
seinem Bild: "Die großen, menschlichen Taten, die unfaßbar sind, werden
vergessen. Man kann sich mit ihnen nicht identifizieren. Nur die kleinen Dinge
zählen. Es war ein großer Fehler, diese Einmaligkeit nicht zu würdigen. Und
jetzt ist es zu spät, ihn zu suchen."
Vermutungen, Lichtblicke, ob sie Wahrheit sind, weiß man nicht. Agnes Adachi,
Wallenbergs Mitarbeiterin, traf vor zwei Jahren in Pittsburgh einen alten Mann,
der gerade aus dem Gulag entlassen war. "Kurz vor meiner Befreiung wurde ich in
ein Übergangslager verlegt", erzählte er ihr. "In meiner neuen Zelle saß ein
alter Mann mit einem langen Mantel. ‘In ein paar Tagen wirst Du befreit', sagte
er zu mir. ‘Hier, nimm ein Stück Brot. Mein Name ist Raoul'."
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31-12-2000 |